Gedankenprotokolle zu Japan 5 – Ein fast schon normaler Tag

Wie seltsam, wenn man beobachten muss, wie man mit einer heftigen, grausamen und traurigen Katastrophe zu leben lernt.15.03.11, 05:00 Uhr: Feuer in Reaktor 4 von Fukushima 1, Explosion in Reaktor 2. Erst natürlich wieder die Befürchtung, diesmal sei die Reaktorhülle beschädigt, dann die Mitteilung, der Druck im Reaktor falle nicht. Trotzdem werden fast alle Mitarbeiter evakuiert. Der Premierminister und der Pressesprecher geben ausweichende Antworten, aber es kommt auch die Meldung, die Brennstäbe seien wieder zur Hälfte von Wasser bedeckt. Es muss aber ziemlich ernst sein, immerhin meldete sich der Premier selbst. Die Zeit hat die Pressekonferenz übersetzt und getwittert. Da schlugen dann doch Angst und Mitleid wieder zu. Die Katastrophe reißt nicht ab, und wovon berichtet man Minuten später? Natürlich vom Börsenindex.

08:00 Uhr: Jetzt ist auch in Tokio erhöhte Radioaktivität zu messen. Sollte der Reaktorkern jetzt doch beschädigt sein? Dann käme zu all dem Elend und Leid noch die nukleare Katastrophe? Ich kann es ehrlich kaum glauben: Ich hatte mich schon an das hin und her gewöhnt. Jetzt hilft nur noch, alle Daumen zu drücken, dass man die schlimmsten Auswirkungen noch eindämmen kann. Die Arbeiter, rund 50, die jetzt noch im Reaktor sind, sind echte Helden, obwohl ich das Wort nicht mag. Aber sie wissen, was das für sie bedeutet. Um andere Menschen zu retten, bleiben sie vor Ort.

09:15 Uhr: Auf Twitter las ich folgende, für mich ziemlich widerliche, Mitteilung: „Nichts sehnt der Atomgegner im tiefsten Herzen mehr herbei als den Unfall: Daher der jubilierende Ton vieler Katastrophenmeldungen.“ Und das nur, weil viele Menschen ernsthaft auf die Gefahren der Kernenergie hinweisen, und das oft schon seit vielen Jahren? Wie kann man so etwas sagen?

13:00 Uhr: Menschen in Japan fliegen in den Süden. Jetzt kommt es, neben den immer wieder erwähnten Panikverkäufen an der Börse, tatsächlich zu einer Flucht aus dem Norden Japans. Straßen, Züge und Flugzeuge sind voll, die Verkehrsmittel verkehren aber noch. Angst treibt die Leute um. Wenn das hier passiert wäre, hätte ich auch große Angst. Meine Liebste und ich haben uns schon öfter darüber Gedanken gemacht, dass wir im Falle einer solchen Panik wohl nicht mehr weg kämen. Wohin sollten wir gehen? Wir haben sogar schon gedacht, wir würden verhungern, weil natürlich keine Geschäfte mehr geöffnet hätten. Und Nachbarn oder so würden sich bei ihrer Flucht sicher nicht mit uns belasten. Wir würden vielleicht enden wie das alte Ehepaar im Film „When the wind blows“, das nicht versteht, was geschehen ist, und verstrahlt stirbt. Nur würden wir verstehen, was geschieht. Daran denke ich jetzt in Japan: Wieviele hilflose Menschen leben wohl noch in der Zone, die jetzt evakuiert werden oder sein soll?

13:40 Uhr: Amerikanische Twitterer bezeichnen die Katastrophe in Japan als schicksalhafte Rache für Pearl Harbour. Dafür fehlen mir wirklich die Worte.

14:00 Uhr: 7 AKW in Deutschland sollen nach Merkels Worten vorübergehend abgeschaltet werden. Ich möchte das gar nicht hören, mir wird körperlich schlecht, wenn ich diese Wahltaktik verfolge. Sie ist durch und durch wahltaktische Machtpolitikerin, die Merkel. Man kann das bewundern, ich tue es nicht. Ich war mal so naiv und habe mir bei einer Bundeskanzlerin einen anderen Führungsstil erhofft. Aber wieso eigentlich? Sie muss ja nach oben gekommen sein, genau wie seiner Zeit Maggie Thatcher oder Condie Rize.

14:15 Uhr: Der folgenden Aussage auf Twitter stimme ich zu: „Das Schwierigste dieser Tage ist, zwischen Weitermachen, als ob nix wäre und emotionalem Ausstand den alltagstauglichen Mittelweg zu finden.“

18:10 Uhr: „Lange Warteschlangen und chaotische Szenen am Flughafen Tokio. Tausende Ausländer sind auf der Flucht vor der drohenden Radioaktivität.“ So twittert das ZDF. Auch wenn die Meldung, die radioaktive Strahlung gehe schon wieder zurück, beruhigend wirkt, immer dasselbe hin und her eben, aber Ausländer fliehen. Japaner übrigens viel weniger.

