„Wind of Change“ – Vor 20 Jahren putschte der Apparat in der Sowjetunion

Irgendwo unter meinen tausend Kassetten befinden sich noch sieben, die über drei Tage im August 1991 berichten. Es waren Tage, an denen ich jede Radiosendung auf deutsch, englisch und niederländisch aufzeichnete, deren ich habhaft werden konnte. Es waren drei Tage, die einen Wendepunkt in der Geschichte darstellten: Das eigentliche Ende der Sowjetunion und damit der zweigeteilten Welt, wie meine Generation sie kannte.

Der 19. August 1991 versprach, ein schöner Sommertag zu werden. Mit meiner Mutter und meinen drei Nichten befand ich mich auf Heelderpeel, einem Campingplatz in den Niederlanden, wo meine Familie seit 1982 ein eigenes Häuschen besaß. Weil die Wettervorhersage so gut war, wollte ich am Morgen dieses Montags mit den Vögeln aufstehen und mit meinen beiden älteren Nichten, 13 und 11 Jahre alt, auf unserer Terrasse sitzen und den Morgen genießen. Gegen 6 Uhr gingen wir hinaus, ich hatte einen Radiorekorder dabei, um vielleicht schöne Naturaufnahmen machen zu können. Doch unsere gefiederten Freunde sind recht still an jenem Morgen, nur vom See hinter unserem Haus schnattern die Enten zu uns herüber. Darum schalte ich um 06:30 Uhr die Nachrichten im niederländischen Radio 1 ein, und was ich da zu hören bekomme, kann ich im ersten Augenblick nicht glauben, und im nächsten Moment steigt in mir die Angst vor einem dritten Weltkrieg auf. Die Nachrichten berichten, dass die sowjetische Nachrichtenagentur TASS bekanntgegeben habe, dass Michail Gorbatschow erkrankt sei, und dass darum Vizepräsident Gennadi Janajew die Amtsgeschäfte übernommen habe. Er habe ein „staatliches Komitee für den Ausnahmezustand“ gebildet, dem Ministerpräsident Walentin Pawlow, Innenminister Boris Pugo, Verteidigungsminister Dmitri Jasow und KGB-Chef Wladimir Krjutschkow angehörten. Ziel des Komitees sei es, die Ordnung in der Sowjetunion wiederherzustellen und die fatale Entwicklung zu beenden, die leicht zu einem Bürgerkrieg hätte führen können.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Damals war Michail Sergejewitsch Gorbatschow für mich ein Held, einer, der Sozialismus mit echter Demokratie zu verbinden suchte, einer, der für den friedlichen Übergang von mit dem Wort Sozialismus bemäntelter Unterdrückung des echten Volkswillens hin zu einer offenen und doch sozial gerechten Gesellschaft stand. Er war so gerade noch der beliebteste Politiker der Welt, obwohl der Hype um ihn abzuflauen begann. Er war das Symbol für eine mögliche zukünftige friedliche Supermacht Sowjetunion, die dem Bush-Imperialismus wirklich etwas entgegensetzen konnte. Und nun hatte die alte Garde gegen ihn geputscht, das war für mich vom ersten Moment an sonnenklar. Vorbei war die morgentliche Ruhe, ich musste Radio Moskau hören.

Damals gab es noch ein fast ganztägiges deutschsprachiges Programm von Radio Moskau. Und wenn gerade keine deutschen Sendungen liefen, dann eben englische. Das hohe Pfeifen der Langwelle begleitete meine erste Aufnahme von damals. Zunächst ertönte klassische Musik, dann verlas derselbe deutsche Sprecher, der schon seit Jahr und Tag die Nachrichten des deutschen Dienstes las, die Übersetzung der TASS-Meldung und Auszüge aus der ersten Erklärung der Putschisten. Ich war tief traurig. Ein Putsch von oben war in sozialistischen Ländern bislang immer gelungen. Ich fürchtete, man habe Gorbatschow umgebracht. Für mich endete der jugendliche Optimismus für eine friedliche Weltordnung. Aber ich spürte, dass hier wichtige Dinge abliefen. Die Fragen, die sich nun für die Welt und auch Deutschland stellten, lagen auf der Hand: Werden die sowjetischen Truppen aus Deutschland abziehen? Wird man eine Revision des 2Vertrages verlangen? Werden sie die baltischen Staaten gewaltsam besetzen und jede Opposition ersticken? Wird der kalte Krieg zurückkehren?

