Welche Sprache spricht der Premier – Belgien vor neuer Regierung

Zu Nikolaus könnte es sein, dass Belgien eine neue Regierung hat. Ein Fortschritt, möchte man meinen, denn immerhin hatte das Land im Herzen Europas anderthalb Jahre lang keine politische Führung. Aber immer noch könnte das Vorhaben an extrem wichtigen Dingen wie der Muttersprache des vermutlichen Premiers scheitern.

Belgien, dieses so moderne Land, das viele zentrale Institutionen der europäischen Integration beherbergt, ist selbst zutiefst gespalten. Schon bei seiner Gründung entstand das Problem, denn die Religion, der vornehmlich katholische Glaube der Einwohner, war wichtiger als die ethnische Zugehörigkeit. So mischten sich Flamen und Wallonen, niederländisch und französisch sprechende Belgier in einem ziemlich kleinen Land. Die Mehrheit der bevölkerung sprach niederländisch, die Elite aber waren die französisch sprechenden Wallonen.

Im 20. Jahrhundert waren die Flamen nicht mehr einverstanden mit der führenden Rolle ihrer südlichen, französischartigen Brüder und Schwestern. Drum will man seit einem halben Jahrhundert den Staat reformieren. Herausgekommen ist eine ziemlich vielschichtige Staatskonstruktion mit Provinzen, die sprachlich unabhängig sind, mit Regionen, die die Siedlungsgebiete der Flamen und Wallonen beinhalten, und mit Sprachgemeinschaften, die auch innerhalb der Regionen Aufgaben übernehmen können. So gibt es die kleine deutsche Sprachgemeinschaft, die in der Region Wallonie und, wenn ich mich nicht täusche, in der Provinz Lüttich liegt. Nach und nach wurden die beiden großen Sprachregionen gleich behandelt.

Auch bei der Bildung der Regierung ist es seit einiger Zeit vorschrift, dass sieben der vierzehn Minister Wallonen, die anderen sieben Flamen sind. Und dann gibt es da noch den Premier. Der war in den letzten Jahrzehnten immer Flame. Wie gesagt, jeder achtete auf seinen Vorteil.

In den letzten Jahren nahm der flämische Nationalismus heftige Formen an, und nach den Wahlen 2010 konnte man sich nicht mehr auf eine Regierung einigen. Streitpunkt war vor allem die Aufteilung eines brüsseler Wahlbezirks zwischen Flamen und Wallonen, damit auch der letzte gemischtsprachige Rest verschwand. Die Wallonen mussten schließlich nach über einem Jahr Verhandlungen nachgeben, der Streit schwelte schon seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, weil Brüssel eine Sonderregion ist, es ist wirklich sehr kompliziert.

Dann ging es um den Haushalt 2012. Wieder wurde mehrere Wochen erst erfolglos verhandelt, bis dann die erlösende Nachricht kam, es sei auch hier eine Lösung gefunden worden. Befugnisse des Gesamtstaates Belgien werden immer mehr zu Gunsten der Regionen und Gemeinschaften eingeschränkt.

Und dann, kaum war man eigentlich mit der Regierung fertig, geschah es. In den flämischen Koalitionsparteien regte sich widerstand gegen Elio di Rupo, den neuen Premier Belgiens. Der ist nämlich, oh mein Gott, Wallone.

Wo leben wir eigentlich? Darf ein Wallone in einem demokratischen Land wie Belgien nicht Premier werden? Das würde ja bedeuten, dass ihm die verfassungsmäßig garantierten Rechte aberkannt würden. Denn natürlich darf man als Staatsbürger eines demokratischen Landes auch zu dessen Regierungschef gewählt werden. Wenn ich mir vorstelle, man würde in Deutschland die Sachsen, weil sie gegenüber den Bayern die kleinere Volksgruppe sind, vom Amt der Bundeskanzlerin ausschließen, dann wäre uns zwar vielleicht einiges erspart geblieben, das hätte aber nichts mit der Volksgruppenzugehörigkeit zu tun gehabt. Was sind das für Leute, die sich als Sprach- oder Volksgruppe in ihrem eigenen Land diskriminiert fühlen, obwohl sie ganz selbstverständlich ihre Sprache sprechen und ihre Kultur pflegen dürfen? Was haben die Belgier bloß?

Natürlich kann ich historisch durchaus nachvollziehen, wie es zu dem Zerwürfnis kam, aber jetzt finde ich stellen sie sich doch etwas an. Entscheidungen der Regierung bedürfen der Zustimmung des Parlaments. Ein wallonischer Premier verschafft der Volksgruppe noch keine Überlegenheit im Staat. Es ist irgendwie kleinkariert.

Vielleicht fehlt mir aber auch einfach die Geduld. Ich finde es verantwortungslos, eine mögliche Regierung jetzt noch scheitern zu lassen. Vielleicht deshalb, weil eine geschäftsführende Regierung in Belgien kaum etwas bewegen kann, und weil man seit mehr als anderthalb Jahren in diesem Zustand lebt. So geht der Staat vor die Hunde, weil dringend notwendige Entscheidungen nicht getroffen werden. Und manchmal denke ich, dass ein Zerfall des europäischen Musterländle einigen Leuten ganz recht wäre.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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