With „Acceleration“ „we’ll fly you to the promised land!

Es ist einer dieser Tage, an denen ich keine Wahl habe. Ich setze mich an meinen Rechner, setze den Kopfhörer auf und suche zwei LP’s, und für mich werden es immer LP’s bleiben, um sie mir anzuhören. Wenig später werde ich von der beruhigendsten, vertrautesten und manchmal auch schönsten Musik meines Lebens umfangen. Es ist nur ein kleiner Gruß über einen unermesslichen Abgrund hinweg, so groß, wie ein Abgrund zwischen Lebenden nur sein kann. Und doch ist es einfach wunderschöne Musik: Musik, wie ich sie heute nicht mehr höre.

Als ich noch ganz klein war, gab es Abend für Abend dasselbe Ritual. Nachdem ich meinen Eltern eine gute Nacht gewünscht hatte, und nachdem sie es endlich geschafft hatten, dafür zu sorgen, dass ich ins Bett ging, kam meine Schwester zu mir. Wir teilten uns ein Zimmer, obwohl sie fast 12 Jahre älter ist als ich. Damit ich auch wirklich schlief, legte sie mir eine Platte auf. An dem Tag, an dem ich getauft und sie konfirmiert worden war, hatte sie zwei Langspieler geschenkt bekommen, die gerade frisch auf dem Markt waren. Die eine Scheibe war die LP „Acceleration“ von Middle of the Road, die Andere war von den Les Humphries Singers und hieß „We’ll fly you to the promised land“. Eine dieser beiden Platten musste sie mir auflegen, damit ich nachts schlafen konnte, und meistens war ich nach der ersten Seite der LP „Acceleration“, die mit „Soley Soley“ endet, eingeschlafen. Neben der Gruppe ABBA mit all ihren Hits bildeten diese beiden LP’s, keineswegs die jeweils berühmtesten Aufnahmen der genannten Interpreten, den Sound meiner Kindheit. Diese Musik war Geborgenheit in einer recht großen, fest zusammenhaltenden Familie, wo jeder für den Anderen einstand. Ob mein Bruder krank wurde oder ich ins Internat musste, alle Rückschläge und Notwendigkeiten stand man gemeinsam durch.

Als ich ins Internat ging, das war eine harte Sache. Meine Schwester konnte mir ja nicht die beiden LP’s mitgeben, in unseren Zimmern waren Plattenspieler undenkbar. Auch ein Radio oder ein Kassettenrecorder waren nicht erlaubt, zumindest nicht in den ersten Jahren. Da war guter Rat teuer. So schenkte sie mir eine Single, nämlich „movie star“ von Harpo, die ich abends auf unserem gruppeneigenen Plattenspieler wenigstens mal hören konnte, bevor ich schlafen ging. Allmählich gerieten die beiden LP’s, die ich so lange abend für abend gehört hatte, aus meinem Blickfeld. Ich vergaß die Texte wieder, die ich auswendig gelernt hatte, ohne sie freilich zu verstehen, und die ich teilweise gemeinsam mit meiner Schwester gesungen hatte. Es war auch die Zeit, in der aus der heilen Familie meiner Kindheit eine von Krisen geschüttelte Gemeinschaft wurde, in der Krankheit und Tod reiche Ernte hielten. Und ja: Auch die Zwietracht.

Es vergingen 10 Jahre, bis ich kurz vor meiner Volljährigkeit durch einen Zufall auf eine Kassette stieß, auf der ein paar Lieder von den beiden LP’s zu hören waren. Lang vergessen geglaubte Erinnerungen stürmten auf mich ein, die Musik nahm mich sofort wieder gefangen. Alles analog, ein toller Chor, spannende Instrumente. Aber vor allem war da die Erinnerung an meine Schwester, unser gemeinsames Zimmer und viele Gelegenheiten, bei denen sie mir Texte von Liedern vorlas oder übersetzte oder mich bei der Aussprache korrigierte, oder wo wir einfach zusammen sangen. Ich erreichte, dass sie mir die beiden Platten, die sie nie aus der Hand gegeben hätte, auf Kassetten überspielte.

20 Jahre lang habe ich diesen Schatz gehütet, während meine Familie zerfiel und verschied. Es gab immer wieder Tage im Jahr – Geburts- und Hochzeitstage zum Beispiel -, an denen ich mich still hinsetzte, um die alten Lieder zu hören. In dieser Zeit erhoffte ich mir von ihnen Trost, einfach schöne Erinnerungen. Doch jetzt brachten sie Schmerz und Trauer. Spätestens, als Eris den Apfel der Zwietracht zwischen mich und meine Schwester warf, ging ihr Samen auch in der Musik auf, die ich hörte, wann immer es Grund zur Erinnerung, zur Trauer und zur Verzweiflung gab.

