Brauchen wir eine Wahlrechtsreform?

Der folgende Text stammt bereits vom 30. Septtember und wurde für ohrfunk.de verfasst.

Nach der Bundestagswahl vor einer Woche hagelte es Rücktritte und Analysen. 5 Tage zierrte sich die SPD, bis sie sich ins Unvermeidliche schickte und eine große Koalition anbahnte. Vorhersehbar ausgelaugt lecken sich Rote, Grüne und Gelbe die Wunden. Die Piraten stehen vor einer Zerreißprobe, die vermutlich kaum noch jemand beachten wird. „Nothing ever happens“, sagen die Nichtwähler träge. Im Feuilleton liest man von der „schwarzen Republik“, die Linke verkündet vollmundig, es gebe eine linke Mehrheit in Deutschland. Und da muss ich dann wohl doch mal auf das Wahlrecht zu sprechen kommen.

15,7 % aller Wählerstimmen blieben diesmal unberücksichtigt, weil sie auf Parteien entfielen, die weniger als 5 von hundert der abgegebenen zweitstimmen auf sich vereinigen konnten, wie es im Amtsdeutsch immer so schön heißt. Im Klartext: Ein sechstel der Wähler hat für Parteien gestimmt, die an der 5-Prozent-Hürde scheiterten. Das ist so viel wie Grüne und Linkspartei zusammen an Stimmen erhielten, über sieben Millionen Wähler. Wenn man das hört, werden viele Menschen für eine Reform des Wahlrechts sein. Dabei hatten wir gerade eine. Allerdings ging es hier nur darum, dass die Sitzverteilung im Bundestag auch tatsächlich das Ergebnis der Zweitstimmen wiederspiegelt. Es ging um Überhang- und Ausgleichsmandate, darum, den kleineren Parlamentsfraktionen ein bisschen gerecht zu werden, oder auch der SPD, die traditionell weniger Direktmandate erhält als die CDU.

Aber nach dieser Wahl ist klar, dass es eine Reform bezüglich der Sperrklausel geben muss, auch wenn sich die meisten Politiker dagegen sperren werden. Aber kann es demokratisch sein, wenn sieben Millionen Stimmen vollständig unter den Tisch fallen? Nein, demokratisch ist das nicht.

Die 5-Prozent-Hürde ist ein Relikt der Nachkriegsjahre. Damals wollte man sogenannte weimarer Verhältnisse vermeiden. Im Reichstag der weimarer Republik waren teilweise bis zu 17 Parteien vertreten. Und wenn man dieser Tatsache allein auch nicht die Schuld an der nationalsozialistischen Machtergreifung gibt, so hält man sie doch für ein schwächendes Element der damaligen Demokratie. Dabei wird aber oft vergessen, dass auch Parteien dem Reichstag angehören konnten, die nach unserer heutigen Ansicht verfassungswidrig wären, die also darauf ausgingen, den demokratischen Rechtsstaat zu beseitigen. Die Nationalsozialisten selbst, die Deutschnationalen, die Kommunisten waren dafür die größten Beispiele. Sie stellten zusammen hin und wieder die Mehrheit des Reichstages. Was ist ein demokratischer Staat ohne Demokraten? Das zumindest wäre heute anders.

Und in den Nachbarländern sehen wir, dass es funktionierren kann. In den Niederlanden beispielsweise gibt es auch keine Sperrklausel, und trotzdem kann man mit 11 meistens demokratischen Parteien im Parlament durchaus eine stabile Regierung bilden. Allerdings muss man dazu auch sagen, dass die Parlamente gerade der BeNeLux-Staaten erheblich kleiner sind als der Bundestag. Um einen Abgeordneten ins Parlament zu bringen, ist in den Niederlanden ein Stimmenanteil von 0,67 % erforderlich. In Deutschland reichte ein Stimmenanteil von rund 0,17 Prozent aus, wenn es die 5-Prozent-Hürde nicht gäbe. 14 Parteien wären im Bundestag vertreten, darunter die AFD, die NPD, die Republikaner und Pro Deutschland, aber auch die freien Wähler, die Tierschutzpartei, die Piraten, die ÖDP, erneut die FDP und die Spaßpartei „Die Partei“, die vom Satiremagazin Titanik ins Leben gerufen wurde. Wäre dies ein Grund, die 5-%-Klausel beizubehalten?

Objektiv betrachtet nicht. Der Wählerwille wäre tatsächlich korrekter und gerechter im Parlament abgebildet als bislang. Die Linken allerdings, die von einer linken Mehrheit in Deutschland sprechen, würden dann vermutlich sehr still werden. Die eher rechts ausgerichteten Parteien CDU-CSU, FDP, AFD, NPD, Republikaner und Pro Deutschland kämen auf 333 der 630 Sitze im Bundestag, hätten also eine satte Mehrheit, und da wäre die
ökologisch-demokratische Partei, die früher auch einen rechten Ruf hatte, nicht einmal mit eingerechnet. Die Regierungsbildung wäre ebenfalls einfach. Zwar würden Union und FDP allein mit 293 Sitzen die notwendige Mehrheit von 316 Sitzen nicht erreichen, aber mit der Hilfe der AFD, die sich einem Koalitionsangebot vermutlich nicht verschließen und ihre Euroskepsis zumindest vorübergehend aufgeben würde, käme man auf 323 Sitze und hätte eine komfortable mitte-rechts-Mehrheit im Bundestag. SPD, Grüne, Linkspartei, Piraten und die Tierschutzpartei könnten zusammen nur 288 Sitze erringen.

