Ins kalte Wasser gesprungen – Wie ich zu der Ehre kam, Laudator beim marburger Leuchtfeuer zu sein

Kaum war ich am vergangenen Dienstag fünf Stunden aus dem Urlaub zurück, als ich einen Anruf erhielt. Franz-Josef Hanke bat mich, die Laudatio beim diesjährigen Marburger Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte zu halten. Das war ein spannendes Unternehmen.

Eigentlich sollte man ja denken, bei einer so wichtigen Veranstaltung wie dem 10. Marburger Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte sei schon monatelang alles geplant. Dieser undotierte Preis wird seit 2005 von der Humanistischen Union Marburg und der Universitätsstadt Marburg vergeben. In diesem Jahr ging die Auszeichnung an Dr. Ulrich Schneider, den Hauptgeschäftsführer des paritätischen Gesamtverbandes. Gleichzeitig fand die Tagung 10 Jahre Marburger Leuchtfeuer mit ehemaligen Preisträgern und dem kölner
Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge statt, der oft auch Armutsforscher genannt wird, worüber er selbst gar nicht so glücklich ist. Bei einer solch groß angelegten Planung kann schon mal etwas schief gehen, und so stellte sich heraus, dass einige Laudatoren, die man im Sinn gehabt hatte, leider verhindert waren. Da war guter Rat teuer.

Gerade also waren meine Liebste und ich auf abenteuerliche Weise aus dem Urlaub zurückgekehrt, als ich diesen Anruf erhielt: „Du musst am Sonntag die Laudatio auf Dr. Schneider halten“, begrüßte mich mein Freund Franz-Josef Hanke. Zunächst einmal blieb mir das Herz stehen, dann bat ich um ein paar Stunden Bedenkzeit. Es war klar, dass ich binnen weniger Stunden einen ersten Entwurf schreiben musste, und was wusste ich schon von Dr. Ulrich Schneider? Normalerweise sind es Freunde und Bekannte des Geehrten, die die Laudatio halten, oder es sind Kollegen, Bewunderer und Förderer. Nun also ich? Zwei Interviews hatte ich bislang mit Dr. Ulrich Schneider geführt. Sie hatten mir gefallen, aber konnte ich darauf eine Laudatio aufbauen? Natürlich versprach Franz-Josef mir, mich mit allen notwendigen Daten zu versorgen, aber würde das ausreichen? Und wie sollte das technisch über die Bühne gehen? Seit vielen Jahren arbeite ich auch im Radio nur noch mit der Sprachausgabe. Punktschrift verwende ich leider sehr selten inzwischen. Ich bin kein besonders guter und flüssiger Punktschriftleser. Doch für die Laudatio würde mir nichts anderes bleiben, also musste ich genau überlegen, ob ich das Wagnis eingehen wollte, um mich nicht zu blamieren. Andererseits hatte ich keine Wahl: Ein Freund, von dem ich viel gelernt habe, der mich auf meinen journalistischen Weg gebracht und mich in jeder Hinsicht unterstützt und gefördert hat, brauchte meine Hilfe, und ich konnte ein wenig von dieser Unterstützung zurückgeben.

