Alles Schall, aber kein Rauch

In den wenigen Stunden, in denen ich derzeit tagsüber aufstehe, sitze ich hier und tue meistens nichts. Weil es heute früh so gut geklappt hat, nutze ich diese Pause für einen kleinen Text.

 

Wir wohnen in der ersten Etage eines marburger Mietshauses, zu den Nachbarn haben wir durchweg kein Verhältnis. Das hat verschiedene Gründe, aber es ist nun einmal so. Gestern morgen, wir lagen noch im tiefsten – oder besser höchsten – Fieber, klingelte es an unserer Wohnungstür. Ein Nachbar stand dort, nachdem meine Liebste sich mühsam aus den Fieberträumen und dann aus dem Bett schälte. In einem halbwegs zivilisierten Haus hätte ich nun ungefähr folgenden Dialog erwartet:

 

Nachbar: Entschuldigen Sie, ich bin Herr V. von zwei Stockwerken drüber, ich habe den Eindruck, dass aus Ihrem Schlafzimmerfenster Rauch dringt. Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Kann ich vielleicht helfen? (oder auch sogar „Darf ich vielleicht rein kommen und selbst mal nach der Quelle suchen, falls Sie nichts davon mitbekommen haben?“)

Meine Liebste: Nein, bei uns raucht nichts, unsere Fenster sind geschlossen, wir sind beide Krank und liegen im Bett, der Rauch muss woanders seinen Ursprung haben.

Nachbar: Oh, dann entschuldigen Sie die Störung und gute Besserung.

Meine Liebste: Keine Ursache, vielen Dank.

 

In Wahrheit spielte sich das Gespräch aber folgendermaßen ab:

Nachbar: Sagen Sie mal, aus ihrem Schlafzimmerfenster zur Straße hin kommt jetzt seit 10 Minuten Rauch, der mir die Wohnung verpestet. Wenn Sie das nicht sofort abstellen, rufe ich die Feuerwehr!

Meine Liebste: Bitte? – Moment, wir verursachen keinen Rauch, wir sind krank und schlafen, außerdem ist das Fenster zu…

Nachbar: Ist mir egal, was Sie behaupten, stellen Sie das ab, in 10 Minuten rufe ich die Feuerwehr!

 

Daraufhin knallte er die Tür zu, ohne sich vorzustellen und nach einer Ansprache in unverschämtem Tonfall.

 

Nun kann man mit Nachbarn immer pech haben, und ich rege mich da in der Regel nicht auf. Es gibt eben Menschen, die sind netter als Andere. Punkt. Aber ein paar andere Dinge fallen mir auf:

 

– Als wir noch einen Hund hatten, unsere alte golden-retriever-Hundedame, behaupteten einige Nachbarn, sie habe immer und laut gebellt. Wir hatten mehrere Leute im Haus mit Hunden, gebellt hat immer unser Hund. Dabei war Holly ein Hund, den ich höchstens zehn mal im Jahr bellen hörte, und es bedurfte eines außergewöhnlichen Ereignisses, dass sie es von sich aus tat.

– Manche Nachbarn unterstellten uns Wasserschäden, die auftraten, während wir gar nicht im Haus waren, sondern in den Niederlanden, was wir belegen konnten.

 

Ich kann mir ungefähr vorstellen, was gestern passiert ist. Von unten zog Rauch in das Fenster des netten Nachbarn. Ein oder zwei Minuten, nachdem er bei uns war, wurde es in der Wohnung unter uns sehr lebendig, und die Feuerwehr hat er ja offenbar auch nicht gerufen. Vielleicht kam der Rauch von der Wohnung unter uns. Vermutlich hat der Nachbar gar nicht genau hingeschaut. Es war dieses Fenster, es mussten also die Blinden sein. Unverantwortlich, die hier allein wohnen zu lassen, die hatten ja auch immer schon den Hund, der so laut bellte, verursachten Wasserschäden, waren frech und so weiter. Denen, so wird sich der nette Nachbar gedacht haben, sag ich jetzt die Meinung!

 

Es gibt ein Buch, dessen Autor mir gerade entfallen ist, dessen Titel lautet: „Mein Name sei Gantenbein“. Darin mimt ein Sehender einen Blinden und erlebt mit, was diesem angeblich blinden Menschen so geschieht. Mit der Zeit wird er z. B. für alle Malheure im Haushalt verantwortlich gemacht, wenn etwas schief läuft, ist natürlich der Blinde schuld, der siehts ja nicht oder passt nicht richtig auf. Kann uns ja nicht passieren, wir sehen es ja sofort.

 

Man kann aber auch schusselige Nachbarn haben, die beim Eierbraten oder anderen Tätigkeiten Rauch erzeugen, nur kommt man zunächst, absichtlich oder unabsichtlich, auf die Blinden. Das ist jetzt keine Mitleidstour, die hab ich nun wirklich nicht nötig. Es ist ja auch nicht so, dass uns nie was passiert. Wir haben durchaus mal einen großen Wasserschaden verursacht, als sich der Schlauch von unserer Waschmaschine löste und wir es nicht bemerkten. Aber auch ein sehender hätte das nicht früher bemerkt als wir. Er hätte es gesehen, wenn er in den Flur gekommen wäre, wir merkten es durch die plötzliche Nässe an unseren Füßen.

 

Es ist halt so schön einfach.

 

Übrigens: Unser Nachbar kam nicht später zu uns, sagte uns nicht, dass die Sache sich geklärt hätte, entschuldigte sich nicht. – Vielleicht glaubt er bis jetzt immer noch, wir wären es gewesen, und dann denkt er vermutlich, seine Tirade und sein Ton hätten etwas bewirkt.

 

Das Problem ist, dass man behinderten Menschen allgemein, aber gerade blinden Menschen im Besonderen, denen ja der wichtigste Sinn fehlt glauben die Leute, sehr wenig zutraut. Man glaubt irgendwo im Hinterkopf immer noch, wir könnten nur mit großer Mühe unser Alltagsleben bewältigen. Schwierig wird es natürlich dann, wenn jemand wirklich Probleme damit hat und zusätzlich noch blind ist, dann wird das Eine mit dem Anderen unzulässig verquickt. So entsteht eine Form von Alltagsdiskriminierung, bei der es gar nicht notwendig ist, dass irgendwer irgendetwas gegen Behinderte hat.

 

Ob unser Nachbar unsere sehenden Nachbarn ein Stockwerk tiefer auch so angepatzt hätte, weiß ich nicht, ich schätze nicht, aber möglich ist es natürlich.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Leben veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar