Veronica Sorry – Über einen Seesender

Am 31. August 1974 musste der sogenannte Piraten- oder Seesender Radio Veronica schließen. Dasselbe galt für den Sender Radio Nordsee International. Beide waren damals bei jungen Leuten in Nord-, West- und Mitteleuropa extrem beliebt. Obwohl ich diese Zeit von Radio Veronica als Piratensender selbst nicht mitgemacht habe, mochte ich den Sender später doch recht gern. Ich weiß inzwischen, dass er damals, zur Piratenzeit, recht nervig war, dass viel Werbung in den Programmen lief und so weiter. Trotzdem hatte er damals ein ganz eigenes Flair, im Gegensatz zu heute. Als der Sender schließen musste, verabschiedete sich der bekannte niederländische Sänger Peter Koelewijn mit einem eigenen Lied: Veronica Sorry. Und ich erinnere in einem Beitrag, den ich vor 10 Jahren schon mal in meinem anderen Blog einstellte, an diesen Sender meiner Jugend. Dieser Beitrag ist etwas bereinigt und aktualisiert worden, enthält aber sprachliche Mängel.

In meiner Jugend in Holland in unserem Ferienhaus, da habe ich viel Radio gehört. Vor allem war es Radio Veronica, das mich begeistert hat. Heute vor 40 Jahren musste der Seesender seine Pforten schließen.

Über 30 Jahre ist es her, dass ich eines Freitags, nachdem ich die Donnerstagshitparaden auf „Hilversum 3“ entdeckt hatte, das Radio einschaltete. Gespielt wurde moderne Musik, der Sound der achtziger, aber auch Musik aus den siebziger Jahren. Das war genau meine Mischung. Und obwohl ich noch nicht viel niederländisch verstand, blieb ich am Gerät. Ich bekam heraus, dass sich der Sender „Radio Veronica“ nannte, was ich damals noch nicht verstand. Es hieß, es sei „Hilversum 3“, aber jeden Tag nannte sich der Sender wieder anders. Viel später erst habe ich begriffen, dass jeden Tag ein anderer Veranstalter die Sendungen auf „Hilversum 3“ durchführte. Ich suchte nach einem ganz bestimmten Lied, es war seinerzeit „if I say the words“ von BZN, einer holländischen Starband, und deshalb blieb ich den ganzen Tag am Radiogerät.

Lex Harding, der „Hitmann“ bei Veronica damals, meldete sich an jenem Freitag, es war der 19. April 1984, um drei Uhr mit den niederländischen Top 40 zu Wort, und ich war fasziniert. Nicht nur, dass die Lieder fast vollständig gespielt wurden, immerhin hatte er drei Stunden Zeit, sondern er gab auch Informationen über aktuelle Musikentwicklungen in der Rubrik „Veronicas Popjournaal“ und er machte die Radiorätsel, die ich ganz fantastisch fand. Es wurden ausschnitte aus Liedern gespielt, aus deren Titel oder den Namen der Interpreten sich letztlich Worte ergaben, ein Musikalisches Kreuzworträtsel sozusagen. Das war fantastisch, und ich habe jede Woche mitgeraten. Lex Harding war einfach DER Hitmann damals, und fasziniert hörte ich den ganzen Tag zu. Der Freitag wurde für mich zu einem Radiotag. Wenn wir nachmittags nach Holland fuhren, was wir jede Woche taten seinerzeit, lief bei mir Radio Veronica. Zuerst die Hitparade, dann die nachfolgende Sendung der NOS „Avondspits“ von Frits Spits, den ich ebenfalls einfach klasse finde. Dann kam um sieben Uhr die Sendung „Curry en Van Inkel“, die ich nicht so aufmerksam verfolgte, weil es hier oft um Sprachwitz ging, den ich nicht verstand. Um 10 Uhr war dann das „Countdown Cafe“ an der Reihe. Es war eine Rocksendung, und damals habe ich mich noch nicht so sehr für Rock interessiert. Trotzdem hörte ich eines Tages die Sendung und blieb bis zum Schluss. Da gab es den Hinweis, dass Veronica weiterhin zu hören wäre, wenn ich nach Hilversum 1 und 2 umschaltete, die ein gemeinsames Nachtprogramm hätten. Ich tat es, und ich hörte Erik de Zwart und den inzwischen verstorbenen Cees Schilperord mit „De Stemband“. Ein kurzer Ausschnitt mit Worten und der Stimme einer berühmten Persönlichkeit wurde gespielt, und die Kandidaten mussten raten, um wen es sich handelte. Rieten sie es nicht, kamen hundert Gulden hinzu, und der nächste Kandidat hatte mehr zu gewinnen mit derselben Stimme. Wurde die Stimme erraten, kam eine Neue, und der Jackpot wurde natürlich geleert. Das war eine Sendung, die ich klasse fand. Man ließ sich für sechs Kandidaten zwei Stunden zeit, sprach ausführlich mit ihnen, Cees Schilperord war ein ruhiger Mann, und das ergab zusammen mit dem temperamentvollen Erik de Zwart eine tolle Mischung aus Gemütlichkeit und Pepp. Mein Freitag ging also grundsätzlich bis Samstag um zwei. Meine Eltern gewöhnten sich schnell daran und ließen mir meine Freude. Eines Tages meinte meine Mutter: „Veronica? Ist das nicht so ein Piratensender? Zumindest war er das früher einmal.“ Ich konnte mir nichts darunter vorstellen und meinte, dass er mir ziemlich legal klingen würde. Aber immer wieder kamen wir auf das Thema „Piratensender“. „Früher haben sie von einem Schiff aus gesendet, außerhalb der Drei-Meilen-Zone“, sagte meine Mutter.

Mit der Zeit bestätigte sich, dass Veronica ein Pirat gewesen war. Darüber wusste ich nichts, und ich beschloss, mein Wissen aufzufrischen. Den ersten Schritt dazu taten meine Eltern ohne mich. Ich war in Marburg, und sie arrangierten ohne mein Wissen einen Besuch. Am Abend des 12. September 1986 traf uns dort eine Frau von knapp 50 Jahren, deren Mann regionaler D. J. von Veronica war. Sie hieß Liss, und sie erzählte ein wenig aus der Radiogeschichte des Senders, dass er seit 1960 bestand, und dass er erst seit 1975 legal in Holland arbeite, vorher von einem Schiff aus gesendet habe. Das fand ich extrem faszinierend, aber mehr Informationen konnte ich nicht bekommen. Ich hörte jeden Freitag meine Sendungen, vor allem die Hitparade, davor die Tipparade, wenn möglich. Natürlich nicht mehr jeden Freitag, sondern nur noch, wenn ich in Holland war. Es gab eine Mittelwellenfrequenz von Hilversum 3, die ich aber in Marburg praktisch nicht empfangen konnte.

In den Ferien nahm ich mir nun auch die anderen Programme von Veronica vor, Freitagsmorgens schon um sieben „ook goeie morgen“ beispielsweise. Auch den Mittwoch gewöhnte ich mir an, dort war Veronica auf Radio 2 zu hören, wie Hilversum 2 nunmehr hieß. Ich mochte die lockere und teils flapsige, aber gleichzeitig freundliche und hörerverbundene Art, die Programme zu präsentieren, Verbindung mit den Hörern zu suchen. Veronica wurde zum Symbol einer richtig guten Zeit für mich auf Heelderpeel, einer Zeit, in der ich lebte und tat, was ich wollte. Natürlich hatte ich auch andere Programme für mich entdeckt: TROS beispielsweise, aber auch die Hitparaden von AVRO und NCRV. Aber Veronica blieb ich sozusagen treu. Sonntags entdeckte ich dann, dass es auch noch einen Sender Radio 5 gab, der kulturelle Sendungen brachte, und dort hörte ich dann mittags zwischen 2 und 5 Uhr einmal „Radio Romantica“. Heute würde ich sagen, es war eine Vorwegnahme der deutschen Sendungen mit Erika Berger, aber ganz trifft es das auch wieder nicht. Es ging um sexuelle Themen, drei Stunden lang. Sie ließen es langsam angehen, es gab immer ein Thema, und es gab Berichte, eine art von Aufklärung, und dann konnten eben Hörerinnen und Hörer anrufen. Ihre Fragen wurden von einer Sexualwissenschaftlerin, einer „Sexuologin“, wie man in Holland sagt, beantwortet. Es war eine ruhige und manchmal, vor allem für mich in meiner spätpubertären Phase, sehr interessante Sendung. Ich erinnere mich noch genau an eine Ausnahmesendung von „Radio Romantica“, die einmal Samstags- oder Freitagsnachts auf Radio 1 und 2 stattfand im Rahmen des Nachtprogramms von Radio Veronica. Es gab eine Sendung live aus einem Bordell, und Alfred Lagarde, einer der großen Moderatoren damals, ließ sich zeigen, live und in Farbe, wie man in einem solchen Bordell arbeitete. In Deutschland hätte es das nicht gegeben. Er ging mit einer Prostituierten mit, nachdem er sich eine Weile mit ihr an der Bar unterhalten hatte, wo er die Leute hinter der Theke und die Frau selbst ausgefragt hatte über die Arbeit. Er badete mit der Frau und ließ sich ein wenig verwöhnen, nur den Sex direkt lehnte er ab mit den Worten, er mache das ja schließlich für das Radio, und vor allem wolle er ein Stimmungsbild vermitteln und Fragen stellen. In keinem anderen Sender wäre das so möglich gewesen. Ich war schwer beeindruckt. Leider habe ich die Sendung nur halb gehört, denn meine Eltern, die auch holländisch verstanden, sollten nicht mitkriegen, was ich da hörte. So war das damals bei mir noch. Heute denke ich, dass sie wahrscheinlich nichts gesagt hätten.

Der 28. Dezember 1988 war ein für mich interessanter und abwechslungsreicher Tag. Abends gab es eine Besonderheit auf Radio Veronica in Radio 3. Sie spielten eine holländische Fassung von „War of the worlds“. Bislang war mir nur die deutsche Version bekannt, die von Kurt Jürgens gesprochen worden war. Aber hier konnte ich zuhören, vergleichen, und Jan van Veen, der bei AVRO montags die Sendung Candlelight präsentierte, hatte genau die richtige Stimme für die Hauptrolle. Natürlich nahm ich die Sendung auf, wie ich immer versucht habe, besondere Sachen aufzunehmen. Radio Veronica war für mich in Holland DER SENDER, „Het Station war Muziek in zit!“.

Und dann kam der 18. April 1990 und damit die Riesenchance, endlich mehr über die Vergangenheit von Radio Veronica zu erfahren. Die Organisation feierte ihr dreißigjähriges bestehen, und es gab einen Rückblick im holländischen Fernsehen, aber auch einen ganzen Tag Gedenken auf Radio 2. Es traf sich, dass ich zu diesem Zeitpunkt Osterferien hatte, aber leider waren wir nicht in Holland. Also musste ich meine Hör- und Aufnahmeaktion von Solingen aus starten, was ich dann auch tat.

An diesem 18. April 1990 erhielt ich erstmals einen Überblick über die Geschichte von Radio Veronica.