Beim Frühstück erzählte ich meiner Mutter von den Ereignissen, auch sie war geschockt. In Moskau, so meldeten westliche Medien, seien Panzer aufgefahren. Oppositionelle Radiostationen wie das Moskau Echo wurden abgeschaltet. Alles sah nach einem schnell gelungenen Staatsstreich aus. Während meine Nichten im See schwammen, lauschten meine Mutter und ich zunächst den Radionachrichten und schalteten Mittags auch den Fernseher ein. Es waren die Stunden, in denen westliche Politiker erstmals öffentlich reagierten und die Freilassung Gorbatschows verlangten, der wohl in seinem Landhaus auf der Krim gefangengehalten wurde. US-Präsident George Bush, der britische Premierminister John Major und Bundeskanzler Helmut Kohl traten öffentlich auf. Kohl wirkte sehr persönlich betroffen, Gorbatschow war ein persönlicher Freund des Kanzlers.

Und dann kam die Meldung, die diese drei Tage zu einem besonderen Ereignis mit Hoffen und Bangen werden ließen: Boris Jelzin, frisch gewählter Präsident der russischen Teilrepublik, erklärte die Maßnahmen des Komitees für unrechtmäßig und dieses Komitee selbst zu einer unrechtmäßigen Putschregierung. Natürlich hörte man das nicht auf Radio Moskau, aber es drang bis in den Westen durch. ARD-Korrespondenten berichteten von Flugblättern, in denen Jelzin zum Widerstand aufrief. Während gleichzeitig in den baltischen Staaten Truppen des Innenministeriums der Sowjetunion Radio- und Fernsehstationen besetzten, verstummte der Protest in Moskau auch nicht, als die Putschisten den Ausnahmezustand über die Hauptstadt verhängten.

Um 13:15 Uhr mitteleuropäischer Zeit stieg Boris Jelzin auf einen Panzer vor dem russischen Regierungsgebäude und rief zum Generalstreik auf. Er forderte die Putschisten zur Kapitulation auf und erklärte, Gorbatschow werde in seinem Haus auf der Krim festgehalten. Inzwischen hatten sich mehrere tausend Menschen versammelt, die ihm zuhörten und mit russischen Fahnen gegen die Putschisten demonstrierten. Diese Szene, mit Jelzins Stimme aus einem Megafon, war in Radio und Fernsehen in der ganzen Welt zu sehen und zu hören. Dass Jelzin auf einem Panzer stand machte klar, dass ein Teil der Streitkräfte, die gekommen waren, um das „Weiße Haus“, wie man das Regierungsgebäude nannte, einzunehmen, sich auf die Seite der Demonstranten gestellt hatte.

Meine Mutter und ich erinnerten uns an Ungarn und die Tschechoslowakei, die den Sowjettruppen auch mehrere Tage lang Widerstand geleistet hatten. Trotzdem schöpften wir auch wieder Hoffnung. Ein Erfolg der „alten Garde“, der Konservativsten im sowjetischen Machtapparat, hätte unabsehbare Folgen für die Welt gehabt. Natürlich weiß ich heute, dass es naiv war, an eine positive Weltordnung zu glauben, wenn nur Gorbatschow Gelegenheit erhielte, weiterhin friedlich den Umbau der Sowjetunion zu gestalten, aber damals war dieser Gedanke noch relativ stark in mir, obwohl ich natürlich auch die Schattenseiten sah.

