Die Natur schaltet einen Gang runter, aber die Menschen nicht

Heute ist Frühlingsanfang, oder so ähnlich. Die sympathische junge Frau mittleren Alters, mit der ich mein Leben verbringe, hat Geburtstag, und eine partielle Sonnenfinsternis gibt es auch noch zu sehen. Nur zu sehen? – Wir wollen es genau wissen.

Morgens halb 10 in Deutschland, genauer in Marburg. Es ist der Moment, in dem die Sonne angefressen zu werden beginnt. Jackenbewehrt begeben wir uns auf den Balkon und setzen uns in die warme Sonne. Die Menschen arbeiten und plaudern, die Autos fahren, die Vögel singen. Was aber wird gleich geschehen? Gleich, wenn die Sonne fast vollständig verschluckt wird?

Eine viertel Stunde später haben wir den Eindruck, dass die Sonne irgendwie kleiner geworden ist, die Strahlkraft nimmt ab, aber weder Menschen noch Vögel kümmern sich darum. Die einen arbeiten, die anderen tirilieren weiter. Auch wir sind noch ganz normal, vielleicht ein wenig gespannt, aber nichts sonst.

Ich erinnere mich an die Sonnenfinsternis 1999, als ich draußen vor meinem elterlichen Haus in Solingen stand und erahnte, wie es dunkler und dunkler wurde, bis nur noch ein Dämmern übrig war. Die Natur war irritiert, die Menschen fasziniert. Wie würde es wohl heute sein?

Irgendwann bemerken wir eine subtile Veränderung. Einige Vögel werden leiser, andere melden sich seltener, ein kälterer Wind kommt auf, die wärmenden Strahlen der Sonne verschwinden mehr und mehr, aber nicht so, als ginge sie unter. Dieses Verblassen der Wärme ist anders als abends, und auch anders als wenn sich Wolken vor die Sonne schieben. Es ist langsamer, größer. Die Menschen scheinen gerade jetzt mehr Geschäftigkeit zu entfalten. Autos stehen mit laufendem Motor an der Straße, die Baustelle lärmt mehr, der Verkehr nimmt zu. Oder nimmt nur unsere Sensibilität zu, während sich die Sonne vorübergehend abwendet?

Die junge Frau mittleren Alters hört gegen halb elf die Amseln leise singen. Abendstimmung? Gute-Nacht-Lieder? Unbeeindruckt arbeiten die Menschen, überspielen die Stille hinter der Stille, wie meine spirituelle Frau es ausdrückt, eine Bezeichnung, der ich nur vollkommen zustimmen kann. Die Natur wird stiller, verstummt nicht ganz, wie auch die Sonne nicht ganz verschwindet. Sie bleibt, doch ein Gefühl unnatürlicher Verlassenheit ist spürbar. Das freundliche, warme Licht des Frühlings blinzelt kurz, und für uns ist es eine kalte halbe Stunde.

20 Minuten vor 11, als der dunkelste Punkt erreicht ist, fahren viele Autos, dröhnen große Maschinen von der Baustelle, nur wir sind vollkommen still und nehmen die Stille in uns auf, die trotz allem da ist. Und mehr gibt es nicht zu sagen.

Später dann, als nach einer knappen viertel Stunde die ersten spürbaren Strahlen zurückkehren, meldet sich laut eine nahe Meise. Sie begrüßt die Sonne, und wir begrüßen sie auch. Wie freuen wir uns über die Strahlen, die Wärme, die Freundlichkeit der Natur. Wir haben sie nicht lange missen müssen, und wir waren fasziniert von ihrer Abwesenheit, und doch haben wir sie vermisst.

Es war ein wunderschöner, spiritueller, faszinierender, interessanter Morgen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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