Wir leben in einer Vergewaltigungskultur

Was habe ich nur getan, als ich mich vor einer Woche dazu hinreißen ließ, Ihnen einen Beitrag über das Verhältnis der Geschlechter zu versprechen, um dem eintönigen politischen Katastrophenalltag zu entgehen? Ich meine: Welches Thema ist komplizierter und verworrener als das Verhältnis der Geschlechter? Und welches zeigt mehr, wie wir Menschen gebaut sind und auf welcher geistigen Entwicklungsstufe wir stehen?

Ich beginne mit einer Feststellung, die Sie intellektuell nicht überraschen wird: Frauen sind nicht die besseren Menschen. Maggie Thatcher, Angela Merkel und – sagen wir – Marine Le Pen mögen dafür Beispiele sein. Ich habe deshalb nicht in die Geschichte gegriffen, weil das Bild der geschichtlichen Frauen wie Kleopatra, Jeanne d’Arc und Katharina der Großen, um nur einige zu nennen, in der Regel von den Siegern, oder in manchen Fällen, wie beispielsweise im Fall der schottischen Königin Maria Stuart, von den Siegerinnen, der englischen Königin Elizabeth I. nämlich, gemacht wird. Thatcher, Merkel und le Pen aber erleben wir selbst mittelbar oder unmittelbar mit, und wir können uns unser Bild selbst machen. Auch die „Queen of Pop“, die amerikanische Sängerin, Songwriterin, Schauspielerin, Buchautorin und Geschäftsfrau Madonna ist beileibe keine Heilige. Sie provoziert gern. In manchen Fällen wird ihre Provokation begrüßt, zum Beispiel wenn sie, wie neulich am französischen Nationalveiertag in Paris geschehen, die Vorsitzende der rechtsradikalen „Front National“, Marine le Pen, in einem Video mit einem Hakenkreuz auf der Stirn zeigt. Zwar schäumt le Pens Partei vor Wut und wird die Diva verklagen, aber die nimmt es gelassen und beruft sich auf die Kunst- und Meinungsfreiheit. In vielen anderen Fällen mag gerade das männliche Establishment Madonnas Provokationen nicht so gern: Wenn sie religiöse Symbole mit sexuellen Ausschweifungen verbindet oder offen weibliche sexuelle Dominanz zur Schau stellt. Das scheint einen wunden Punkt zu treffen.

Nun höre ich die Maskulinisten schon rufen: „Will er uns mal wieder das Patriarchat um die Ohren schlagen?“ Und ich beantworte diese Frage eindeutig und laut mit „Ja!“

Vor wenigen Tagen ist in Afghanistan, ganz in der Nähe der Hauptstadt Kabul, eine Frau auf offener Straße von einem Islamisten hingerichtet worden. Sie galt als Ehebrecherin, als eine Frau mit provokantem Lebensstil, zumindest in den Augen der Islamisten. Rund 150 Männer standen um die Szene herum, die den Schützen mit Leichtigkeit an seiner Bluttat hätten hindern können. 150 Männer, die sich nur zufällig am selben Ort befanden. Sie alle klatschten Beifall und bestätigten, die Frau habe ihre gerechte Strafe erhalten. Der Provinzgouverneur berichtete dies selbst schwer schockiert der Weltpresse. Abgesehen davon, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter in Afghanistan ein Teil der westlichen Propaganda zur Vorbereitung auf den Afghanistankrieg war, der nun völlig in Vergessenheit geraten ist, zeigt dieses Ereignis exemplarisch, wie viele Männer heute immer noch über Frauen denken. Sie achten, chützen und ehren sie, solange sie keine Schande machen, solange sie nicht gegen Normen verstoßen, die von Männern aufgestellt werden.