Schon in der Nacht verfasste ich meinen ersten Redeentwurf, noch bevor ich am Morgen zusagte. Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Allerdings reichten mir wenige Quellen und die Dinge, die ich aus den zwei Interviews, die wir geführt hatten, herauslesen konnte, für den Entwurf. Diesen Entwurf erhielt Franz-Josef Hanke am Mittwoch, während ich gemütlich frühstückte. Ein paar Änderungswünsche hatte er, und mit einem dieser Wünsche war ich überhaupt nicht glücklich. Er bat mich darum, auch aus der Sicht eines behinderten Menschen den Preisträger zu loben. Das Hauptthema meiner Laudatio sollte die Armut sein, und immer, wenn die Behinderung in dieses Thema hineinreicht, wird sehr oft ein Text daraus, der auf die Tränendrüse drückt. Das wollte ich unter allen Umständen vermeiden. Darum wollte ich auch nicht über mein eigenes „schweres Schicksal“ schreiben, mein Schicksal als Behinderter, der trotz seiner guten Arbeit keinen Erwerbsjob bekommt. Es wäre auch unwahr gewesen. Dass ich keinen Erwerbsjob habe, hat auch und vor allem mit meiner eigenen psychischen Disposition zu tun, dass ich mich aus den verschiedensten Gründen dem ersten Arbeitsmarkt nur eingeschränkt gewachsen fühle, und schon gar nicht einem Journalismus, bei dem es auf Schnelligkeit, Oberflächlichkeit und Mobilität ankommt. Nur einer dieser Gründe ist die Behinderung. Ich habe daher zwei Beispiele aus meinem Freundeskreis aufgegriffen und mich selbst rausgenommen, nachdem ich zunächst etwas über mich in den Entwurf geschrieben hatte. Aber der Gedanke lässt mich seither nicht mehr los: Warum muss ich als Mensch mit Behinderung immer über Behinderung sprechen oder schreiben. Kann ich nicht auch mal ausschließlich zu anderen Themen Stellung nehmen? Muss ich mich auch jedes mal um Behinderung kümmern? Ist Inklusion nicht, dass man zwar über Behinderung reden kann, wenn man will, aber nicht muss? Experten in eigener Sache, gut und schön, aber *muss* das Thema bei jeder sich bietenden Gelegenheit dabei sein? Und was, seien wir ehrlich, wird im Gedächtnis behalten von dem, was ich sage? Die Behinderung, denn ich bin ja schließlich behindert. Das gilt in diesem Falle nicht für die Mitstreiter der humanistischen Union, aber für die Außenwelt.

Bis Freitagmorgen bastelten wir an verschiedenen Entwürfen herum. Ich recherchierte, formulierte und verwarf wieder. Einige Änderungswünsche arbeiteten wir gemeinsam ein. Einmal zerschossen wir das Layout, das für mich als Lesenden recht wichtig ist, dann wieder arbeiteten wir an zwei verschiedenen Versionen, und nur ein gutes Gedächtnis konnte helfen, nicht alles durcheinander zu werfen. Schließlich hatten wir uns auf eine Version geeinigt, die für die Pressemappe freigegeben wurde. Mit dem fertigen Text ging ich zu meiner Liebsten, die ihn mir in Blindenkurzschrift umwandelte, sie hat ein Programm dafür, und auf ihre Braillezeile überspielte. Beim Lesen fanden wir dann sowohl noch Rechtschreibfehler, als auch inhaltlich schwierige Passagen, Formulierungsungenauigkeiten und den Passus über mich, mit dem ich mich nicht wohlfühlte. Also überarbeiteten wir den Text noch einmal. Außerdem stellt die Braillezeile manche Zeichen anders dar, als ich es von den früher von mir gelesenen Büchern her gewohnt war, und wir änderten all diese Zeichen, damit ich flüssiger lesen konnte. Als ich dann mit dem noch einmal geänderten Text zu Franz-Josef Hanke kam, war es für die Pressemappe leider schon zu spät, aber er versprach mir, meine letzten Änderungen in der Onlineversion noch zu berücksichtigen. So steht nun in der Pressemappe ein Text, der mehr auf die Tränendrüse drückt als der, den ich tatsächlich verlesen habe.

Dann also hieß es: Üben! Üben! Üben! Den ersten Durchgang schaffte ich am Samstagmorgen, ich brauchte fast eine halbe Stunde, um die Laudatio zu lesen, für eine Feierstunde viel zu lang. Ich las den Text noch mal am Computer, um ihn ein wenig auswendig zu können.