Abends war Jelzins Auftritt ganz kurz in den sowjetischen Nachrichten zu sehen. Bedeutete dies, dass der Putsch zusammenbrach, noch bevor es Opfer gegeben hatte? – Nein. Vermutlich handelte es sich um ein Versehen, es ist bis heute nicht ganz geklärt. Truppen des KGB und des Innenministeriums bereiteten die Erstürmung des weißen Hauses vor, aber keines der Mitglieder des Notstandskomitees wollte den Befehl zum rücksichtslosen Angriff auf die Zivilbevölkerung geben. Der Putsch war alles in allem schlecht vorbereitet, wie wir heute wissen.

In den „Berichten von Heute“ um 23:30 Uhr auf WDR2 kamen sowjetische Schüler zu wort, die in Deutschland waren und dort vom Putsch in ihrer Heimat erfuhren. Sie zeigten sich besorgt, hielten sich aber mit Äußerungen sehr zurück. Einige waren ängstlich und nervös, auch die Lehrer. Ich habe mir daraufhin vorgestellt, wie es mir ergehen würde, wenn ich im Ausland wäre und plötzlich hörte, in Deutschland habe es einen Putsch gegeben, überall patrouillierten Panzer. Es war ein beängstigendes Gefühl. – Immer noch schnitt ich jede Nachrichtensendung mit. Oft habe ich diese Aufnahmen gehört, und mit einem guten Rekorder stünden sie mir auch heute noch zur Verfügung. Ich kann mich aber an viele der Ereignisse von damals noch sehr gut erinnern.

Es war nach 2 Uhr, als ich ins Bett ging. In Moskau hatte man Barrikaden errichtet, um das weiße Haus zu schützen, auch ein paar Truppen waren zu Jelzin übergelaufen. In einigen Betrieben schien man den Aufruf zum Generalstreik befolgt zu haben. Das waren aber zu diesem Zeitpunkt nur Gerüchte.

Der 20. August war ein Tag in der Schwebe. Schon seit morgens um 8 Uhr lief bei uns der Fernseher, und wenn ich Radio hören wollte, musste ich mich unter den Kopfhörer zurückziehen. Es gab aber ein paar Highlights, an die ich mich noch ganz genau erinnere: Die Ansprache Jelzins am frühen Nachmittag, wo er vor 200.000 Menschen deutlich sagte, dass er aushalten werde, solange es nötig sei. Dann die immer stärker werdende Drohung eines Sturmangriffs. Das Gefühl, dass sich alles auf Jelzin konzentrierte. Dann die Rufe „Rossia, Rossia“, „Russland, Russland!“ Abends die Meldung, zwei der Putschisten seien erkrankt. Dmitri Jasow sei aus Krankheitsgründen zurückgetreten, und Walentin Pawlow leide unter Bluthochdruck und sei ans Bett gefesselt. Die internen Machtkämpfe begannen, so interpretierte ich diese Nachrichten.

Den nachhaltigsten Eindruck auf mich machte aber kurz vor Mitternacht Gerd Ruge. Der damalige ARD-Korrespondent in Moskau berichtete von den später so genannten Straßenschlachten in Moskau. Jugendliche Demonstranten versuchten, die Panzer am Vorrücken auf das weiße Haus zu hindern. Offenbar hatte doch irgendwann irgendwer einen Angriffsbefehl gegeben. Trotzdem bröckelte die Macht der Putschisten, denn Ruge und sein Team konnten ungehindert filmen. Mit seiner ruhigen Stimme erzählte Gerd Ruge, was er sah, dass Jugendliche auf einen Panzer kletterten und die Sichtluken verdeckten, dass in die Luft geschossen wurde, dass selbst gebastelte Molotow-cocktails von den Demonstranten geworfen wurden, um die Panzer zu stoppen, dass ganz in der Nähe ein junger Mann von einem Panzer unabsichtlich überrollt worden sei, dass die Soldaten verunsichert seien, dass die Demonstranten immer wieder versuchten, Soldaten in den Panzern in Gespräche zu verwickeln, dass einige Truppenteile sich geweigert hätten, auf die Zivilisten zu schießen. „Das eskaliert ja zum Krieg“, befürchtete meine Mutter, die den zweiten Weltkrieg als junge Frau erlebt hatte und die Fernsehbilder sah. Gerd Ruge schilderte die Situation so eindringlich und anteilnehmend, und doch ruhig und ausführlich, dass ich gebannt vor dem Fernseher blieb. Selbst für das Radio wurde dieser Bericht mehrfach gesendet. Er machte deutlich, dass die Putschisten nicht gewonnen hatten, im Gegenteil.

