Gedanken über Recht und Gerechtigkeit

„Und nun, hohes Gericht, fällen Sie ein gerechtes Urteil“, heißt es oft in dramatischen Filmen am Ende dramatischer Plädoyers in amerikanischen Gerichtssälen. Das hat mich immer begeistert und fasziniert. Als ich noch ein Jugendlicher war, wollte ich unbedingt Richter werden. Ich stellte mir einen Robin Hood mit Robe vor, nur gelassener, ausgeglichener, weiser. Vor ein paar Tagen erhielt ich Gelegenheit, noch einmal gründlich darüber nachzudenken.

Anlass war ein Hörspiel, das ich beim Frühstück hörte. Es hieß: „Der zwiefache Mann“. Darin kehrt im Toulouse des sechzehnten Jahrhunderts ein Mann nach 8 Jahren Krieg nach hause zurück. Drei Jahre später wird er von seinem Onkel angeklagt, nicht der richtige Neffe zu sein, sondern ein Betrüger. Es gibt einige Indizien, die diese Anschuldigung bestätigen, z. B. die Schuhgröße des Mannes. Doch er, seine Frau und sein bester Freund beharren darauf, dass er es ist und liefern verschiedene Erklärungen. Am Ende lässt der Richter die Sache laufen und die Anklage fallen, vermutlich auch deshalb, weil bis auf den Onkel, den kleinliche finanzielle Sorgen quälen, alle zufrieden sind. Doch kurze Zeit später kehrt ein anderer Mann zurück, und plötzlich erkennt der beste Freund in ihm den verlorenen Freund, und nur die Frau des Mannes hält noch zu dem, der zuerst zurückkehrte. Wieder kommt es zur Gerichtsverhandlung, und der Neuankömmling kann zweifelsfrei als der echte Mann identifiziert werden. Der aber ist ein rechter Wüterich, seine Frau hat Angst vor ihm und bittet den Richter, den Mann, mit dem sie die letzten Jahre glücklich zusammengelebt hat, als den echten Heimkehrer zu bestätigen. Der Richter weiß, dass es der Frau und ihren Kindern bei dem echten Mann nicht gut gehen wird, trotzdem entscheidet er letztlich nach dem Gesetz und lässt den Betrüger hängen. Danach legt er sein Richteramt nieder und zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück.

Vor 25 oder 30 Jahren, als ich Richter werden wollte, hätte ich das Urteil als unnötig ungerecht bezeichnet. Ich wäre der Meinung gewesen, der Richter habe durch die Hinrichtung des Mannes große Schuld auf sich geladen. Für einen kurzen Moment kehrte dieses Gefühl zurück, als ich das Hörspiel gehört hatte, dann aber schaltete sich mein Intellekt ein. Der Richter hatte nach dem Gesetz und nach seinem besten Wissen korrekt entschieden, so schmerzhaft für ihn persönlich die Entscheidung auch gewesen sein mochte. Natürlich ist ein Mann, der die Stelle eines Anderen wissentlich einnimmt, ein Betrüger, der sich in des Anderen Besitz setzt, ohne diesen Besitz verdient oder erworben zu haben. Was spielt angesichts dieser Eigentumsfragen das Glück des Menschen für eine Rolle?

Meine Loslösung vom erstrebten Richteramt begann mit der ersten Juravorlesung meines Lebens vor 21 Jahren. In der allerersten Stunde wird im Jurastudium eins glasklar gemacht: Ein Richter führt keine Gerechtigkeit herbei, er spricht Recht. Diese Mitteilung habe ich damals unter „Merksatz ohne besondere Bedeutung“ abgelegt. Denn ein Richter befolgt das Gesetz, und das Bestreben des Gesetzes ist es ja schließlich, Gerechtigkeit herzustellen. Und wo es das nicht ist, wie in Diktaturen oder in faschistischen Staaten, da muss der Richter dem übergeordneten Recht und der übergeordneten Gerechtigkeit der Menschlichkeit, den Menschenrechten also, gehorchen. So einfach war das, und natürlich auch so falsch.

Ein Problem ist vermutlich, dass man als Kind beigebracht bekommt, dass „richtig“ und „falsch“ absolute Begriffe sind, immer recht einfach voneinander zu unterscheiden, und dass man nur erwachsen sein muss, um das auch zu können. Natürlich verhält es sich mit der Gerechtigkeit ebenso, und wer nicht gerecht ist, der ist wie in Grimms Märchen ein böser Mensch. Viele Menschen lernen aber nicht, und vermutlich wollen sie es auch nicht lernen, dass „richtig und falsch“ genau wie der Begriff „Gerechtigkeit“ fast vollständig subjektive Konzepte sind. Jeder hält andere Dinge für richtig oder falsch oder für gerecht und ungerecht. Viele bemühen zur Lösung solcher Fragen den sogenannten „gesunden Menschenverstand“ und kommen trotzdem zu unterschiedlichen Ergebnissen. Böse Zungen behaupten, dass sie in der Regel als richtig und gerecht ansehen, was ihnen selbst am meisten nützt.