Ende 1959 schlossen sich Radiohändler zusammen, die ihre Kundschaft, die Jugendlichen und jungen erwachsenen, in den meist konfessionell geprägten Sendeermächtigten der zwei Radioprogramme in Holland nicht vertreten sahen. Damals gab es das geschlossene Rundfunksystem, es war also als neue Organisation nicht mehr möglich, eine Sendeermächtigung zu erhalten, auch nicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Privatfunk oder kommerzieller Rundfunk war innerhalb der Landesgrenzen sowieso verboten. Natürlich konnte niemand von außen daran gehindert werden, in Holland empfangen zu werden, wie es mit Radio Luxemburg beispielsweise geschah. Diese Radiohändler, vor allem die Gebrüder Verwai, hatten nun den Plan, ein Schiff außerhalb der Landesgrenze, aber nahe am holländischen Territorium zu platzieren, die Sendungen an Land zu produzieren, sie auf das Schiff zu bringen und von dort aus zu senden. Das war nicht im eigentlichen Sinne illegal, es war eine Art Gesetzeslücke. Trotzdem wurden diese Sender, die knapp außerhalb des Territoriums standen und von Niederländern betrieben wurden, Piraten genannt. Am 18. April 1960 wurde von der vor Den Haag liegenden „Borkum Riff“ aus das Programm von Radio Veronica eröffnet, damals nannte sich der Sender noch „Vrije Radio Omroep Nederland (VRON)“. Daraus wurde schnell Veronica, weil es griffiger und spritziger war. Mit der Erfindung der Top 40 Anfang 1965 wurde der Sender noch beliebter. Die Platten wurden fast vollständig ausgespielt, zwischendurch gab es Spiele und Rätsel und die neuesten Nachrichten aus dem Pop und Rock-Geschäft. Künstler, Bands und andere Größen der Musik gaben sich bei Veronica ein Stell-dich-ein. Und viele von ihnen wurden durch den Seesender unterstützt, der ja durchaus Veranstaltungen an Land durchführen, doch von dort aus nicht senden durfte. Gerade die Art der Moderation war es, die die Menschen anzog: Spritzig und jung, aber familiär und hörerverbunden, nicht so kalt wie die heutigen Profidiscjockeys. Publikumswirksame Promoaktionen führten zu noch größerer Beliebtheit von Radio Veronica, eine Drive-In-Show wurde organisiert, und mit munteren Moderatoren und aktueller Hitparadenmusik tourte der Sender durchs Land, schmiss Disco-Abende und begeisterte die Jugend.

Seit 1965 hatte Veronica auch ein neues Schiff. Die „Borkum Riff“ war zu alt, musste verschrottet werden, und statt ihrer kam die „Norderney“, ein deutsches Schiff, das zum Symbol von Radio Veronica werden sollte.

Im Jahre 1967 verabschiedete die britische Regierung ein Gesetz, das die Ausstrahlungen von Sendungen von See oder von Flugzeugen aus verbot. Einige britische Sender, die natürlich trotzdem weitersendeten, zogen sich in die Nähe des holländischen Territoriums zurück. Auch neue, international agierende Sender tauchten auf, so „Radio Nordzee International“. Vor der holländischen Küste entstand ende der sechziger Jahre eine recht große Ansammlung von Piratensendern. Gleichzeitig wurden die Befürchtungen immer größer, die Holländer könnten ebenfalls ein Antiseesendergesetz verabschieden. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Seesender gemeinsam über die Hälfte der Bevölkerung anzogen, und seit Anfang 1970 war Veronica nicht mehr der stärkste unter ihnen. Radio Mi Amigo und Radio Nordsee International zogen etwas mehr Zuhörer an, jedenfalls sagten das die Statistiken. Bislang hatte zwischen den Piraten Frieden geherrscht, aber im Kampf um die Hörergunst war es nun ausgerechnet Radio Veronica, das zu kriminellen Mitteln griff. Im Auftrag von Bull Verwai, dem Direktor von Veronica, wurde an Bord der Mebo 2, so hieß das Schiff von Radio Nordsee, Feuer gelegt. Dafür bekam Verwai ein Jahr Gefängnis, und in der holländischen Politik wurden nach diesem Mai 1971 die Stimmen immer lauter, die ein Verbot der Seesender forderten.

