Das Böse Netz: Kritik an der Kritik an der Kritik an Joachim Gauck

Im Internet könnte man meinen, der alte Bundespräsident sei der Neue. Schon wird der Amtsverzicht von Joachim Gauck gefordert, noch bevor er überhaupt im Amt ist. Darüber ärgern sich wiederum die Medien, aber sie sind auch selbst Schuld.

Eben flatterte mir, analog gesprochen, ein Artikel des Cicero auf den Schreibtisch. Das Netz, so heißt es da, verkürze in unzulässiger Weise die Aussagen von Joachim Gauck zu Thilo Sarrazin, zur Occupy-Bewegung und zu Hartz IV. Gerade auf Twitter werde aus Gauck schon mal ein Antidemokrat, der mit den Nazis verglichen werde. Und das Blatt fragt sich, ob man das nicht auch vor 20 Monaten alles schon habe wissen können?

Da ist was dran. Gerade auf Twitter geht die Kritik am vermutlich nächsten Bundespräsidenten bisweilen sehr weit. Auch dieses Blog spart nicht damit. Einen Antidemokraten aber würde ich den mecklenburger Pfarrer nie nennen. Richtig ist aber, dass in der sogenannten Netzgemeinde mit stolz geschwelltem Freiheitspathos gegen die „nationale Katastrophe“ Gauck gewettert wird, und das nicht immer mit ganz einwandfrei journalistischen Mitteln.

Die Kritik an der Debatte auf Twitter zu diesem Thema finde ich aber verfehlt, verlogen und überzogen. Zum einen machen die sogenannten etablierten Medien der Netzgemeinde genau vor, wie das geht. Wochen lang drosch die Springerpresse auf Christian Wulff ein, damit die Tageszeitung „Die Welt“ nun einen Tränendrüsenartikel über die arme Familie Wulff schreiben kann, die sie selbst mit in diese Lage gebracht hat. Aus der Hassfigur von gestern wird das bemitleidenswerte Opfer, ganz wie es gerade in den marktstrategischen Kram passt. Zum Anderen kann man der Netzgemeinde nicht vorwerfen, dass sie erst jetzt Gauck für Äußerungen verantwortlich macht, die er vor 20 Monaten noch gar nicht getätigt hatte. Die Kritik an der Occupy-Bewegung, Hartz-IV-Empfängern und das Lob für Sarrazin hat der „linke liberale Konservative und aufgeklärte Patriot“, wie er sich selbst nennt, erst im zweiten Halbjahr 2010 veröffentlicht, also nach seinem ersten Versuch, Bundespräsident zu werden. Nur findige Journalisten mit einem guten Zugang zu alten Archiven, die im Netz ja regelmäßig depubliziert werden müssen, zumindest wenn sie von öffentlich-rechtlicher Seite kommen, hätten schon damals einen Verdacht haben können, welche gesellschaftspolitik Gauck mit seinem Motto „Freiheit in Verantwortung“ tatsächlich vertritt.

Es stimmt: Viele Netz-User verkürzen Gaucks Aussagen zu dem, was sie verstehen oder auch verstehen wollen. Es gibt viele Fundamentalkritiker auf Twitter und Facebook, die jeden Bundespräsidenten angreifen würden, egal, wer von den Parteien aufgestellt wird. Denen ist es egal, wen sie bashen (beleidigen) können. Ich finde aber, dass das eine Menge über die Politik und die Medien aussagt, die diese Politik vermitteln und in verständliche Abläufe kleiden sollen. Diese Netz-User haben bis Freitag gegen Wulff gehetzt und hetzen seit Sonntag gegen Joachim Gauck. Nicht schön, aber leider wahr. Und sie halten den Medien den Spiegel vor und zeigen der Politik ihr Versagen auf, ihre Maßnahmen zu erklären.

Viel wichtiger ist die Kritik, die nicht der sachlichen Grundlage entbehrt, und die von den etablierten Medien praktischerweise in einem Abwasch mit dem Bashing weggewischt und für unsäglich erklärt wird: Die Kritik bezüglich einer möglichen Stasi-Vergangenheit von Joachim Gauck, die Kritik daran, dass der sich immer als ewigen Freiheitskämpfer selbstbeweiräuchernde Pfarrer zu den Begünstigten in der DDR gehörte und mit seiner Regimekritik größtenteils erst begann, als es ungefährlich geworden war. Auch hier ist nicht alles schwarz-weiß, und längst ist nicht alles erforscht, aber die Kontakte zwischen Joachim Gauck und der DDr-Staatssicherheit sind belegt. Das wirft ein nicht besonders gutes Licht auf die Tatsache, dass Gauck als Antikommunist im wiedervereinigten Deutschland lange Jahre Herr über die veröffentlichte Meinung bezüglich anderer DDR-Bewohner war, die auch im öffentlichen Leben standen und stehen.

Das macht aus dem wahrscheinlichen künftigen Bundespräsidenten zwar keinen Antidemokraten, es lässt aber Zweifel aufkommen, ob er, auch wegen seiner persönlichen Standfestigkeit, nicht vielleicht ein eher spaltender als ein versöhnender Präsident sein wird.