20:30 Uhr: Alle 6 Reaktoren in Fukushima 1 haben jetzt Kühlungsprobleme, und der erste Versuch, die Reaktoren mit Wasser aus Hubschraubern zu kühlen, wurde abgebrochen. Aber Gott sei dank, oder wem auch immer, hält die Hülle der Reaktoren offenbar, sonst würde die Radioaktivität nicht wieder sinken. Allerdings habe ich auch gehört, selbst in Russland habe man kurzfristig höhere Strahlenwerte gemessen. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich glauben soll, und vielen Menschen geht es wohl ähnlich. Einerseits kaufen viele Deutsche unnötig und idiotischerweise Geigerzähler, andererseits geht kaum einer zu den Anti-AKW-Mahnwachen. Einerseits soll übrigens das Atomkraftwerk Neckar Westheim nach den 3 Monaten abgeschaltet bleiben, andererseits hofft die Kanzlerin wohl immer noch nicht ganz zu unrecht, nach 3 Monaten hat sich im Gegensatz zu Tschernobyl seinerzeit die Aufregung wieder gelegt.

21:05 Uhr: Jetzt finde ich die holländische Abstinenz zum Thema Japan gut. Die öffentlich-rechtliche NOS berichtet, wenn es wirklich etwas neues zu berichten gibt. Am Samstag abend hatte mich das noch geärgert. Die Zeiten ändern sich. Jetzt ist es wohltuend im ewigen Alarmgetöse deutscher Sender, wo man nicht zur Ruhe kommt, wenn man sie sich nicht gewaltsam nimmt. Wie ich inzwischen.

21:35 Uhr: Auf Twitter schrieb eine Frau: „Filius kann nicht schlafen: „Mama, wenn man Strahlen fürs Strommachen braucht, warum nehmen die nicht die von der Sonne?“.“

23:20 Uhr: Wieder ein Feuer in Fukushima. Einer, der schon seit Tagen kaum etwas anderes tut, als über die Atomlobby zu motzen, schrieb auf Twitter: „Überlebensrationen in Tokio ausverkauft: Strahlung erreicht krebserregende Werte. Vielleicht erleben wir diese Woche die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte, möchte mich bei allen AKW-Befürwortern bedanken!“ Und ein Anderer schrieb dazu: „Man stelle sich mal vor, daß womöglich 6 Atomkerne in einer Region durchschmelzen. Wie gruselig…“ Die Vorstellung ist graußlich: Du lebst einfach irgendwo, und plötzlich wirst du … ach, ich will mich nicht wiederholen. Ich erinnere mich an eine Situation 1984. Es war abends, ich war in unserem Ferienhaus in Holland und lag im Bett. Da wurde die LP von „Franky goes to Hollywood“ ausführlich vorgestellt. Darin der Satz: „Mine is the last voice you will ever hear“. Mir ist damals körperlich anders geworden, mir vorzustellen, am Radio zu sitzen und diese Stimme zu hören, bevor der Atomschlag kommt. Und jetzt? Jetzt fällt es mir immer wieder ein. Direkt im Anschluss spielten sie natürlich „two tribes“, und natürlich ging es da um Krieg, aber das hier ist nicht weniger schrecklich. Klar: Damals ging es um Vorwarnzeiten und die Machtlosigkeit, etwas gegen die Atombomben zu tun, die schon auf dem Weg waren, heute geht es um den harten und verzweifelten Kampf ums Überleben, bevor eine Region durch einen Kernunfall verstrahlt wird. Aber wie beim Buch „Krieg der Welten“, ich habs schon mal erwähnt, geht es heute abend auch um Fußball und Filme. Libyen und Bahrain sind weitere Themen der Nachrichten. Wie lange noch? Wann kommt es zum seit Tagen herbeigeredeten und beängstigend schnell näherrückenden Super-GAU, der alle anderen Themen verdrängt?

23:55 Uhr: Für mich wird es Zeit. Ich gehe ins Bett. In meine Gedanken schließe ich alle leid geprüften auf der Welt ein, immer im Bewusstsein, wie gut es mir doch geht. Japan, Libyen und die anderen Länder mit akkuten Problemen sollten wir alle nicht vergessen. Wir können die Welt nicht zu einem Paradies machen, nicht mehr vielleicht, aber Tag für Tag ein klein wenig besser.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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