Viele bekannte holländische Moderatoren hatten ihre Ursprünge bei Radio Veronica oder anderen Seesendern. Harmen Sizen, der lange Jahre das NOS-Journal präsentierte, kam ebenso von Veronica wie Jan Van Veen von Candlelight, Bart Van Leeuwen, Jeroen van Inkel, Lex Harding, Tinneke Voss und viele Andere. Gerade zu Beginn der siebziger Jahre gab es viele, die fast ein Doppelleben führten. Unter ihrem richtigen Namen machten sie Programme für Hilversum 3, den Jugendsender des niederländischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks, und unter einem Piratennamen arbeiteten sie zusätzlich für eine Piratenstation. Wenn die Arbeitgeber in Hilversum Wind von der Sache bekommen hätten, wären die Leute entlassen worden. Die Lage spitzte sich zu. Radio Veronica erkannte früh den Gegenwind und mobilisierte viele Promoaktionen, viele Leute, die sich für den Erhalt der Seesender einsetzten. Eine Welle der Sympathie ging durchs Land, und Mitte des Jahres 1973 begann Veronica damit, einen offiziellen Verein zu gründen, die „Veronica Omroep Organizatie“, deren Ziel es war, so viele Mitglieder zu bekommen, dass man eine offizielle Sendelizenz im öffentlich-rechtlichen Rundfunk erhalten konnte. Denn 1967 hatte man in Holland das Rundfunksystem geändert. Es war nun möglich, neue Organisationen in den
öffentlich-rechtlichen Rundfunk einzulassen, wenn sie mehr als 50.000 zahlende Mitglieder vorweisen konnten. Veronica versuchte es sehr schnell und effektiv.

Am 18. April 1973, genau 13 Jahre nach der Erstausstrahlung von Veronicasendungen, wollte die zweite Kammer der Niederlande über einen Gesetzentwurf zum Verbot der Seesender beraten. Natürlich wollte Veronica dabei sein und mit einer Großdemonstration für den Erhalt der Seesender kämpfen. Doch in der Nacht vom 02. auf den 03.04.1973 geschah das Unfassbare: Ein Sturm riss die „Norderney“, die selbst keine Maschinen hatte und geschleppt werden musste, um den Standort zu wechseln, von ihrem Anker los und trieb sie auf die Küste von Den Haag zu. Die Sendungen wurden nach einem Hilferuf eingestellt, und ein Schiff der „Noord-Zuid-Hollandse Reddingsmatschapij“ holte die Besatzungsmitglieder von dem havarierten Schiff. Radio Veronica war aus dem Äther verschwunden. Wie sollte man nun die Campagne für den Erhalt der Seesender führen? Wie sollte man Werbung für die Großdemonstration in Den Haag am 18. April machen? Hilfe kam von einem Kollegen, dem Seesender „Radio Caroline“. Der stellte nämlich Veronica seinen Sender zur Verfügung, sodass „Radio Veronica“ vom 11. April 1973 an wieder zu hören war. Mit voller Kraft steuerte Radio Veronica nun auf den 18. April zu, das schicksalhafte Datum. Eine riesige Menschenmenge von mehr als einer halben Million Leuten sah am Morgen des 18. April 1973 zu, wie die „Norderney“ wieder auf die offene See hinausgeschleppt wurde, und man nahm das als gutes Zeichen. In der Niederländischen zweiten Kammer jedoch ging es anders zu. Die Regierungsparteien wollten die Seesender abschaffen, verbieten, denn sie waren eine Bedrohung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Holland sollte dem Vertrag von Straßburg beitreten, der das Ausstrahlen von Sendungen von See aus verbot. Die Anhörung am 18. April 1973 bestätigte, dass es wahrscheinlich eine Mehrheit für diesen Vertrag geben würde. Der Beschluss kam dann am 28. Juni 1973. Zwar war das nicht die endgültige Annahme, denn die erste Kammer, eine Art Oberhaus, musste noch zustimmen, aber die Zeichen standen auf Sturm. Ein Sturm der Entrüstung brach los. Künstler, Sänger, Bands, sie alle sangen und spielten für den Erhalt von Radio Veronica, das sie bekannt gemacht hatte. Radio Veronica selbst trieb einerseits seine Anstrengungen voran, genügend Mitglieder zu bekommen, um einen legalen Status zu erhalten, und andererseits versuchte man, auf die Abgeordneten der ersten Kammer einzuwirken, damit sie diesem Gesetz nicht zustimmten.