Und auch die Medien, die Gauck jetzt in den Himmel heben, sollten fair bleiben und genau lesen: Joachim Gauck hat die Hartz-IV-Protestler als töricht und Geschichtsvergessen bezeichnet, weil sie den Begriff „Montagsdemonstrationen“ benutzten. Sie wehrten sich, genau wie damals in der DDr, gegen Ungerechtigkeit in ihrem Land, und sie sagten von sich, zumindest hin und wieder: „Wir sind das Volk“. Die Wortwahl „Montagsdemonstrationen“ kann man in diesem Zusammenhang als unglücklich bezeichnen, doch sie zeigt, wie ausgeliefert sich die Betroffenen dem System fühlen. Ein paar mehr solcher Beispiele hat Holdger Platta im Blog Spiegelfechter gesammelt. Es ist jedenfalls nicht schwer, Gaucks Äußerungen als Angriff auf den Sozialstaat zu verstehen. Natürlich hat er recht, wenn er beispielsweise die Reduzierung des Lebensglücks auf Wohlfahrt und Fürsorglichkeit des Staates kindisch nennt. Das allein ist kein Lebensglück. Doch ein Dach über dem Kopf, genug zu Essen und eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sind die materielle Grundvoraussetzung für Lebensglück. Und dem sollte ein grundgesetzkonformer Bundespräsident Joachim Gauck nicht widersprechen, sondern aus vollem Herzen zustimmen. Sonst ist er nicht geeignet für dieses Amt.

So ist an der Kritik, die im Netz an Joachim Gauck geäußert wird, wenn auch nicht immer mit eloquenten Worten, mehr dran, als uns die sogenannten etablierten Medien glauben machen wollen. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen.

 

Hier noch ein Link zu einem differenzierten Artikel der Süddeutschen Zeitung, mit dem ich zwar nicht ganz einer Meinung bin, den ich aber gut und hilfreich finde.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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4 Antworten zu Das Böse Netz: Kritik an der Kritik an der Kritik an Joachim Gauck

  1. Slash sagt:

    Weißt du; der größte Gag an der Sache ist doch der:
    Wir HABEN bereits vor 2 Jahren jene Kritik erhoben; sie wurde
    lediglich von den Jubel-trunkenen Medien überhört. Im Jahr 2012
    sind sie zwar nicht weniger berauscht von ihren unkritischen Jubel-Gesängen
    auf den präsidialen Heiland, aber dafür sensibler im Umgang mit neuen
    Medien, so dass sie die Kritik nicht mehr überhören…

    Ein klein wenig erinnert diese Szene an diese typische Blödel-Duo-Filmszene,
    wo der eine dem anderen was sagt, und der andere das ignoriert bis ihm das
    selbe einfällt, womit er sich dann brüstet und den anderen als Dummen verunglimpft, der ja nie solche Einfälle hat…

  2. Hanno sagt:

    Die Kommentare auf den Cicero-Artikel sind lesenswert. Insbesondere der, daß Cicero genauso aus dem Zusammenhang reißt wie die inkriminierten Quellen.

    Und JFTR: Ich zumindest hab mich mit Kritik an Wulff zurückgehalten. Der Grüßaugust war zu weichgespült, um gefährlich zu sein, und Leichen des bekannten Kalibers im Keller dürften sich auch bei beliebigen anderen Politikern finden klassen, wenn man ein wenig gräbt. Das macht ihn nicht tragbarer, aber auch nicht besonders kritikwürdig. Und überhaupt macht es ihn sympathisch, daß er sich mit Springer angelegt hat.

    Wenn sich dagegen bei Gauck die Springer-Presse vor Lobhudelei nur so überschlägt, dann werde ich SEHR argwöhnisch, was wohl dahinterstecken mag.

  3. Goldener Handschuh sagt:

    Guten Tag,

    1. das ist ja nicht zu fassen. Da wird einem Pfarrer mit Chuzpe nachgewiesen, dass er Kontakte zur Staatssicherheit der DDR hatte. Donnerwetter.

    Ich fände es würde deutlich mehr gegen Herrn Gauck als Bürgerrechtler sprechen, wenn er keine Kontakte zur Stasi gehabt hätte.

    2. Wer von Hartz IV, also staatlicher Fürsorge lebt, ist stets „dem System“ ausgeliefert. Was denn sonst? Allerdings sind in der DDR des Jahres 1989 die Menschen zunächst unter Lebensgefahr auf die Strasse gegangen, während die Hartz IV Bezieher dies unter dem Schutz des Staates und vollkommen ungefährdet tun.

    Und wer wie Sie mittelbar „das System“ dafür verantwortlich macht, dass diese Bürger nicht wieder aus dieser Abhängigkeit herauskommen, hat offenbar ein fundamentales Problem mit dem Begriff vom mündigen und erwachsenen Bürger.

    3. Können Sie bitte nachweisen, wo Herr Gauck sich „als ewigen Freiheitskämpfer (und) selbstbeweiräuchernden Pfarrer“ gibt?

    Beste Grüße aus Hamburg,

    GH

  4. Martin6078 sagt:

    Hallo Zusammen.
    Die Montagsdemos waren zweifelsohne von den Geheimdiensten zb BND gesteuert.
    Nach der Wiedervereinigung ( Welche offensichtlich ein Beitritt der DDR zu der BRD war!) ,als die Montagsdemos zunächst noch weitergeführt worden waren, sagte der damalige Kanzler Helmut Kohl: Die Montagsdemos sind beendet. -Es fanden dann auch keine mehr statt. Jahe später gab es wegen einer anderen Sache nochmals einen Versuch, Montagsdemos erneut zu starten. Die wurden aber alle schnell abgesagt und der Begriff „Montagsdemo“ quasi zu einem geschütztem Begriff erhoben…
    Tja, nach IM Erika haben wir nun mit IM Larve eine weitere umstrittende Gestalt der ex DDR als höchste Person im Kunstgebilde BRD… DDR 2.0 sag eich dazu!
    Mal sehen, wie lange die Larve zum Schlüpfen braucht und wasd dabei herauskommt..
    MFG:

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