Aber, wird da der versierte deutsche Mann sagen, das ist in Afghanistan, ich bitte Sie! Mehr glaubt er gar nicht sagen zu müssen, ein Achselzucken, eine vielsagende Geste, und er mag hoffen, wir wüssten uns einig in unserer kulturellen Überlegenheit gegenüber den rückständigen Muselmanen. Aber weit gefehlt: Die amerikanische Bloggerin und Politik- und Sozialwissenschaftlerin Anita Sarkeesian ist ein Beispiel dafür, wie wir auch hier im Westen mit Frauen umgehen, die etwas scheinbar unerhörtes tun. Über die Crowd-funding-Plattform Kickstarter versuchte sie, Geld für eine Studie mit Videoreihe zu sammeln. Sie benötige 6.000 Dollar, um über die Rolle von Frauen in Videospielen zu forschen. Ihre These war, das Frauen in den modernen Videospielen als sexy Handlangerin oder Gegenspielerin, als kämpfendes Sexobjekt, Hintergrunddekoration oder als Jungfrau gezeigt werden. Manches Videospiel, und wir reden hier von den offen am Markt erhältlichen Games, wird noch von halbnackten Messehostessen als Blickfang angeboten und beworben. Viele bekannte und berühmte Videospiele sind offen sexistisch. Anita Sarkeesian bewies jedenfalls mit ihrem Anliegen, dass es kein Nischenthema war, denn sie hatte das Geld binnen weniger Stunden zusammen, und binnen weniger Tage hatte sie es 126 mal zusammen. Aber dann kamen aus der Gamer-Community nicht nur Schmähungen und Beschimpfungen, sondern auch tausende Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. Dabei handelte es sich weder um ein paar Verrückte, noch um den üblichen rassistischen und pöbelnden Bodensatz von Internetforen, sondern um eine Massenbewegung. Solche Auswüchse finden eben nicht in Afghanistan, sondern in Amerika und Westeuropa statt, und sie werden marginalisiert und bagatellisiert.

Eine andere amerikanische Bloggerin, Melissa McEwan, behauptet in einem der intensivsten, berührendsten und schmerzvollsten Blogbeiträge, die ich je gelesen habe, dass wir in einer „Vergewaltigungskultur“ leben. Ein Wort übrigens, das im englischen offenbar häufiger genutzt wird, das wir im deutschen aber nicht einmal kennen. Als ich den Begriff erstmals hörte, empfand ich ihn als zu stark. Der Blogbeitrag liefert allerdings die folgende Definition: „Eine Vergewaltigungskultur ist ein System von Weltanschauungen, das männliche sexuelle Aggression ermutigt und Gewalt gegen Frauen unterstützt. Es ist eine Gesellschaft, in der Gewalt als sexy und Sexualität als Gewalt betrachtet wird. In einer Vergewaltigungskultur erfahren Frauen eine fortgesetzte Androhung von Gewalt durch sexuelle Kommentare über sexuelle Berührung bis hin zur Vergewaltigung selbst. In einer Vergewaltigungskultur wird physischer und emotioneller Terror gegen Frauen als normal betrachtet. Männer und Frauen nehmen an, dass sexuelle Gewalt einfach eine unvermeidbare Tatsache ist, genau wie die Steuern oder der Tod. Doch diese Gewalt ist weder biologisch noch durch göttliche Weisung aufgezwungen. Vieles von dem, was wir als unabänderlich betrachten, ist in Wahrheit der Ausdruck von Normen und Werten, die sich ändern können.“
Doch diese Definition ist zu trocken, um sie mit unserem Alltagsleben in Verbindung zu bringen. Darum listet der Artikel von Melissa McEwan hunderte von Beispielen auf:
„Vergewaltigungskultur ist der Gedanke, Vergewaltigung als Kompliment zu betrachten, als unverhüllte Leidenschaft, die in einem gesunden Mann durch den Anblick einer schönen Frau ausgelöst wird.“ Oder: „Eine Vergewaltigungskultur nutzt Vergewaltigung als Kriegswaffe, als Unterdrückungsinstrument und als Mittel zum Genozid. Sie ist das natürliche Produkt jedes Krieges, zu allen Zeiten und überall auf der Welt.“ Aber auch ganz alltäglich: „Es gehört zur Vergewaltigungskultur, Frauen und Mädchen zu raten, vorsichtig zu sein bei der Frage was sie anziehen, wie sie etwas tragen, wie sie sich bewegen, wo sie wann und was anziehen, mit wem sie wo spazieren gehen, wem sie Vertrauen, was, wo und mit wem sie etwas unternehmen, was, wo und mit wem sie etwas trinken, ob und mit wem sie in welcher Situation Augenkontakt herstellen, ob sie irgendwo allein hingehen, oder mit wem sie wo hingehen, was sie bei sich tragen und wo, welche Schuhe sie anziehen sollten, falls sie wegrennen müssen, welches Portemonais man bei sich trägt, welchen Schmuck man tragen oder besser nicht tragen sollte, welche Wohnung sollte man beziehen, kann man vor dem Öffnen durch die Tür schauen? Und wenn du tatsächlich sexuell belästigt wirst und bist nicht allen Regeln gefolgt, bist du selbst schuld.“ Solche Beispiele gibt es noch viele in dem Beitrag. Gerade die alltäglichen Dinge, die so selbstverständlich sind und über die niemand nachdenkt, haben mich stark berührt. Und ich frage mich: Warum geschieht so etwas? Warum gibt es Männer, und nicht wenige, die Frauen als Freiwild und damit, sagen wir es wie es ist, als einen weniger wertvollen Menschen betrachten, als einen Menschen, über den sie verfügen können. Was macht sie in den Augen dieser Männer zu so einer leichten Beute? Mir war schon lange klar, dass wir das proklamierte Stadium der vollen Gleichberechtigung noch nicht erreicht haben, doch in wie vielen Bereichen die gerade sexuelle männliche Dominanz noch immer unser Alltag ist, ohne dass es vielen von uns bewusst ist, musste mir erst der eben erwähnte Artikel wieder in Erinnerung rufen, der mir auch einen hervorragenden Schlusssatz für diesen Beitrag liefert, bevor ich Sie mit ihren Gedanken allein lasse: „“Eine Vergewaltigungskultur überträgt die Vorsorge und Verhinderung von Vergewaltigungen den Opfern. Sie lehrt Frauen, vernünftig und verantwortungsbewusst zu sein, sich nicht provokant zu kleiden, bestimmte Orte zu meiden und ähnliches, versäumt es aber, Männer zu lehren, Frauen nicht zu vergewaltigen.“

