Sommerglück, Spähskandal, Schreibblockade … Und Sommerglück!

Es ist Hochsommer!
Es ist heiß!

Oh nein, ich beschwere mich nicht über das Wetter, ich nicht. Zu lange habe ich den Winter ertragen, zu lange habe ich mich nach einem echten Sommer gesehnt, der länger dauert als 5 oder 10 Tage. An manchen Tagen übertreibt er es vielleicht ein bisschen, aber ich beschwere mich nicht. Im Gegenteil: Ich bin Glücklich. Im Radio mache ich Dienst nach Vorschrift, es wird eben getan, was getan werden muss. Ansonsten genieße ich die unvergleichliche Jahreszeit. Mit meiner Liebsten und einer Freundin streife ich über das Stadtfest hier in Marburg, zweisam lesen, lachen und lieben wir uns durch den Sommer, sitzen nachts auf unserem Balkon und genießen die Stille, die nicht vollkommen ist und die uns sagt, dass auch andere Menschen fröhlich sind, lachen und lieben, reden und Rauchen, trinken und philosophieren. Ich sauge den Sommer auf wie eine Eidechse, und ich beschwere mich nicht. Der Rest der Welt, nun, er ist weit weg.

Nun gut: Nicht alles. Dieser Spähskandal, dessen Ausmaß mit diesem Wort viel zu unzureichend beschrieben ist, der trifft mich im Innersten. Viele verstehen das nicht, haben keinen persönlichen Bezug dazu. Heute ist ein bundesweiter Protesttag, aber nur ein fünftel der erwarteten Demonstranten sind aufgetaucht. In Deutschland ist es allen egal, und die Kanzlerin freut sich auf ihre Wiederwahl. Dass die vollständige, anlasslose und uneingeschränkte Überwachung uns alle angeht, begreifen viele nicht, und ich habe noch nicht die richtigen Worte gefunden. Wenn ich von Grundrechten anfange, zucken sie die Schultern, das ist ihnen zu abstrakt. Wenn ich sage, dass ihre Menschenwürde angetastet wird, weil sie keine private Kommunikation mehr betreiben können, heißt es, für uns wird man sich schon nicht interessieren, was haben wir schon zu verbergen. Jeder hat etwas zu verbergen, und zwar mit recht, aber es ist den Menschen nicht klar zu machen. Daran verzweifle ich gerade, und das macht mir eine Schreibblockade.

Schreibblockaden sind schrecklich. Ich berste vor Gedanken, ich möchte aufrütteln, aber es gelingt mir seit Wochen nicht, mehr als Allgemeinplätze zustande zu bringen. Ich kann schwer vermitteln, dass Privatheit die Grundlage persönlicher Sicherheit ist, die Grundlage einer freien Entwicklung, dass ohne Privatheit keine Meinungsfreiheit und keine Charakterfestigung entsteht, dass totale Überwachung auch beispielsweise für den Arbeitsmarkt Folgen haben wird. Dan sagt man mir: Ach, du kannst ja im persönlichen Vorstellungsgespräch dein Gegenüber von deinem Wert für ein Unternehmen überzeugen. Aber man begreift nicht, dass so etwas kein Recht, sondern nur eine Möglichkeit ist. Ohne das Recht auf Privatsphäre, unausgespäht, dem Staat unbekannt, sind alle anderen Abwehrrechte gegen staatliche Willkür Makulatur. Aber auch das ist wieder ein Allgemeinplatz und erreicht die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit nicht. Es erreicht mich in meinem Innern, der ich in vermuteter persönlicher Sicherheit aufgewachsen bin und mir meiner Rechte als Mensch und Individuum immer sehr bewusst war, sonst wäre ich ein noch viel unsichererer Charakter als ich ohnehin schon bin. Ich in mir selbst spüre den Verlust vieler Grundrechte, die nur noch auf dem Papier stehen, ich weiß um den Verlust echter Demokratie, den ich aber auch niemandem begreiflich machen kann, solange Menschen etwas zum Essen und meistens eine Wohnung haben. Wir leben in einem Überwachungsstaat, schlimmer als George Orwell ihn beschrieb, aber wir arangieren uns nicht nur damit, wir fühlen uns wohl, weil die Erkenntnisse selten bis in unser Innerstes dringen. Vielleicht auch, weil sie zu gewaltig und zu groß sind.

So geht es auch mir. Ich fühle die Sommerhitze auf meiner Haut, freue mich auf ein gemütliches und fröhliches Geburtstagsessen mit guten Freunden, auf nette Gespräche, fröhliches Singen, ein Glas süßen Weines, und dann auf eine Bootsfahrt durch Marburg, den leichten kühlen Wind auf der Stirn, das romantische Plätschern der Wellen, ab und an das Quaken der Enten. Ich habe eine politische Schreibblockade, also genieße ich einfach das Leben, solange es geht.

Trotzdem: Wäre heute Nachmittag auch in der Sommerhitze eine Demonstrationsveranstaltung in Marburg gewesen, ich hätte fieberhaft nach Assistenz gesucht und wäre hin gegangen. Ich fühle, dass der Rubicon überschritten ist. Solange wir in Deutschland so flegmatisch sind, muss zum Überwachungsstaat kein Polizeistaat kommen, aber es könnte jederzeit passieren.

Heute ist es noch warm, morgen soll es Regen geben. Für die Bootsfahrt heute Abend ist noch trockenes Wetter angesagt. Fröhliche Menschen werden die Lahnwiesen belagern und das Wehr wird traulich rauschen. Ich freue mich auf einen Abend voller Sommerglück.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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