Ich bin oft erstaunt, wie lange Verarbeitung und Bewältigung dauern können, manchmal vergehen Jahrzehnte. Aber dann kommt irgendwann ein Tag, an dem es fast plötzlich vorbei ist, oder zumindest ist der Gipfel dann überwunden. Das war schon so, bevor ich heute morgen wieder die LP „Acceleration“ auflegte. Mein Kopf war frei für die Musik, für die Stimmen, für den Chorgesang, das Xylophon, für die unterschiedlichen Texte ohne Schablonen und für die musikalische Vielfalt. Aber mit welcher Wucht mich die doch so vertraute Musik dann traf, hatte ich nicht erwartet. Natürlich waren da Erinnerungen, aber welche, über die ich schmunzeln und an denen ich mich erfreuen konnte, genau wie an der Musik selbst. Es ist, als habe mir das Schicksal einen Schatz meiner Kindheit zurückgegeben, den ich lange nur wie ein Symbol behandelt habe. Dabei ist das undankbar, denn die schöne Zeit meiner Kindheit hat es ja gegeben, und sie ist es wert, dass ich mich ihrer mit Dankbarkeit und Freude erinnere.

Bevor ich die LP hörte heute morgen war ich ziemlich aufgeregt und nervös: Die Telekom stellte gerade unseren Anschluss auf Voice over IP um und ich hatte kein Telefon und kein Internet, außerdem befasste ich mich schon mit einer Urlaubsvertretung beim Ohrfunk, was eine ganze Menge an Mehrarbeit für mich bedeutet. Doch nach der LP war ich ruhig, ausgeglichen und fröhlich. Musik kann ein echtes Zauberwerk sein.

Vielleicht geht es Ihnen und euch ja ebenso. Vielleicht gibt es Musik, gerade Musik aus der Kindheit, die Sie und euch in gute Stimmung versetzt, die tolle Erinnerungen wach ruft und Fröhlichkeit mit sich bringt. Ich wünsche so etwas allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu With „Acceleration“ „we’ll fly you to the promised land!

  1. Vater Seidenzopf sagt:

    Es gibt glaube ich keine Kindheitslieder an die ich mich wirklich gerne erinnere.
    Eines ist im Nachhinein ganz lustig – also die Erinnerung daran.
    Die Geschichte ist einfach die, dass dieses Stueck seinerzeit *allabendlich* im Krankenhaus auf der Kinderstation als Einschlaflied lief und zwar als *total* abgenutzte Schallplatte, die folglich mehr Verzerrungen als sonst was von sich gab. Der grosse Schlafraum sorgte zusaetzlich fuer einen ganz besonders warmen und anheimelnden Hall – also wie geschaffen fuer kleine Kinder mit heimweh!
    An meinem Bett hing ein gelbes Schild mit einer aufgedruckten Mitteilung fuer das Aerzte-Team, das mich am Folgetag mal wieder operieren sollte und ich hatte gelernt, dass ich diese Operationen vermeiden konnte, indem ich diese Schilder einfach in zwei Teile zerbrach, was ich dann eben auch sehr haeufig tat.
    Irgendwann schleppte mich die Schwester in eine Art Vorratskammer, in der an der Wand ein ganzer Haufen von diesen Schildern hing, allesamt durchgebrochen und sie drohte mir, dass, wenn ich das letzte Schild wieder durchbrechen wuerde, ich sofort eine grosse Spritze bekommen wuerde, vor denen ich freilich Angst hatte.
    Aber ich konnte nicht anders und so brach ich irgendwann nachts nach reichlichem Zoegern auch das letzte Schild inzwei.
    Und was soll ich sagen? Ich hatte unsagbares Glueck! Eine *ganze Woche* oder so wurde ich nicht operiert und bekam auch keine grosse Spritze!
    Doch dann nahm das Schicksal eine dramatische Wendung:
    Die Schwester hing mir abends wieder so ein gelbes Schild ans Bett – das hiess Operation! … und sie drohte mir wieder mit der grossen Spritze wenn ich es durchbrechen wuerde.
    Da ich das letzte mal keine Spritze bekam, glaubte ich ihr nicht und so machte ich mich nachts wieder an die Arbeit. 🙂
    Doch was war das?!?!?! Man konnte dieses Schild nicht durchbrechen! Es war elastisch! Welch ein gemeiner und hinterhaeltiger Betrug!
    Entmutigt und traurig gab ich irgendwann auf und von nun an gab es nur noch unzerbrechliche Schilder!
    Nun ja … wie dem auch sei …
    Jedenfalls lief dort immer dieses Lied fuer die Kinderchen zum Einschlafen – *jeden* Abend:
    (Die Kuenstler sind schon alle tot – insofern schadet die Verlinkung ihnen nicht, wobei ich eh glaube, dass saemtliche Kohle an die Kirche ging.)
    http://www.youtube.com/watch?v=xdm-aolz6Rs

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