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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9 Antworten zu Wir leben in einer Vergewaltigungskultur

  1. Frau Lehmann sagt:

    „Vergewaltigungsgesellschaft“ -das ist ein drastisches Wort, dennoch spricht mir der Artikel aus der Seele. Ich habe mich eine Zeit lang mit dem Thema Emanzipation der Frau beschäftigt und das Thema Mann-Frau ist eines, das jeden angeht und jeden bis in den privaten Bereich hinein begleitet. Ich habe die Bücher „Geschichte der Misogynie“ (J. Holland) und „Feindbild Frau“ (R. Pohl) gelesen. In beiden Büchern wird deutlich, dass wir in einer einer Gesellschaft leben, die seit Jahrhunderten und bis heute aus der Perspektive „des“ Mannes interpretiert und gestaltet wird . Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, kann es überall sehen – in den Beichterstattungen, in der Werbung, im Geschäft mit der Liebe (bis hin zum
    Single“markt“), in Redewendungen, Witzen, in Kommentaren zu dem Thema – vieles einfach so dahin gesagt – weil man sich daran gewöhnt hat und sich nichts mehr dabei denkt.
    Es geht tatsächlich nicht um die Frage, ob Männer oder Frauen die besseren Menschen sind. Wer diese Rechnung aufmacht, will auseinander dividieren (auch der heutige Feminismus z.B.). Wie müssten begreifen, dass wir alle MENSCHEN sind. Aber in einer Welt, die nur noch die Oberfläche „bearbeitet“, in der es um Sieg oder Niederlage, gut oder schlecht, stark oder schwach, in der es um Selbstdarstellung und Wettbewerb geht – in solch einer Welt wird nichts davon gesehen. Der Schein ist wichtiger als das Sein.
    „Vergewaltigt“ werden in solch einer Gesellschaft nicht nur Frauen.
    Danke für den Artikel!

    Cora

  2. Frau Lehmann sagt:

    Ich find hier nichts zum Editieren, darum auf diesem Weg meine Korrekturen:
    Es muss heißen „Wir müssten begreifen…“ und natürlich geht es um eine Kultur (die von einer Gesellschaft getragen und praktiziert wird).

  3. Sehr gut auf den Punkt gebracht, danke Jens!

  4. DasNest sagt:

    Auch ich finde das hier einen sehr guten Artikel. Mir fällt die Vergewaltigungskultur leider zunehmend gerade in der Literatur auf, und das nicht nur in Thrillern, wo sowieso kein Mörder mehr als spannend durchgeht, der Frauen nicht quält, foltert, verstümmelt, sei es nun psychisch oder physisch. Aber es fängt viel früher an, bei den Beschreibungen der Frauen allein schon. Da werden oft Chaos und Katastrophe, Rettung von Frauen und so weiter wunderbar mit Sex vermischt. Heute las ich ein vollkommen unscheinbares Beispiel, das mich aber nachdenklich machte und unverhältnismäßig schockierte, weil es so nebenbei war: ein Mann flieht mit einer Frau aus dem absoluten Inferno, der Zerstörung eines ganzen Kontinents, und es wird beschrieben, daß Ihr das Oberteil an den Schultern und an den Brüsten klebt. Wofür zum Henker ist das wichtig? Für die Phantasie der lesenden Männer, sonst für gar nichts. Es ist mir noch nicht ganz klar, was meine heftige Reaktion auf diese Szene bedeutet. ich denke aber, es hat damit zu tun, daß Frauenfiguren, egal, wie die handlung ist, immer noch eine kleine sexuelle Beigabe mitkriegen müssen, um letztlich interessant zu bleiben. Gut, die Frau im entsprechenden Perry-Rhodan-Heft war klug, aber der absolute Superheld hätte ja ohne ihre Bereitschaft, dauernd mit ihm zu schlafen und diesen bedauernswert halbnackten Anblick bei ihrer Flucht wohl kaum daran gedacht, seine Karriere für sie aufzugeben… Entschuldigt meinen Zynismus, den die Serie als ganzes im Übrigen wesentlich weniger verdient als noch vor jahren. Die Schreiber geben sich im Allgemeinen viel Mühe, interessante Frauen außerhalb dieser Klischees zu beschreiben und das hier war wohl eher ein Ausreißer. . aber es sind zur Zeit gerade die scheinbar unscheinbaren Kleinigkeiten, die mir die Vergewaltigungskultur schmerzhaft näherbringen und sehr zu schaffen machen, gerade weil sie so einfach von allen abzuwiegeln und zu bagatellisieren sind. Die Masse macht’s, aber wenn man Beispiele sammelt, gilt man allzuleicht als überempfindlich und braucht ein dickes Fell. . Das Wochenheft einer großen Science-Fiction-Serie sollte mich in der Tat nicht aus der Fassung bringen, aber wie gesagt: ich fühle mich der Literatur verbunden, und die trägt nicht unmaßgeblich dazu bei in vielerlei Formen, daß die Vergewaltigungskultur auch eine bleibt. Und das schlimmste finde ich, daß im Falle der Thriller Frauen oft die begeistertsten LeserInnen sind, vor allem da, wo sexuelle Attraktivität mit Dummheit und/oder Hilflosigkeit einhergehen. Jemand hier hat das gut gesagt: Die Vergewaltigungskultur wird nicht mehr nur von Männern gemacht,sondern von einer Gesellschaft – sonst wäre es ja auch keine Kultur.

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  6. Thomas sagt:

    Naja, sie war nicht die erste und wird wohl auch nicht die letzte sein, die diesen Begriff benutzt – ob der Begriff „Kultur“ hier überhaupt angebracht ist, interessiert wohl niemand. Vielleicht stiftet er Gemeinschaft unter den Feministen … Na dann.

  7. Thomas sagt:

    hallo dasnest,
    so recht leuchtet mir Deine Argumentation nicht ein. 1. Niemand wird gezwungen, Bücher zu kaufen oder zu lesen, Filme zu sehen usw., in denen Frauen vergewaltigt werden. Der Lebensweise in einem bestimmten Land etwa kann ich mich aber nicht so leicht entziehen.
    2. Existiert etwas schon allein deshalb, nur weil ich *behaupte*, daß es existiert? Der einzige Sinn, diesen Begriff einzuführen, war wohl
    – dass man die Gewalt, die von Frauen ausgeht, entschuldigen kann;
    vgl Feminists define rape to exclude male victims.
    (Um es gleich zu sagen, hatte ich diese Vermutung *bevor* ich diesen Artikel gefunden habe!!=)

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