Nach der Wahl ist vor der Wahl

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, heißt es im Fußball. Was die niederländische Politik angeht könnte man sagen: Nach der Wahl ist vor der Wahl, und das seit 10 Jahren. Und leider sieht es nicht so aus, als sollte sich nach der Wahl am 12. September etwas an den komplizierten politischen Verhältnissen in den Haag ändern.

Vor ein paar Tagen behauptete ein ARD-Korrespondent, der sozialistische Spitzenkandidat Emile Roemer habe nach der Parlamentswahl die größten Chancen, der nächste niederländische Ministerpräsident zu werden. Sicher: Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, immerhin liegt die sozialistische Partei in den Umfragen derzeit an erster oder zweiter Stelle. Doch selbst wenn es ihr gelingen sollte, stärkste Fraktion des neuen Parlamentes zu werden, so könnte sie doch höchstens einen Stimmenanteil von knapp über 20 % erringen. Der große Gegenspieler ist die rechtsliberale VVD des noch amtierenden Ministerpräsidenten Mark Rutte, und beide Parteien liegen ziemlich genau gleich auf in den Prognosen. Trotzdem halte ich eine Regierung Roemer für höchst unwahrscheinlich, und ein ARD-Korrespondent, der seit Jahren in den Haag arbeitet, sollte wissen, warum. Denn zum Einen ist es fast schon Tradition, dass die Sozialisten in den letzten Tagen vor der Parlamentswahl absacken, und zum Anderen würde Roemer nicht genügend Abgeordnete des neuen Parlaments hinter sich bringen können, um eine stabile Mehrheitsregierung bilden zu können. Das liegt an der Zersplitterung des niederländischen Parteienspektrums ebenso, wie an der Tendenz der Sozialdemokraten, die dritt- oder viertstärkste Kraft werden könnten, lieber mit den Rechtsliberalen und den Christdemokraten zu Koalieren, als mit den Sozialisten. Nur eine breit gefächerte Koalition aus Sozialisten, Grünen, Sozialdemokraten, linksliberalen und möglicherweise noch Christdemokraten oder den Christsozialen würde eine Mehrheit hinter sich bringen können. Neben den gewaltigen programmatischen Unterschieden in einer solchen Parteienkonstellation wäre da auch die natürliche Instabilität einer 5-Parteien-Regierung zu bedenken. Und schlussendlich herrscht bei den anderen Parteien eine Angst vor radikalen Ideen der Sozialisten zur Bewältigung der Eurokrise.

Seit vielen Jahren setzen sich die Grünlinken, eine Grüne Partei, die sich vor 20 Jahren aus Umweltgruppen und linken Frauen-, Bürger- und Menschenrechtsaktivisten bildete, für eine linke Regierung ein. Bislang wäre das nur unter Führung der Sozialdemokraten zu machen gewesen, doch die rücken seit den frühen 90er Jahren unter dem damaligen Ministerpräsidenten Wim Kok langsam nach rechts, wie in Deutschland auch. Sozialisten und Grüne waren damals noch sehr kleine Parteien, und während die Grünen derzeit an Stimmen verlieren, könnten die Sozialisten erstmals stärkste Fraktion werden. Im Gegensatz zur deutschen Linkspartei verzichtet Emile Roemer vollständig auf Populismus. Mit Heiterkeit und Sachverstand setzt er sich für die Verlierer des gesellschaftlichen und politischen Wandels ein, für die Verunsicherten, für die, die unter der Dauerkrise in Europa am meisten leiden: Arbeitslose, Behinderte, alte Menschen und Kranke. Doch obwohl die Sozialisten so stark geworden sind, ist der Traum von einer linken Regierung so weit entfernt wie eh und je. Denn mit den Grünlinken zusammen käme man vielleicht auf 23 oder 25 % der Stimmen, das reicht überhaupt nicht aus. Selbst wenn die Sozialdemokraten plötzlich den Wunsch verspüren sollten, sich den beiden anderen Fraktionen anzuschließen, wären höchstens 40 % der Sitze und Stimmen gewonnen. Es ist ein Trauerspiel mit einer progressiven niederländischen Regierung.

Auf der rechten Seite des politischen Spektrums verliert der Populist Geert Wilders ein wenig an Boden. Seine Partei PVV könnte immer noch dritt- oder viertstärkste Kraft werden, aber die Koalitionäre der noch amtierenden Minderheitsregierung aus Christdemokraten und Rechtsliberalen wollen mit ihm auf keinen Fall mehr zusammenarbeiten. Ihnen ist inzwischen klar geworden, was politische Beobachter ihnen schon vor der Bildung der letzten Regierung ins Stammbuch geschrieben haben: Auf Geert Wilders ist kein Verlass. Christdemokraten und Rechtsliberale allein kämen aber nur auf rund 30 % der Sitze, selbst wenn die rechtsliberale VVD die stärkste Fraktion werden würde. Darum könnten sie versucht sein, die Sozialdemokraten als Mehrheitsbeschaffer ins Bot zu holen. Glaubt man den jetzigen Umfragen, würde aber auch diese Konstellation knapp die Mehrheit im Parlament verfehlen. Sie wäre dann auf die Unterstützung der linksliberalen Partei D66 oder der christlich-sozialen CU angewiesen. Auch die linke Truppe um SP-Spitzenkandidat Roemer und Grünlinks-Chefin Jolande Sap hätte die Linksliberalen und die Sozialdemokraten gern mit im Boot, doch schon vor 2 Jahren ist der Versuch, ein solches Kabinett, damals unter Führung der Sozialdemokraten, zu bilden, kläglich gescheitert. Eine solche 4-Parteien-Regierung könnte ganz knapp die Mehrheit erringen, aber es ist keinesfalls sicher. Sozialdemokraten und Linksliberale tendieren aber eher dem rechten Lager zu.

