Harry Potter ist schuld – St. Martin und Halloween

In den letzten Jahren haben hohe Kirchenvertreter immer wieder behauptet, die Harry-Potter-Serie sei Schuld an der Verrohung der Sitten im christlichen Abendlande. Natürlich habe ich das immer für blanken Unsinn gehalten, bis auf einen Punkt, in dem ich den Kirchenleuten zustimme, auch wenn ich sonst nicht viel mit ihnen am Hut habe.

Auch dieses Jahr haben wir es wieder getan. Rechtzeitig zum 31. Oktober kauften meine Liebste und ich einige Süßigkeiten und Obst, stellten alles in ein paar große Schalen auf das Schränkchen im Flur und warteten den Nachmittag ab. Als es Abend zu werden begann, klingelte es zum ersten mal. 12 Kinder standen vor unserer Wohnungstür und verlangten: „Süßes oder saures!“ Natürlich bekamen sie etwas süßes, allerdings mit der Auflage, es gerecht untereinander zu verteilen. Besonders schön war es, wenn die ganz kleinen mit ihren Müttern kamen, um sich Süßigkeiten abzuholen, teilweise die Gesichter mit bösartigen Masken bedeckt, aber freude strahlend. Es war Halloween.

Halloween: Bis zur Harry-Potter-Lektüre wusste ich kaum, was das war, dieses ursprünglich wohl keltische Fest, dass die Christen in den angelsächsischen Ländern schon seit langer Zeit am Abend vor Allerheiligen feiern. Seit einigen Jahren, und ich bin versucht, wieder auf den britischen Zauberlehrling zu verweisen, schwappt dieses Fest auch nach Deutschland herüber. In Marburg zumindest gehen die Kinder heutzutage an Halloween durch die Stadt, klingeln an den Häusern und drohen: „Süßes oder Saures!“

Ja: Wir haben jedes Jahr Süßigkeiten parat, wir wollen die Kinder nicht mit leeren Händen gehen lassen. Wir wollen ihre fröhlichen Stimmen hören, wie sie durch den Flur jauchzen. Und doch mischt sich wehmut in diese Gedanken.

Zu meiner Kinderzeit feierte man das heute zumindest in Marburg ausgestorbene Fest Sanktt Martin. Schon Tage vorher wurden in der Schule die Schirme der Laterrnen bunt bemalt, die man beim Umzug mit sich führte. Vor dem Martinsfeuer las uns ein Lehrer die Martinsgeschichte vor: Die Geschichte eines Edelmannes, des heiligen Martin, der in einer kalten Winternacht einen Bettler trifft, der zu erfrieren droht. Geschwind teilt der heilige Martin seinen Mantel in 2 Teile und übergibt einen dem Bettler. Als dieser sich überschwänglich bedanken will, reitet Martin schnell mit seinem mantelteil von dannen. Eine Geschichte voller Barmherzigkeit und Bescheidenheit. Wir Kinder gingen damals auch durch die Straßen, es war am 10. oder 11. November. Und auch wir klingelten an den Türen. Allerdings riefen wir nicht „Süßes oder Saures“, sondern sangen Lieder wie: „Ich geh mit meiner Laterne, und meine Laterne mit mir“ oder „Sankt Martin“. Und nur, wenn niemand öffnete, gab es als zweite Stufe das Gedicht vom guten Martin, dem es wohl ansteht, etwas zu geben. Wir taten etwas für unsere Süßigkeiten, und es ging um die Geschichte eines barmherzigen und großzügigen Mannes. Auch wenn ich mich erinnern kann, dass an manchen regnerischen Martinstagen die Lust, in den Regen raus zu müssen gering war, so freute ich mich doch immer auf den Umzug mit unserer Schulband, das riesige martinsfeuer und die sogenannten Weckmänner oder Stutenkerle, wie sie in den verschiedensten Teilen Nordrhein-Westfalens hießen, die aus süßem Weißbrot gemachten Gebäckfiguren mit einer Tonpfeife.

Wenn ich heute im Internet zu Halloween lese, wie die amerikaner sogenannte Hell Houses einrichten, um die bösen Sünder vor der ewigen Verdammnis zu warnen, und wie gleichzeitig Geschichtenwettbewerbe stattfinden, wo die gruseligste Vergewaltigungsgeschichte gekürt wird, werde ich schwermütig und traurig. Nichts gegen einen deftigen Brauch, nichts gegen auch mal die Luft ablassen. Aber es gibt heute kaum noch Feste, in denen auf ganz praktische Weise Mitmenschlichkeit und Solidarität angepriesen und gefeiert werden. Das ist für mich der Ausdruck eines Zeitgeistes, der Härte, Brutalität, Durchsetzungsvermögen verlangt, aber auf Tugenden wie Solidarität, Teamgeist und Mitmenschlichkeit kaum noch wert legt. Möglichst gruselig und brutal muss es sein, wer frech ist, der gewinnt. Wer würde heute noch seinen Mantel mit einem Bettler teilen, einem, der es nicht geschafft hat, der sich nicht behaupten kann? Der ist schließlich selber schuld. Immer die Ellenbogen raus und andere Menschen herumschupsen, dann wird man zur tragenden Säule unserer Leistungsgesellschaft. Diebische Freude erfasst Menschen, wenn sie jemanden gemobbt haben, wenn sie einem anderen Menschen Angst machen können. Wenn man seinen Mantel teilt, ist man schön blöd.

Meiner Ansicht nach ist die Übernahme des Halloween-Brauchs und das Aussterben von St. Martin ein Teil dieses Zeitgeistes. Für sich genommen wäre es vermutlich nur das bedauerliche Aussterben eines Festes, bei dem die Kinder noch singen und durch die Straßen wandern, bei dem schöne bunte Lichter den Abend erhellen statt gruseliger Fratzen. Aber all zu bereitwillig springen wir in Deutschland und anderen Ländern auf diesen Zug auf. Halloween spiegelt unsere Gefühlslage wieder, endlich mal die Sau raus lassen zu können, andere Menschen erschrecken und in die Flucht schlagen zu dürfen, unserer bösartigen Seite freien lauf zu lassen, wo wir doch im Alltag kaum Gelegenheit haben, Schadenfreude zu empfinden oder anderen vom großen Kuchen etwas abzuluchsen. Deshalb macht mich diese Entwicklung traurig.

Auch nächstes Jahr werden wir es wieder tun, Süßigkeiten für die Kinder kaufen, die an Halloween zu uns kommen. Aber irgendwie werden wir auch die Kinder vermissen, die an St. Martin kamen, sangen, sich ganz anders freuten, weil sie etwas getan hatten und etwas bekamen, anstatt es mit Grusel einzufordern. Das wollte ich nur mal gesagt haben.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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