Man muss manchmal auch eine lange Geschichte kurz erzählen. Am 22. Januar 1974 fiel in der ersten Kammer die Entscheidung zugunsten des Vertrages. Von da an war klar, dass Veronica und die anderen Seesender irgendwann im Laufe des Jahres abschalten mussten. Veronica stellte seine Strategie sofort um. Aus „Veronica muss bleiben“ wurde der Slogan: „Veronica muss an Land“. Immer mehr Mitglieder strömten der neuen Rundfunkorganisation bei, die schon frühzeitig eine Sendelizenz im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Systems beantragte. Extra für Veronica führte der damals zuständige Minister ein neues Auszählungssystem ein, und die Station erreichte die vorgeschriebene Mitgliederzahl nicht, obwohl man heute weiß, dass sie weit überschritten worden war. So verkündete der Minister im Juli 1974 die Ablehnung des Antrages. Gleichzeitig wurde bestimmt, dass der Vertrag am 1. September 1974 Inkrafttreten sollte.

Bis zur letzten Sekunde sendete Radio Veronica weiter, bis zum 31. August 1974, 18 Uhr. Im Gegensatz zu Radio Caroline, das bewusst weitersendete und zu einem echten Piratensender wurde, wollten die Leute von Veronica nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten, vor allem auch deswegen, weil einige der Leute ganz normale Arbeitsplätze außerhalb der Organisation Veronica hatten. So schloss Veronica seine Pforten mit einer bewegenden letzten Stunde, di vom damaligen Programmdirektor Rob Out moderiert wurde. Legendär und herzzerreißend ist diese Aufnahme, die rüde mit dem herausziehen des Sendekristalls endet. Millionen Holländer saßen an diesem Tag vor den Radiogeräten, trugen ihre Kofferradios mit zum Strand oder trafen sich in größeren Gruppen, um diese letzte Stunde und davor die letzte top 40 mit Lex Harding zu hören. Dann war Stille auf der Frequenz 538 Meter.

Die Abschlussrede, die Rob Out in Radio Veronica hielt, habe ich ins Deutsche übersetzt. Sie lautet:

„Vor tausenden von Jahren entdeckte der erste Mensch, wie er ein Feuer anzünden konnte. Er wurde vermutlich von seinen Mitmenschen verbrannt. Er war ein Missetäter, ein Pirat. Doch von diesem Moment an verfügten die Menschen über das Feuer, um sich warm zu halten, Licht zu machen und sogar Essen zu kochen. Jahrhunderte später erfand jemand das Rad. Er wurde vermutlich gevierteilt auf der Folterbank, er hinterließ ein Geschenk, dass nicht verstanden wurde, doch die Wege in alle Welt öffnete. Zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, die durch ihr Denkvermögen und ihre Kreativität den Anstoß für neue Entwicklungen gaben. Die Antwort darauf war stets dieselbe: Hass und Missgunst. Jede neue Idee oder Entwicklung wird durch eine Gruppe von Menschen angefochten, die nach Stillstand und Machtkonzentration strebt: Das Flugzeug war unmöglich, Narkose eine Sünde, Raumfahrt war Gotteslästerung und Radio Veronica ein Verbrechen.
Radio Veronica … Entstanden aufgrund der Initiative einiger Niederländer, Zu Fall gebracht durch eine Gruppe anderer Niederländer, weil es eine Bedrohung ihrer Macht ist. Die Popularität von Radio Veronica ist der Grund, warum es verschwinden muß. Unser Rundfunksystem ist ein geschlossener Kreislauf, instandgehalten durch eine kleine Anzahl von Menschen, die kein Interesse an den Bedürfnissen der Zuhörer und Zuschauer haben. Radio Veronica ist eine Bedrohung dieses eingefahrenen Systems, und darum müssen wir verschwinden.
Und doch … Doch kann es nur ein vorübergehendes Verschwinden sein. Idealismus ist eine Waffe, gegen die es sich schwer ankämpfen lässt. Nicht gebunden an und nicht gehindert durch politische Interessen, Machtgier oder Angst wird Radio Veronica fortbestehen, muß es fortbestehen. Menschen haben Feuer, Dampf und Elektrizität bezwungen, haben die Ozeane in einem Segelboot überquert, haben Flugzeuge und Staudämme gebaut, konnten die Erde verlassen durch ihr Denkvermögen, ihre Kreativität und die Kraft ihres Willens. Veronica wurde aufgebaut von Idealisten, und beseitigt durch Diejenigen, die das als Bedrohung ansahen. Es ist an Ihnen, als Niederländer mit einem Gefühl für Gerechtigkeit, darauf eine Antwort zu finden. Die Uhr läuft stets weiter, ich habe nur noch wenige Minuten. Wahrscheinlich müsste noch viel gesagt werden, aber ich habe die Zeit nicht und ich kann es auch nicht mehr…
Es ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen. Ein schreckliches Gefühl. Eine Periode wird abgeschlossen, etwas stirbt.
Mit dem Abschied von Radio Veronica stirbt auch ein wenig die Demokratie in unserem Land, und das tut mir leid … für unser Land.”

