Nachrichten aus der Festung Europa

den folgenden Beitrag habe ich für ohrfunk.de geschrieben und veröffentliche ihn hier zur Dokumentation.

Es ist entsetzlich kalt geworden, und mancherorts geistert schon der Begriff Schneefall durch die Medien. In der Nacht friert es. Bitte glauben Sie jetzt nicht, Sie hätten sich im Beitrag oder im Sender vertan, es geht nach wie vor um Politik in Deutschland. Hier in Marburg beispielsweise leben rund 800 Flüchtlinge derzeit in einer Zeltstadt, und zwar bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Eine Kleiderausgabe findet zur Zeit aus organisatorischen Gründen, man könnte auch von bürokratischer Borniertheit sprechen, nicht statt, und die Kommunikation mit den zunehmend frustrierten und ungeduldigen Anwohnern lässt stark zu wünschen übrig. Und zu allem Überfluss muss demnächst die Flüchtlingsanlaufstelle der Stadt wohl umziehen, und bis jetzt scheint noch niemand auch nur einen blassen Schimmer zu haben, wohin die Reise gehen wird. Dies alles ist beileibe nicht nur ein marburger Phänomen, es vollzieht sich so oder ähnlich in vielen Städten Deutschlands. Wir sind eines der fünf reichsten Länder der Welt, Experten halten unsere Aufnahmekapazität längst nicht für erschöpft, aber aus wahltaktischen Gründen und um einer unsäglichen Profilierungssucht willen wird hier Politik mit dem Hunger und der Gesundheit von Flüchtlingen gemacht.

Während all dies geschieht, streiten die politischen Parteien über die frage, ob man offensichtlich aussichtslose Asylbewerber schon an der Grenze abfangen und in ihre Heimatländer zurückschicken soll, ob man sie so lange in sogenannten Transitzonen inhaftieren soll, und ob es möglich ist, den Flüchtlingen allgemein die Leistungen zu kürzen. Angela merkel, die im September ein so offenes und klares Bekenntnis zu einer humanen Flüchtlingspolitik abgegeben hat, dass ich mir verwundert die Augen gerieben habe, bekommt nun von allen Seiten massive Schelte. Den Erzkonservativen in der eigenen Partei und der CSU ist sie viel zu weit gegangen, den Faschisten von Pegida ist sie ohnehin eine Volksverräterin, und die Umfragewerte der tapfer standhaft bleibenden Kanzlerin sinken erstmals seit langer Zeit auf ein Niveau unter 40 %. Denn das Volk, das sich nach schwierigem Start zu einem Volk der toleranten Mitmenschen gemausert und die vielen Flüchtlinge in Deutschland mehrheitlich willkommen geheißen hat, schwenkt nun doch wieder auf die Linie der besorgten Bürger ein. Und wie geht der Staat mit der steigenden Anzahl ausländerfeindlicher Straftaten um?

Vor 2 Wochen saßen die Eltern einer lieben Freundin im sauerländischen Altena bei sieben syrischen flüchtlingen am Tisch, die einen Tag zuvor eingezogen waren. Bevor sie kamen hatte man sich in der Nachbarschaft ein paar Sorgen gemacht, war man unsicher gewesen. Die rechtsradikalen Sprücheklopfer aber nahm niemand so recht ernst. Die Flüchtlinge stellten sich als nett, freundlich und aufgeschlossen heraus, was die Eltern meiner Freundin sehr erleichterte. Sie halfen, wo sie konnten und begannen, sich mit den Neuankömmlingen nachbarschaftlich zu verständigen. Und als sie gemeinsam am Tisch saßen, stieg ihnen Brandgeruch in die Nase. Es stellte sich heraus, dass irgendjemand auf dem Dachboden einen Schwelbrand gelegt hatte. Die Flüchtlinge blieben unverletzt, ebenso die hilfreichen Nachbarn, die sich an einen Feuerwehrmann aus der Nachbarschaft gewandt hatten. Die Flüchtlinge wurden in eine neue Wohnung gebracht, die Polizei ermittelte wegen Brandstiftung. Aufgrund einiger Hinweise konnten die Täter schnell ermittelt werden, sie wohnten direkt neben dem Haus der Flüchtlinge. Die Eltern meiner Freundin waren schockiert, dass so etwas in ihrer Nachbarschaft geschehen konnte, wo man viele Jahre und Jahrzehnte in dörflicher Umgebung zusammenlebte. Völlig überraschend gab die Staatsanwaltschaft ein paar Tage später bekannt, die Täter, die übrigens geständig waren, seien wieder auf freien Fuß gesetzt worden, eine fremdenfeindliche Straftat sei nicht zu erkennen, es habe sich lediglich um Angst vor Flüchtlingen gehandelt, mithin um ein persönliches, nicht um ein politisches Motiv. Auf einen solchen Kniff zur Verharmlosung rechtsradikaler Straftaten muss man erst einmal kommen!