Es war schon früher Morgen, als ich ins Bett fiel, und darum erwachte ich auch erst, als Rüdiger Sommerling – hieß der wirklich so? – im WDR“-Mittagsmagazin verkündete, dass es so aussehe, als sei der Putsch zusammengebrochen. Gegen Mittag hätten gepanzerte Limousinen den Kreml verlassen, einige Putschisten seien auf dem Weg zu Gorbatschow, der russische Vizepräsident Alexander Ruzkoi verfolge sie und werde sie festnehmen. Eben jener Ruzkoi, der 2 Jahre später selbst verfassungsmäßig korrekt gegen Jelzin putschen sollte. Gegen 17 Uhr an diesem 21. August 1991 kam die Meldung, dass Gorbatschow wieder frei sei und das Land unter Kontrolle habe. Wie wenig das der Wahrheit entsprach, erfuhren wir kurze Zeit darauf.

Müde aber zufrieden waren wir nach diesen Ereignissen. Zusammen, so hoffte ich, würden Gorbatschow und Jelzin es schon schaffen, die UdSSR zu erneuern. Was Jelzin für einer war, wusste ich damals noch nicht. Ich glaubte, eine Beinahekatastrophe sei abgewendet worden.

Dass nichts mehr so sein würde wie zuvor, erfuhr ich am übernächsten Mittag. Der russische Oberste Sowjet empfing Jelzin und Gorbatschow. Plötzlich zog Jelzin ein Dekret aus der Tasche und sagte: „Erlauben Sie mir, in Ihrer Gegenwart das Dekret zu unterzeichnen, mit dem die KPdSU auf dem Gebiet Russlands verboten wird.“ Langsam setzte rhytmischer Beifall ein, während Gorbatschow überrascht sagte: „Ich halte das für einen Fehler.“ Jelzin ließ sich nicht stören und unterzeichnete das Dekret. Damit war klar, wer in Russland das Sagen hatte, und ich wusste sofort, dass dies das Ende der Ära Gorbatschow war. Öffentlich hatte Jelzin ihn gedemütigt, denn er war noch immer Generalsekretär der KPdSU, und das Verbot dieser Partei in ihrem Stammland war ein unerhörter und über die Maßen weitreichender Vorgang. Denn Staat und Partei waren in der Sowjetunion eins gewesen. Es musste das Ende des sowjetischen Staates bedeuten. Minutenlang rauschte der Beifall durch den Saal, zweimal sagte Gorbatschow, er halte dies für einen Fehler. So ging die Geschichte des sowjetischen Imperiums zu Ende, wenn auch nicht formal. Das dauerte noch 4 Monate.

Diese Tage zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Angst und Mut, waren für mich drei außergewöhnliche Tage der Weltgeschichte. Wie war es für Sie? Schreiben Sie mir doch Ihre Kommentare und erinnern Sie sich an diese Tage im August, als „Wind of Change“ in den Hitparaden lief oder zumindest überall im Radio gespielt wurde. Ich jedenfalls werde diese Tage nie vergessen. Sie sind für mich mit dem Ende der Welt verbunden, wie ich sie als Kind kannte. Endpunkt einer Entwicklung, die mit der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU am 11. März 1985 sichtbar ihren Anfang genommen hatte.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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