Dann erklang die niederländische Hymne, dann das Jingle des Senders, und mitten in diesem melodiösen Jingle wurde der Sendekristall gezogen. Jeder wusste, dass die Brutalität der Politik gegen die Interessen der Bevölkerung damit symbolisiert wurde.

Natürlich ging der Kampf weiter. Immer mehr Mitglieder erhielt die Rundfunkorganisation, und auch hier können wir die Geschichte abkürzen. Im September 1975 musste die Regierung nachgeben. Veronica erhielt den Status eines sogenannten „Aspirant Omroep“, eines Rundfunkanwärters also. Damit waren drei Sendestunden pro Woche im Radio verbunden. Drei Stunden nur, und davon war eine Stunde auf dem Informationssender Hilversum 1, eine Stunde war tatsächlich auf dem Jugendsender Hilversum 3, und die dritte Stunde war auf dem Klassiksender Hilversum 4 angesiedelt worden. Auch das war ein Versuch, Veronica zu schaden, aber es gelang nicht. Am 28. Dezember 1975, nach sechzehn Monaten Stille, erklang auf Hilversum 4 wieder das Jingle mit den Möwen, das eine Sendung von Radio Veronica ankündigte. Erst im Jahre 1978 erhielten sie den Status als vollständiger Rundfunksender und bauten ihre Sendezeit immer weiter aus. Sie erhielten den Mittwoch als Sendetag auf Hilversum 2 und den Freitag, von dem ich schon erzählte, auf Hilversum 3. Lange Zeit war alles gut, Radio Veronica brachte frischen Wind in die holländische Rundfunklandschaft.

Das alles erfuhr ich am 18. April 1990 bei der Feier zum 30-jährigen Bestehen der Organisation. Es war eine Menge an Information, die mich faszinierte und begeisterte. Ich hätte gern gewusst, wie Veronica zu seiner Piratenzeit klang.