Aber lange konnte ich mich nicht darum kümmern, denn die Tagung „10 Jahre marburger Leuchtfeuer – zum Stand der sozialen Bürgerrechte“ begann im Abgeordnetensitzungssaal der Stadt Marburg. Es war ein außerordentlich bereichernder Nachmittag. Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Christoph Butterwegge verteidigte vehement den Sozialstaat, die Gründerin der Kulturloge, Hilde Rektorschek, berichtete von ihrer Arbeit und zeigte auf, wie wichtig kulturelle Teilhabe für das Selbstwertgefühl armer Menschen ist. Dr. Bernhard Conrads, ehemals Geschäftsführer der Bundesvereinigung Lebenshilfe und heute im Bereich Behindertensport aktiv, setzte sich für eine inklusive Kommune und für eine inklusive kommunale Verwaltung ein. Der katholische Sozialethiker Prof. Friedhelm Hengsbach klärte uns darüber auf, dass soziale Grundrechte auch in den europäischen Verträgen zu finden sind, obwohl Angela Merkel immer wieder beteuert, dass die EU keine Sozialunion sei. Die gesamte Tagung hat mich sehr berührt und bereichert, hier ein zusammenfassender Bericht.

Heute morgen dann habe ich den Text ein letztes mal mit der Braillezeile laut gelesen. Jetzt schaffte ich es in 17 Minuten, und ich war zufrieden damit. Schließlich wollte ich weder zu lange reden, noch wollte ich zu viel stottern, zu langsam lesen oder zu uninspiriert. Es sind Dinge, auf die ich bei meiner Radioarbeit auch achte. Es wäre allerdings unmöglich gewesen, den Text mit Sprachausgabe im Ohr im historischen Saal des marburger Rathauses vorzutragen.

An 8 Preisverleihungen hatte ich bislang teilgenommen, noch nie aber war ich so aktiv beteiligt gewesen. Zuvor war in verschiedenen Presseorganen der Satz erschienen: Hartz-Betroffener würdigt Dr. Ulrich Schneider. Auch das eine für mich unzulässige Einschränkung. Ich bin auch nie Journalist, sondern immer der blinde Journalist. Ich war sehr gespannt, wie das Publikum meine Rede aufnehmen würde. Nach den Begrüßungen durch Oberbürgermeister Egon Vaupel und Franz-Josef Hanke, und nach einem Lied von Georg Kreisler über den Euro, dass der hervorragende Musiker Jochen Schäfer interpretierte, war es dann so weit. Sehr nervös ging ich ans Rednerpult, schaltete die Braillezeile ein und legte sie auf dem Pult ab. Es war nicht zu hoch und nicht zu niedrig, die Braillezeile funktionierte, es konnte los gehen. Am Anfang, so hat man mir später berichtet, war ich nervös und sehr schnell. Später legte sich das etwas. In meiner eigenen Wahrnehmung war es eher so, dass ich anfangs gut im Fluss war und später sich ein paar kleine Fehler einschlichen. Nun war dies beiweitem nicht die erste Rede, die ich hielt, aber die erste mit Braillezeile, ein inklusives Experiment. Mit dem Gerät hatte ich mich vorher nie auseinandergesetzt. Ich gebe zu, dass ich froh war, als ich es geschafft hatte, die Rede ist auch gut angekommen. Hier ist der vollständige Text.

Natürlich war meine Rede nicht alles, nicht einmal der Hauptakt dieser Preisverleihung. Was sonst noch alles geschah, können Sie hier nachlesen. Es war eine bewegende und kämpferische Feier. Besonders hat mir die Hymne zum marburger Leuchtfeuer gefallen, die von Franz-Josef Hanke und Jochen Schäfer getextet und komponiert wurde: „Ob du arm bist oder reich, alle Menschen sind gleich, Bürgerrechte sind niemals zu teuer! darum gibt’s das Marburger Leuchtfeuer.“ Der ganze Saal sang den Refrain mit. Die Schlussworte von Dr. Schneider selbst haben uns alle aufgerüttelt. Er sagte, er sei nicht mehr bereit, die Abwehr der Besserverdienenden gegenüber Vermögens- und Erbschaftssteuer einfach so hinzunehmen, nur um Großspender und Unterstützer nicht zu vergraulen.

Ich könnte noch viel über diese beiden Tage schreiben. Sicher ist, dass es mir eine besondere Ehre war, diese Würdigungsrede zu halten, und ich bedanke mich bei allen Beteiligten für ihre großartige Unterstützung.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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