Mein ärgster Feind zieht bei mir ein

Es gibt Ereignisse im Leben, die man mit aller Gewalt zu verhindern sucht. Man weiß, man kann es nicht ertragen, es erschüttert einen bis in die Grundfesten, wenn sie geschehen. So etwas ist gerade bei mir eingetreten, denn mein ärgster Feind zieht bei mir ein.

Begegnet bin ich ihm erstmals am 22. September 1994. Ich kann mich gut an diesen Tag erinnern, denn ein guter norwegischer Bekannter war erstmals bei uns zu Besuch. Dieser Bekannte ist ein verschrobener, aber liebenswerter Aktivist, Verschwörungstheoretiker, bekennender Heide, Herausgeber, früher Fluchthelfer, Weltbürger und Antikommunist, der jetzt in der Volksrepublik China lebt. Er machte damals mit seinem klapprigen Auto, das ihm auf der Rückreise den Geist aufgeben sollte, eine Tour durch Dänemark und Deutschland, bei der er uns für 2 Tage besuchte. Und der hatte meinen ärgsten Feind mitgebracht. Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass es mein ärgster Feind werden würde. Unser Bekannter stellte ihn uns vor, und ich fand ihn sogar im ersten Moment faszinierend. Er passte gut zu Ingar.

Erstmals geärgert hat er mich am selben Abend. Wir saßen in einem der besten Restaurants Marburgs, im alten Brauhaus. Unser Besucher wünschte sich einen alkoholfreien Wein, und als die Bedienung mitteilte, dass es solches im durchaus gehobenen Brauhaus nicht gebe, konferierte er lange lange mit Hilfe meines ärgsten Feindes mit seiner Mutter, um herauszufinden, wie der alkoholfreie Wein hieß, den er wollte. Ohne Erfolg. Er musste schließlich Saft trinken. Die ganze Zeit standen 2 Bedienungen an unserem Tisch und warteten, was mir sehr peinlich war.

Mit der Zeit tauchte mein ärgster Feind immer häufiger auf und ging mir auf den Wecker. Anfangs mischte er sich nur selten in Unterhaltungen ein, und manchmal wurde durch sein Eingreifen auch positives bewirkt. Aber meistens resultierte seine Anwesenheit in dummem Geschwätz und nervtötender Musik, oder was man so Musik nennt.

Mein ärgster Feind hat selten Respekt vor besonderen Situationen. Da sitze ich mit meinem Kollegen mitten in einer Livesendung, schon quatscht er ungefragt dazwischen und bringt mich aus dem Moderationskonzept. Kaum treffe ich mich mit Freunden zu einem gemütlichen Essen in einem Restaurant, schon gesellt er sich uneingeladen dazu und unterbricht rüde unsere Gespräche, lässt sich nicht zur Ordnung rufen. Er ist dreist, respektlos, ohne jedes Einfühlungsvermögen, nervtötend. Am schlimmsten ist es, wenn man ihn in einer Umgebung antrifft, in der es ohnehin schon laut ist, z. B. in einem Zug…

Erinnern Sie sich noch? Ich habe gesagt, dass dieser ärgste Feind bei mir einzieht, in meine Wohnung. Sie müssen zugeben, dass das nur Mord und Totschlag bedeuten kann. Warum ich das mache, wollen Sie wissen? Also, das ist so.

