Ein paar Worte zur Homophobie-Debatte

Manchmal gibt es gesellschaftliche Debatten, bei denen man denkt, man habe sie seit vielen Jahren hinter sich. Eine grün-rote Schulinitiative hat in den Feuilletons der großen Tageszeitungen eine wahre Flut von Beiträgen über Homophobie ausgelöst. Und ich muss an die Menschen denken, die das lesen müssen.

11 % aller Menschen sind homosexuell veranlagt, von den anderen Formen gelebter Sexualität ganz zu schweigen. Gehen Sie also mal in eine gewöhnliche Kneipe oder in ein Restaurant. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dort einem oder einer Homosexuellen begegnen, ist sehr hoch. Homosexuelle gehören zum Stadtbild wie Glatzköpfe, Kurzsichtige, Rollstuhlfahrer, Blauäugige, Blinde, Schiefnasige und Rothaarige. Sie werden von Homosexuellen bedient, bewirtet, massiert, unterrichtet, behandelt und kontrolliert. Denken Sie 5 Sekunden darüber nach und lesen Sie dann weiter.

Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie sind ein ganz normaler Bürger mit homosexueller Neigung und schlagen morgens die Zeitung auf. Dort lesen Sie dann, dass 200.000 Menschen sich in einer Petition gegen die Pläne der baden-württembergischen Landesregierung wehren, in der Schule die Gleichwertigkeit sexueller Liebes- und Beziehungsformen zu lehren. Sie lesen, dass der ehemalige Kulturchef des Spiegel, Matthias Matussek, sich in einem Artikel in der Tageszeitung „Die Welt“ als homophob äußert und gleichgeschlechtliche Liebe zwar nicht als Sünde bezeichnet, denn der Liebe Gott liebe alle seine Geschöpfe, aber als defizitär, weil diese Liebe den Schöpfungsauftrag der Bibel nicht erfüllen könne. Zwar schlägt Matussek eine Menge Ablehnung entgegen, aber er kann und darf dies alles öffentlich sagen, und er tut dies mit der ihm eigenen Unverfrorenheit und mit beleidigendem Unterton. Der „Normalfall“, so erklärt er, sei die Liebe zwischen Mann und Frau, unser Grundgesetz schütze Ehe und Familie aus gutem Grund. In Baden-Württemberg betreibe man Umerziehung in unzulässiger Weise, sagt er sinngemäß.

Ich brauche nur wenige Sätze, um mich inhaltlich mit ihm
auseinanderzusetzen. Es sei mir nur der Hinweis erlaubt, dass das Grundgesetz zu einer Zeit geschrieben wurde, als Homosexualität noch strafbar war, genau wie die amerikanische Verfassung und
Unabhängigkeitserklärung, die verfasst wurde, als es noch Sklavenhandel gab. Und wenn eine Liebe ohne Kinder defizitär wäre, dann wären auch viele heterosexuelle Beziehungen defizitär, weil ein Partner zeugungsunfähig ist zum Beispiel. Die Vorstellung defizitärer Beziehungen könnte man ja auch auf Einzelpersonen übertragen. Ein Arbeitsgericht führte einmal aus: „Auch Blindheit führt zur Abnormität im Sinne des Gesetzes“, und es rechtfertigte damit höhere Gehälter für Erziehungspersonen, die mit blinden Menschen arbeiten müssen. Es ist also keine Frage, dass die Ansichten eines Matthias Matussek inhaltlich vollkommen indiskutabel sind.

Aber zurück zu Ihnen, oder mir, oder jedem anderen Menschen, der morgens vor seiner Zeitung sitzt. Ich bin blind. Wenn ich morgens im Feuilleton einer großen deutschen Tageszeitung den Satz lesen müsste, dass Blindheit zur Abnormität führe, und wenn jemand mich als defizitär bezeichnen würde, was würde ich dann denken? Ich, der sich beim Bäcker seine Brötchen holt, der zu Vorträgen geht, der für einen Internetsender arbeitet, der seine Beiträge schreibt, der Freunde hat? Ich, der ich ein normales Leben führe? Was würden Sie denken, wenn sie homosexuell, transsexuell, intersexuell wären und in der Zeitung lesen müssten, dass Sie und Ihre Liebe defizitär sind? Sie, der Sie morgens zu Ihrer Arbeit gehen, einen verantwortungsvollen Job haben, jeden Menschen freundlich behandeln, gern mit kleinen Kindern spielen, Fußball schauen, in der Kneipe nebenan gern einen heben und mit Freunden anstoßen? Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie öffentlich, weil Sie sind, wie Sie sind, ohne es sich ausgesucht zu haben, so herabqualifiziert würden? Für Sie ist Ihr Leben vollkommen normal, sie fühlen sich nicht anders als andere Menschen auch, Sie leben ein einfaches Leben mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin. Und dann meldet sich so ein Schmierfink, und Sie werden zum Diskussionsthema. Denn selbst ohne die Herabwürdigung müssen Sie es sich gefallen lassen, dass alle möglichen selbst ernannten Experten über Sie schreiben und reden, Ihre intimsten Gedanken und Gefühle bewerten wollen. Würden Sie das nicht schändlich finden?

Sehen Sie? Genau so denke ich auch.

Homosexualität ist kein Fehlgriff der Natur. Es ist eine mögliche Lebensform unter vielen. Eine, der nicht die Mehrheit der Menschen anhängt, aber eine, die es gibt. Ihr Bestehen ist für den Einzelnen unverfügbar, sie ist nicht zu ändern. Sie können sich das Rauchen abgewöhnen, Sie können sich Ihre roten Haare ferben, aber sie können Ihre sexuelle Orientierung nicht ändern. Jede weitere Diskussion über Wert und Unwert, über Andersartigkeit und Widernatürlichkeit erübrigt sich von diesem Moment an vollkommen. Ich finde, wir sollten bei solchen Diskussionen auch mal an die Menschen denken, die das lesen müssen, die sich auf dem Präsentierteller und unter dem kritischen, sezierenden Blick der Moralapostel fühlen müssen. Wir sollten endlich begreifen, dass sie vollkommen normale Menschen sind. Es gibt Punkte, in denen sie anders sind, aber jeder hat Punkte, in denen er anders ist. Mehr muss ich dazu nicht sagen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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