Fünf Jahre lang ging alles so weiter wie gehabt. Ich verfolgte interessante Sendungen von Radio Romantica, blieb ein Hörer der Top 40 und des Veronica-Freitags, hörte aber auch zunehmend den Veronica-Mittwoch auf Radio 2, denn dort wurden auch ältere Sachen gespielt, und das gefiel mir gut. Mit der ganz neuen Musik, dem Technoschrott, konnte ich nicht mehr viel anfangen. Dann erreichte mich die Kunde, dass Veronica von der neuen Gesetzgebung profitieren wolle, die kommerzielle Sender zuließ. Man hatte beschlossen, sich aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem wieder zurückzuziehen und sich selbstständig zu machen. Natürlich suchte man sich für diesen Abschied den 31. August aus. Und natürlich war ich dabei und hörte diese letzten Sendungen von Radio Veronica auf Radio 3. Den kommerziellen neuen Sender Veronica würde ich nicht empfangen können, er hatte in Limburg keine UKW-Frequenz, und deshalb war das, was für Veronica ein Freudentag war, für mich eher ein trauriger Anlass. Ein Stück meiner Jugend verschwand. Ganz zum Schluss gab es eine Art Abschiedsrede mit einem fröhlichen Unterton. Fröhlich und lustig ging es zu. Heute weiß ich, dass es eine Art Parodie auf die traurige Rede war, die Rob Out 21 Jahre früher gehalten hatte. Hätte ich das damals bereits gewusst oder verstanden, dann hätte ich auch gewusst, dass Veronica sich auf die falschen Pfade begab. Die Seesendervergangenheit, die bis zu diesem Zeitpunkt immer hochgehalten worden war, auf die man richtig stolz war, die warf man nun gewissermaßen über Bord. Veronica ist wieder kommerziell, also weg mit dem alten Kram, hinein in die Zukunft. Dabei war die Seesendervergangenheit immer das, wovon Radio Veronica am meisten profitiert hat. Weil die neuen Chefs der Organisation das nicht begriffen und sogar offen sagten, man müsse mal von dem alten Schiffsmythos Abschied nehmen, ging Veronica in den kommenden Jahren immer mehr den Bach runter. Man verlor die letzten Ätherfrequenzen, und dann, mitte des Jahres 2003, war so wenig Geld da, dass der Fernsehbetrieb eingestellt werden musste. Auch der Radiobetrieb schloss seine Pforten, und es sah ganz danach aus, dass Veronica endgültig verschwinden würde.

Die Sky-Radio-Gruppe war es dann, die Veronica im Radiobereich aufkaufte und das Recht erwarb, wieder einen Radiosender Radio Veronica zu nennen. Dessen Wiedereröffnung Fand am 31. August 2003 statt. Zu diesem Datum wurde die „Norderney“, die seit vielen Jahren als schwimmende Disco in Antwerpen liegt, nach Holland gebracht. Seither ist Radio Veronica ein auch von mir nicht weiter beachteter Sender im Imperium von Sky Radio.

Dieser letzte Sendetag des Piraten 1974 muss ungemein emotional gewesen sein. Hunderttausende pilgerten mit ihren Kofferradios zum Strand, um in der Ferne die Norderney sehen zu können. Selbst beim Essen lief immer das Radio. Ich glaube, unsere Familie war zu diesem Zeitpunkt im Urlaub in Holland, in Egmond aan Zee, und mir ist, als hätte ich am Strand viele Radios gehört. Ob das der berühmte Abschied von Radio Veronica war, weiß ich nicht, aber eins ist klar. An diesem Sender können sich die heutigen Privaten ein Beispiel nehmen. Sie könnten lernen, locker und fröhlich zu unterhalten, aber das mit Gehalt und Inhalt zu tun, auch interessante Veranstaltungen durchzuführen, Informationen zu präsentieren und so weiter. Wirklich zu hören, was die Hörer hören wollen. Das war es, was Veronica immer machte. Sonst wären so Aktionen wie „War of the worlds“, wo man schon mal knappe zwei Stunden zuhören sollte, nicht möglich gewesen. Unsere Fabrikprivaten würden das nie bringen.

Eine ruhmreiche Geschichte von 54 Jahren hat der Sender hinter sich, aber vor 20 Jahren hätte sie möglicherweise enden sollen, oder man hätte da bleiben sollen, wo plötzlich das alte Rundfunkformat mehr gefragt war als auf dem freien Markt: Im öffentlich-rechtlichen System. Heute ist Veronica ein Anhängsel von Sky-Radio, und das gefällt mir nicht. Darum wollte ich mit diesem Beitrag an das wahre, das alte Radio Veronica erinnern.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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