Orwell spinnt nicht mehr – Zur NSA-Affäre

Den folgenden Beitrag habe ich heute als gelesenen Kommentar beim Ohrfunk veröffentlicht.

Ach kommen Sie: Sagen Sie jetzt nicht, Sie wären entsetzt über das Ausspionieren Ihrer Handy- und Internetdaten durch die US-Regierung. Tun Sie jetzt nicht so überrascht und rufen Sie bitte nicht nach der Respektierung Ihrer Privatsphäre. Ersparen Sie sich selbst und uns diesen peinlichen Auftritt. Dass die US-Geheimdienste systematisch und gewohnheitsmäßig E-Mail-, Post- und Telefonkorrespondenz weltweit überwachen und elektronisch aussieben lassen, ist Ihnen doch schon seit dem Ende der neunziger Jahre bekannt, oder nicht? Was? Sie hielten dies bislang für ein Gerücht, für die versponnene Ansicht übertrieben neurotischer Datenschützer? Das ist Ihr Problem. Sie halten sich für freie, mündige Bürger, glauben, das Leben-2.0-Sorglospaket gekauft zu haben und verbreiten Ihre Daten, vom öffentlich zelebrierten Klogang bis zu den Einzelheiten Ihres Arbeitszeugnisses oder Ihrer Krankenakte, via Mobilfon auf Facebook, und dann wundern Sie sich, dass die US-Kriegs- und Überwachungsmaschinerie die Geo-Tag-Informationen ausliest? Wie bitte? Der Staat schnüffelt Ihnen zu sehr? Aber sonst interessieren Sie sich nicht für Politik, und die langhaarigen Chaoten, die immer die EZB in Frankfurt belagern, müsste auch mal jemand von der Straße werfen, oder? Sollen die doch mal richtig arbeiten, und wenn nicht, sollte man ihnen radikal das Geld kürzen. Die müsste man viel schärfer überwachen, oder wie sehe ich das?

Entschuldigen Sie, aber wie naiv kann man eigentlich sein? Wir brauchen keine Verschwörungstheoretiker um zu erkennen, dass nach dem Amtsantritt von Barack Obama als US-Präsident nicht plötzlich das Paradies über die USA hereingebrochen ist. Der Macht- und Überwachungsapparat arbeitet weiter, so wie in den Jahrzehnten zuvor. Und dieser Überwachungsapparat war immer auf die ganze Welt ausgerichtet, seit es elektronische Verfahren gibt, die Welt zu kontrollieren. Auch nur ansatzweise irgendetwas Anderes zu glauben wäre weltfremd. Vielleicht gibt es ja sogar Leute, die glauben, dass dies alles zum Schutz der Freiheit der US-Bürger geschieht, die in ihrer Verfassung so unendlich hoch eingestuft wird. Sicher ist jedenfalls, dass wir alle Mitschuld an diesem sogenannten Skandal tragen. Die Gleichgültigkeit vieler Menschen gegenüber allen Vorgängen, die uns nicht sofort und unmittelbar bedrohen, ist unser Problem. Wir wissen jetzt, dass die US-Geheimdienste auch unsere Bewegungen und Gespräche überwachen könnten, wenn wir denn wichtig genug wären. Viele von uns können sich beruhigt zurücklehnen: Der Klogang interessiert vermutlich nicht, er fällt wahrscheinlich durch das elektronische Raster. Also muss man sich keine Sorgen machen und kann mit Hilfe seines Sorglospaketes wieder einschlafen, wenn der Sturm im Wasserglas sich ein wenig gelegt hat. Für kritische Journalisten, Aktivisten, Sozialisten und andere kritische Geister liegt der Fall etwas anders, aber diese Leute sind sich in der Regel auch schon frühzeitig darüber im Klaren, dass sie die Aufmerksamkeit der Überwachungsapparate auf sich ziehen.

Es ist fast 30 Jahre herr, da erlebte das Buch 1984 von George Orwell wegen der Jahreszahl eine Renaissance. Die meisten Menschen waren wohl der Ansicht, das Horrorszenario einer perfekten und undurchdringlichen Überwachungs- und Kontrollmaschinerie sei an uns vorbei gegangen. Ein Irrtum, seit wir uns selbst ständig mit Handys umgeben, die ihre Positions- und Bewegungsdaten an eine zentrale Stelle weitermelden, seit wir selbst unsere Tagesabläufe in Facebook und co veröffentlichen. Das
Überwachungssystem ist nur viel perfekter und subtiler als im Bestseller aus dem Jahre 1948. Wir brauchen keinen Televisor, der jeden Raum unserer Wohnung überwacht. Soll doch jeder denken und schreiben, was er will: Wenn es all zu aufmüpfig wird, schicken wir die Mahnanwälte, und bis dahin wird eben gesammelt und gesammelt und gesammelt. Und vor Gericht, sollte es je dazu kommen, kann alles, aber auch wirklich alles, gegen Sie verwendet werden.

Nein: George Orwell war ein Waisenknabe gegen George Bush oder Barack Obama. Sie hätten es immer schon wissen können, jetzt wissen Sie es etwas genauer. Fragt sich, wie lange Sie es wissen wollen.

Warum aber hat dieser 29jährige ehemalige Geheimdienstmitarbeiter, warum hat Edward Snowden die Daten überhaupt veröffentlicht und sich selbst zu erkennen gegeben? Warum nimmt der Mann ein solches Risiko auf sich? Seine Antwort: „In einer solchen Welt möchte ich nicht leben.“

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Computer und Internet, erlebte Geschichte, Politik abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Orwell spinnt nicht mehr – Zur NSA-Affäre

  1. Leo sagt:

    Ein eben so interessanter wie zutreffender Beitrag. Danke Jens.

  2. Leider hat George Orwell fast punktgenau die richtige Jahreszahl getroffen, als er für seinen Roman „1984“ die Jahreszahl der Entstehung 1948 einfach umdrehte. Wir leben in einem System, in dem viele sich selbst der Überwachung ausliefern, indem sie jede Tasse Kaffee und jeden Anflug von Übellaunigkeit sofort in die wunderbare weite Welt der NSA hinausposten.
    „Das Handy ist eine elektronische Fußfessel“, hat der ehemalige niedersächsische Datenschutzbeauftragte Burckhard Nedden bei einer Veranstaltung der Humanistischen Union (HU) einmal gesagt. Mir wird Angst und bange, wenn ich von Drohnen höre, die durch gekippte Fenster in Wohnungen hineinfliegen und dort alles abfilmen und belauschen. Wärmebildkameras können von Häuser daraufhin überprüfen, wo sich jemand befindet und in welcher Körperhaltung.
    Kaum ann man sich also dem Ganzen entziehen. Aber man kann es öffentlich machen und kritisieren.
    Wir haben nichts zu verbergen“

Schreibe einen Kommentar