Ein großes Problem des Parteienspektrums sind die vielen kleinen Parteien. Zu ihnen zählen neben den Grünlinken die christsozialen, eine radikal christlich-fundamentalistische Splitterpartei, die Tierschutzpartei, eine Partei für ältere Mitbürger, eine Piratenpartei und eine rechte Splittergruppe, die sich von Geert Wilders abgespalten hat. Vermutlich werden nicht alle ins Parlament einziehen, bei den Piraten und der rechten Splitterpartei wäre ein Scheitern durchaus denkbar. Trotzdem machen viele Parteien, die traditionell nicht an der Regierung beteiligt werden, die Bildung eines neuen Kabinetts sehr schwer. Und den Zulauf der Wähler erhalten die beiden Pole des demokratischen Spektrums: die Rechtsliberalen und die Sozialisten. Keine zwei- oder Drei-Parteien-Regierung scheint möglich.

Dies spiegelt die Verunsicherung der Wähler in den Niederlanden wieder. Eine Verunsicherung, die wir auch in Deutschland spüren, die aber durch unser Parteiensystem und die 5-%-Hürde noch abgefangen wird. Damit will ich keinesfalls einer solchen Hürde das Wort reden, im Gegenteil, ich halte sie für undemokratisch. Aber die Bildung einer Regierung macht sie in der Regel leichter. Und für eine Weile kaschiert sie die gesellschaftliche Zerrissenheit. Allerdings würde sie das Problem in den Niederlanden nicht mehr lösen. Statt der jetzt wahrscheinlichen 11 Parteien kämen dann zwar nur 6 Parteien ins Parlament – Sozialisten, Rechtsliberale, Sozialdemokraten, Wilders, Christdemokraten und Linksliberale -, doch die Regierungsbildung wäre ebenso schwer. Christdemokraten und Rechtsliberale könnten nicht ohne einen dritten Partner regieren, und selbst mit den Linksliberalen würde es nicht reichen. Nur ein Bündnis aus Sozialdemokraten, Rechtsliberalen und Christdemokraten würde eine Mehrheit von einer Stimme erringen können. Eine Mitte-Links-Regierung wäre dann zwar theoretisch auch denkbar: Sozialisten, Sozialdemokraten und Linksliberale hätten eine knappe Mehrheit, aber die programmatischen Unterschiede lassen eine solche Regierung sehr unwahrscheinlich werden. Die Parteienlandschaft ist so zersplittert, dass auch eine 5-%-Klausel das Problem nicht beseitigt.

Hoffnung liegt ein wenig in den unterschiedlichen Wahlprognosen. In den Niederlanden gibt es drei große Wahlforschungsinstitute, und deren Prognosen unterscheiden sich gravierend voneinander, mehr als das in Deutschland üblich ist. Darum hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine Mittelprognose angestellt und alle miteinander verknüpft. Von dieser Mittelprognose bin ich bei meinen Überlegungen ausgegangen. Natürlich ist es durchaus möglich, dass das Wahlergebnis am 12. September recht stark von dem abweicht, was ich hier geschildert habe, aber die Tendenz ist klar. Seit dem Mord an Pim Fortuyn vor 10 Jahren haben die Niederlande keine stabile Regierung mehr gehabt. Und ich nehme nicht an, dass sich das nach den Wahlen ändern wird.

Immerhin haben sich nach dem Ende der Tolerierung der Minderheitsregierung durch Geert Wilders 5 Parteien zusammengefunden, um für das laufende und das kommende Jahr rechtzeitig einen Haushalt auf die Beine zu stellen. Es handelte sich um eine breite Koalition aus Grünen, Sozialdemokraten, linksliberalen, Christdemokraten und Rechtsliberalen. Diese sogenannte „Kundus“- oder „Wandelgänge“-Koalition ist zwar lediglich ein kurzfristiges parlamentarisches Zweckbündnis, inhaltlich aber eine durchaus respektable Leistung. Es wäre die größtmögliche vorübergehend arbeitende Koalition, die ich mir in den Niederlanden vorstellen kann. Bei den jetzigen Wahlprognosen wäre für diese 5 Parteien eine Mehrheit unter Ausschluss der Sozialisten möglich. Eine solche Regierung könnte aber nach meiner Ansicht keine volle Legislaturperiode durchhalten. Die Unterschiede beispielsweise zwischen den Grünen, die nach dem Weggang ihrer charismatischen Führerfigur, der langjährigen Parteivorsitzenden Femke Halsema, ihr Profil erst neu finden müssen, und der rechtsliberalen VVD sind doch zu groß. Beruhigend immerhin, dass eine solche rein parlamentarische Koalition in der Lage ist, notwendige Maßnahmen schnell auf den Weg zu bringen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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