Bund, Länder und Gemeinden sind mit der situation derzeit klar überfordert. Trotzdem versucht unsere politische Klasse noch, im Windschatten der Flüchtlingskrise andere umstrittene Gesetzespakete still und leise verabschieden zu lassen. So hat der Bundestag heute die neue Vorratsdatenspeicherung im Schnellverfahren beschlossen, um die Bürger massenhaft und routinemäßig auszuspionieren. Der einzige Kommentar, der mir dazu einfällt, stammt vom Kurznachrichtendienst Twitter und lautet: „Wie mutig, dann ist das Gesetz ja noch in dieser Legislaturperiode vor dem Bundesverfassungsgericht.“

Und bei all dem sieht es nicht so aus, als solle der Zustrom von Flüchtlingen in die Festung Europa, die längst nicht mehr mit einer Stimme spricht, in nächster Zeit abreißen. Der türkische Präsident Erdogan nutzt den Kampf gegen die Terrormiliz „islamischer Staat“, um seine eigenen Pläne von der Vernichtung der Kurden und der Ausschaltung der demokratischen Opposition in der türkei durchzusetzen. Russland bombardiert in Syrien die Gegner des herrschenden Regimes und fügt dem Leid der dortigen Zivilbevölkerung neue Greuel hinzu, die Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern erreicht einen traurigen Höhepunkt und gefährdet den brüchigen und instabilen Waffenstillstand im nahen Osten. Die Welt scheint uns um die Ohren zu fliegen, wir bewegen uns scheinbar unabwendbar auf eine politische und soziale Kernschmelze zu.

Allerdings gibt es einen einzigen kleinen Hoffnungsschimmer: Das Sturmgewehr G36 funktioniert nicht, oder nur unter Laborbedingungen. Wenn wir jetzt nur noch solche Waffen produzieren könnten, wenn wir uns daran mal ein Beispiel nähmen, dann könnten wir langsam damit anfangen, Ursachen für Leid, Tod und Massenflucht wirksam zu bekämpfen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Nachrichten aus der Festung Europa

  1. Lieber Jens,
    hab herzlichen Dank für diesen hervorragenden Beitrag! Wieder einmal hast Du einige aktuelle Probleme gut auf den Punkt gebracht.
    Wer Angst vor Fremden nicht als Rassismus begreift, ist selbst ein Rassist. Solche Leute gehören nicht in verantwortliche Positionen von Polizei und Justiz.
    Im Landkreis Marburg-Biedenkopf hat die Polizei vor eineinhalb Jahren einen Anschlag auf ein Flüchtlingsheim als „Dumme-Jungen-Streich“ ohne politischen Hintergrund verharmlost. Die „Jungen“ waren 16 und 18 Jahre alt. Einer war der Polizei vorher scchon durch Hakenkreuzschmierereien aufgefallen. Die hatten aber bestimmt auch keinen politischen Hintergrund.
    Immerhin scheint die Polizei hier im Landkreis gelernt zu haben: Inzwischen ist sie vorsichtiger mit der Verharmlosung rechts motivierter Taten. Offenkundig gibt es auch einige anständige Beamte bei der Polizei.
    Was den Umgang mit Flüchtlingen betrifft, so gibt es in Marburg derzeit neben der geschlossenen Kleiderkammer und zuwenig Toiletten im Camp auch Probleme mit der Gesundheitsversorgung: Krankenkarten wären dringend nötig, um zu verhindern, dass Ärzte Flüchtlinge nur rudimentär behandeln, weil sie trotz Kostenzusage des Landes monatelang auf Bezahlung warten. Schwangere Frauen sollten zur Entbindung nach Gießen ins Klinikum umnd wurden drei Stunden nach der Geburt mit dem Säugling ins kalte Zelt zurückgeschickt!
    Solche Zustände sind beschämend!
    Ich bin allen dankbar, die helfen, Mitmenschlichkeit zu zeigen.
    Dir danke ich für Deine deutlichen Worte.
    fjh

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