Was nützen solche Planspiele? Sie zeigen auf, dass man vor sogenannten weimarer Verhältnissen keine Angst mehr haben muss. Eine Regierungsbildung wäre in Deutschland möglich. Es müssten mehr Kompromisse geschlossen werden, die politische Auseinandersetzung wäre größer, man würde um Positionen und Programme ringen müssen, bis man ein Regierungsprogramm ausgearbeitet hätte. Der Demokratie würde das eher gut tun, denn ihr Lebensatem ist die politische Kommunikation mit dem Wähler und dem politischen Gegner, die gerade von Angela Merkel und ihrer inhaltslosen Verwaltungspolitik grundlegend zerstört wird. Ohne dieses Ringen, das wir in Deutschland so sehr verabscheuen, kann es keine funktionierende Demokratie geben. Das Ringen schärft das Profil. Die Frage ist vielmehr, ob eine solche politische Vielfalt wünschenswert wäre, und wenn ja, für wen? Beim derzeitigen Stand der Dinge wären es jedenfalls nicht die linken Kräfte, die davon profitierten, aber möglich und demokratisch wäre es.

Hätten wir die Sperrklausel nicht, hätten wir ein größeres Ringen, und die Kräfte links von Angela Merkel müssten sich mit der Tatsache befassen, dass sie keineswegs die Mehrheit der Stimmen erhalten haben, dass sie keineswegs das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger besitzen. Das könnte anspornen und uns alle aus unserer Selbstgenügsamkeit heraus reißen. Dann würden wir vielleicht alle mehr Anstrengungen unternehmen, um wieder die Herzen der Wählerinnen und Wähler für eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu erwärmen. Wir würden aufhören müssen, uns etwas einzureden, was so einfach nicht stimmt, und wir würden uns mit unseren eigenen Fehlern befassen müssen.

Die 5-Prozent-Hürde entstand aus Angst. Angst vor politischer Auseinandersetzung, die einmal in den Untergang geführt hat. Das ist verständlich, aber Weimar ist nicht mehr. Es wird Zeit, dass wir der Demokratie, dem Grundpfeiler unseres Staates, etwas mehr Vertrauen entgegen bringen.

Hier habe ich mal aufgeführt, wie der Bundestag ohne Sperrklausel ungefähr aussehen würde. Diese Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf völlige Korrektheit, sie bietet ein ungefähres Bild anhand der
Bundestagswahlergebnisse.

Union: 262 Sitze,
SPD: 163 Sitze,
Die Linke: 54 Sitze,
Bündnis 90 / die Grünen: 53 Sitze,
FDP: 31 Sitze,
AFD: 30 Sitze,
Piraten: 15 Sitze,
NPD: 8 Sitze,
Freie Wähler: 6 Sitze,
Tierschutzpartei: 3 Sitze,
ÖDP: 2 Sitze,
Republikaner: 1 Sitz,
Die Partei: 1 Sitz,
Pro Deutschland: 1 Sitz.

Seite des Bundeswahlleiters mit den amtlichen Ergebnissen
Taz: Wahlergebnis als Selbstentmachtung
Taz: Merkels Gegner sind nicht adäquat

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Brauchen wir eine Wahlrechtsreform?

  1. Grundsätzlich teile ich die Auffassung, dass die 5-Prozent-Klausel undemokratisch ist. Ich plädiere für eine 2-Prozent-Hürde. 1 Prozent wäre auch in Ordnung.
    Berechnen müsste man die Prozente unter Einbeziehung der Nichtwähler. Das hieße: Jede Partei hätte ungefähr ein Drittel weniger Prozent der Stimmberechtigten.
    Damm müssten die Nichtwähler auch bei der Sitzverteilung ins Gewicht fallen: Vergeben werden dürfte nur der Anteil der vorgesehenen Sitze, der dem Anteil der Wahlberechtigten entspricht. Gleiches müsste auch für die Wahlkampfkostenrückerstattung gelten.
    Um diese Forderung zu verwirklichen, müsste man statt der Landeslisten für Parteien bei der Bundestagswahl eine Bundesliste pro Partei bilden. Dann kämen nicht so viele Überhangmandate heraus, möglicherweise sogar gar keins.
    Letztlich kann Demokratie nur funktionieren, wenn sie von den Bürgern getragen wird. Wenn mehr als 20 Millionen Wahlberechtigte nicht zählen, ist das Wahlsystem falsch und die Demokratie innerlich verfault.
    fjh

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