Es gab immer einen einzigen Ort, an dem wir ihn abschütteln konnten, wenn wir das wollten. Sobald wir auf Heelderpeel waren, dem Campingplatz, auf dem wir 24 Jahre lang ein kleines Häuschen hatten. Dort lebten wir in Ruhe und Frieden, es gab nicht mal Telefon und Internet, und das haben wir sehr genossen. 2006 mussten wir unser Häuschen aufgeben, aber ab und an fahren wir hin und mieten uns ein kleines Campinghäuschen für ein oder zwei Wochen. Übermorgen ist es wieder so weit. Wir haben es immer genossen, dort nicht erreichbar zu sein, unsere Ruhe zu haben. Das galt auch für meinen ärgsten Feind, für den ganz besonders. Wenn es mal notwendig wurde, mit irgendwem außerhalb unserer Antikommunikationsblase Kontakt aufzunehmen, dann gingen wir einfach zur altmodischen Telefonzelle neben dem Eingang zum Platz, und riefen jemanden an. So konnten wir unsere Rückreise organisieren, Bahnhofsmissionen anrufen usw. Doch bei unserem letzten Besuch stellten wir mit großem Bedauern fest, dass die letzte Telefonzelle verschwunden ist. Normalerweise macht uns das wirklich nichts aus, doch in diesem Augenblick wusste ich, dass ich dem Schicksal ins Auge blicken musste. Mir war jeder Ausweg versperrt, ich fühlte mich eingekesselt, und nur noch ein Weg stand mir offen, der mich geradewegs zu ihm führte, zu meinem ärgsten Feind.

Ich wehrte mich, ich verschob die notwendige Konfrontation bis auf einen Zeitpunkt vor 2 Wochen, aber dann fasste ich mir ein Herz, straffte mich, atmete tief durch und … kaufte mir ein Handy.

Der Rubicon ist überschritten, die Würfel sind gefallen, und nichts wird je wieder so sein, wie es vorher war. Alle meine Freunde und Bekannten lachen mich aus, sie sagen, dass ich mich schnell daran gewöhnen und dann auch ständig SMS verschicken oder von überall her telefonieren werde. Ich aber sage euch: „Nein, nein und nochmals nein!!!“

Auf eine gewisse Weise hat es das Handy schon geschafft, mich in seinen Bann zu ziehen. Es ist ein gebrauchtes, altes Handy mit Sprachausgabesoftware, so dass ich gestern die erste SMS meines Lebens schrieb. Vermutlich werde ich dies hin und wieder tun. Aber thematisch und zeitlich bleibt das Handy sehr eingeschränkt. Nur 2 oder 3 Leute werden meine Handynummer erfahren, ich schalte es nur ein, wenn ich unterwegs bin und einen organisatorisch dringenden Anruf tätigen muss: Ein Taxi rufen, die Bahnhofsmission verständigen, eine große Verspätung bekanntgeben. Im Restaurant, beim Kabarett, bei Privatbesuchen hat das Handy nichts zu suchen. Und auch im Zug werde ich es außerhalb der von mir eben genannten Fälle in der Tasche halten, ausgeschaltet. Es nervt mich nämlich immer noch, und ich werde andere Menschen nicht mit meinem Handy nerven, das ich aus purer Notwendigkeit gekauft habe.

Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Computer und Internet, Die Niederlande, Leben abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Mein ärgster Feind zieht bei mir ein

  1. Thorn sagt:

    Ja, hatte ich mir seinerzeit auch vorgenommen, den sparsamen Einsatz, als ich mir das erste Handy wider Willen zulegte. Das klappte auch und es ist an sich auch kein Problem mit dem sparsamen Einsatz – ab und zu mal Taxi und das war’s. SMS fand ich schon immer doof und unterwegs telefonieren nervt. Es gab mal eine 3-Monats-Uebergangszeit von Handy A zu B als ich tatsaechlich zwei hatte und das neuere reserviert war fuer „die Umworbene“, mit allem SMS-Drum-und-dran, alles, was ich bis dato locker vermeiden konnte… 🙂 …bis zu dem Abend als ich gefrustet in der Kneipe hockte und beschloss beide SIM-Karten ins Klo zu werfen, was ich dann auch tat. Seit dem hab ich auch wieder ein angemessenes Handy-Nutzungsverhalten, naja, fast seit dem…die dritte SIM-Karte warf ich spaeter auch ins Kneipenklo… nach der vierten SIM war ich dann endlich wieder relaxed… 🙂 Zweifelsfrei habe ich mehr Geld fuer SIM-Karten als fuer Handys ausgegeben… :-))))

Schreibe einen Kommentar