Und hier kommt das Recht ins Spiel. Das Recht soll einen Schein von Objektivität herstellen, wo es keine Objektivität gibt. Es soll Regeln aufstellen und ihnen Geltung verschaffen. Regeln, die sich durchsetzen lassen. Entweder, weil eine Mehrheit sie akzeptiert, oder weil man die wirtschaftliche oder polizeiliche Macht besitzt, sie durchzusetzen. Im besten Falle versuchen diese Regeln einen Ausgleich zu schaffen zwischen allen beteiligten Interessen, aber eine Garantie gibt es dafür nicht. Und ein Richter ist lediglich einer, der diese Regeln umsetzt, der Streitfälle nach ihnen entscheidet. Ein Richter darf diese Regeln nicht auslegen, nicht sein eigenes Empfinden von Gerechtigkeit zum Maßstab seiner Entscheidungen machen, sondern muss die Regeln buchstabengetreu beachten. Er ist an das Gesetz gebunden. Das macht einen Rechtsstaat aus. Ein Rechtsstaat ist kein gerechter Staat, er ist ein Land, in dem die Richter an das bestehende Gesetz gebunden sind. Deshalb gibt es auch interessante Debatten darüber, ob die DDR ein Rechtsstaat oder ein Unrechtsstaat war. Meistens fällten die Richter in der DDR ihre Urteile nämlich nach den Buchstaben des dort herrschenden Gesetzes, abgesehen von den großen politischen Fällen vermutlich, bei denen von oben eine Verurteilung angeordnet wurde. Alle Verurteilungen der DDR-Justiz wegen des dort herrschenden Regimes haben mit der Frage des Rechtsstaates per se nichts zu tun. Und treibt man diese Debatte auf die Spitze, so kann man sich sogar fragen, ob das faschistische Deutschland ein Rechtsstaat war. Die Nazis nämlich haben viele ihrer Unmenschlichkeiten in Gesetzesform gegossen, und die Richter haben nach diesen Gesetzen geurteilt. Allerdings lassen sich für die Nazi-Zeit wohl genügend Beispiele für Willkür finden, um festzustellen, dass dort kein Rechtsstaat existierte. Es ging mir nur darum, zu verdeutlichen, dass der Begriff Rechtsstaat nichts darüber aussagt, wie das Recht beschaffen ist, das dort gilt.

Heute weiß ich, dass ich kein Richter mehr sein möchte. Die Regeln der Gesetze müssen eingehalten werden, wenn sie irgendeine Bedeutung für alle haben sollen, wenn sie eine Gesellschaft zusammenhalten sollen. Jeder muss wissen, was ihn bei einer Übertretung der anerkannten Regeln erwartet, das schafft Rechtssicherheit. Nur ein absoluter Monarch kann sich leisten, sich unter Berufung auf die Gerechtigkeit über diese Regeln hinwegzusetzen. Deshalb werden unter Anderem die Kaiser des Mittelalters oder die frühen muslimischen Kalifen so überhöht, deshalb sehnt man sich so gern nach einer übergerichtlichen Gerechtigkeitsinstanz, einer weisen Persönlichkeit, die Gnade walten lassen und Gerechtigkeit erzwingen kann. So etwas ist in modernen Staaten natürlich unmöglich und auch prinzipiell fragwürdig. Es bedeutet nämlich, dass die Regeln, die Gesetze, nicht so gut sind, dass sie auch im Einzelfall zufriedenstellende Lösungen bieten. Jede Person, die willkürlich Urteile aufheben könnte, würde das Prinzip der Rechtssicherheit untergraben. Also muss man mit den Richtern leben, die ohne Barmherzigkeit, ohne Gerechtigkeit und ohne Ansehen der Person die Gesetze durchsetzen und dafür von der öffentlichen Meinung oft Prügel kassieren. Auch deshalb, weil man selbst die Gesetze subjektiv auslegen und interpretieren kann. Ein Richteramt führt keine Veränderungen zu mehr Gerechtigkeit herbei, es verhilft dem gegenwärtigen Recht zur Anwendung.

Wir sollten aufhören, über Urteile in der Zeitung zu lesen und sie für ungerecht zu halten. Das mag unsere persönliche Ansicht sein, ist aber für die tatsächliche Einschätzung der Geschichte völlig bedeutungslos. Die Frage kann allein sein, ob die Urteile rechtens sind. Wenn wir eine gerechtere Gesellschaft wollen, dann sollten wir uns darüber einigen, was wir für gerecht halten, sollten Parteien gründen, an denen wir leider nicht vorbei kommen, sollten sie wählen und unsere Vorstellungen umsetzen lassen. Es gibt keine objektive Gerechtigkeit, gerade in unterschiedlichen sozialen Schichten wird Gerechtigkeit sehr unterschiedlich wahrgenommen. Nicht Gerechtigkeit ist der Begriff für zukünftige Auseinandersetzungen, sondern Gleichheit, Solidarität und Freiheit.

Und weil ich als Richter vermutlich sehr oft gegen meine Überzeugung und gegen mein Gerechtigkeitsempfinden verstoßen müsste, bin ich es Gott sei dank auch nicht geworden.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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