Ein paar Gedanken zur #MeToo-Debatte

Vor gut einer Woche las ich in der Wochenzeitung „Die Zeit“ die Titelgeschichte „Der bedrohte Mann“ von Jens Jessen. Er behauptete sinngemäß, die seit einem halben Jahr laufende #MeToo-Debatte um sexuellen Missbrauch an Frauen, die in der Filmszene begann, trage inzwischen Züge eines totalitären Feminismus. Allein die Geschlechtszugehörigkeit „Mann“ mache einen zum Täter, zu einem, der sich schuldig fühlen, der schweigen müsse. Es ginge, wie schon im totalitären Stalinismus, um die Machtfrage der Feministinnen, nicht um Verbesserungen und reformen zum Wohle der Frauen. Schon seit längerem hatte ich den Wunsch, mich allgemein zur #MeToo-Debatte zu äußern, und der genannte Beitrag bietet mir jetzt eine willkommene Gelegenheit dazu.

„Frauen und Männer sind gleichberechtigt“. Was für eine einfache, unumstößliche Wahrheit. In einer idealen Welt wäre damit alles gesagt, ja man käme nicht einmal auf die Idee, diesen Satz aufzuschreiben, weil man ihn nicht brauchen würde. Doch er muss im Grundgesetzartikel 3 stehen, weil er für uns in unserer ach so zivilisierten Gesellschaft offenbar nicht normal ist.

Seit Monaten jammern die Männer, sie würden entweder missverstanden oder der letzten Attribute ihrer männlichen Persönlichkeit entkleidet. Sie dürften den Frauen nicht mehr die Tür aufhalten, sie nicht mehr bewundern, nicht mehr mit ihnen flirten und schon gar nicht mehr versuchen, sie zu einem romantischen Spaziergang oder gar einer heißen Nacht zu überreden. Frauen würden inzwischen das Unmögliche verlangen, zum Beispiel in Schweden eine schriftliche Einverständniserklärung zum Sex, und damit würden sie das alte, romantische Spiel geradezu abtöten. Als Mann sei man nur noch entweder eine Drone oder einer, der alle Schuld auf sich laden müsse, die Schuld für Typen wie Weinstein und Wedel, um nur die herausragendsten Vertreter ihrer Zunft zu nennen. Außerdem, so viele Männer, muten die Forderungen der Frauen immer totalitärer an. Zum Beispiel die Sache mit dem Gomringer-Gedicht.

Da ist seit vielen Jahren ein Gedicht von Eugen Gomringer an der Alice-Salomon-Hochschule für Kunst in Berlin angebracht, doch jetzt hat die Hochschule auf Drängen der Studierenden beschlossen, das Gedicht wegen Sexismus zu übermalen. Das ursprünglich spanische Gedicht „Avenidas“ aus dem Jahre 1952 besteht aus 20 aneinandergereihten Begriffen und erzählt von einer Szene auf den Ramblas in Barcelona, die der Dichter Eugen Gomringer in den Fünfzigerjahren beobachtet hat. Sie lauten übersetzt so: „Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer“. Wenn man darin schon Sexismus erblicke, sei dies ein ungerechtfertigter Eingriff in die Kunstfreiheit, und was ist schon schlimm an einem Bewunderer von Frauen? Mit #MeToo hält ein Tugendterror Einzug in unsere freiheitliche Gesellschaft, der sich gegen das Männliche an sich richtet, sagen die bedrohten Männer.

Doch ist das wirklich so? Ist es das, was uns die #MeToo-Debatte sagen will?

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein junger, unerfahrener Praktikant und fangen bei einer Firma an. Es könnte eine Zeitung sein, eine Werbeagentur oder eine Bank, ganz egal. Sie haben eine Chefin, die um einiges älter ist als Sie. Bei der Begrüßung reicht sie Ihnen die Hand und sagt: „Wenn ich etwas jünger wäre, würde ich mit Ihnen schlafen.“ Die anderen Kollegen, die mit im Büro stehen, lächeln verlegen, sagen aber nichts. Sie wissen sofort: Wenn Sie jetzt empört sind, sich wehren, können Sie gleich wieder gehen. Und Sie wissen auch: unterstützung von Ihren Kollegen bekommen Sie nicht, und einige sehen so aus, als hätten Sie um ihrer beruflichen Zukunft willen genau das getan, was Ihnen nur verbal geschehen ist. – Wie: Sie können sich das nicht vorstellen? Sie hätten sich gewehrt? Sie hätten das nicht auf sich sitzen lassen? Oder hätten Sie sich sogar geschmeichelt gefühlt?

Sehen Sie: Das macht den Unterschied zwischen Frauen und Männern in unserer Gesellschaft aus. Nach tausenden von Jahren, in denen der Mann der Frau strukturell überlegen war, bzw. die Macht besaß, vor allem die körperliche und sexuelle Macht, können sich Männer eine Umkehrung der Verhältnisse nicht einmal in ihrem Kopf vorstellen. Und wenn sie es können, dann nur als erotisches Spiel, als Kick, nicht aber als Realität, als Einschüchterung, als systematische Erniedrigung, als Überschreiten der Grenze der Intimsphäre. Solange es aber noch eine Frau gibt auf der Welt, die so einen Satz hören muss, die anerkennende oder missbilligende Blicke ertragen muss, während ein Mann ihren sexuellen Wert einschätzt, solange leben wir nicht in einer gleichberechtigten Gesellschaft, selbst dann nicht, wenn Frauen für gleiche Arbeit gleich bezahlt werden.

Ich verstehe, warum viele Männer in der #MeToo-Debatte schweigen. Für die meisten dürfte es einfach der Wunsch sein, zuzuhören und zu verstehen, sich die erschütternden Wahrheiten unseres Alltags vor Augen zu führen. Denn wirklich selbstbewusste, ehrliche, gute Männer, auch souveräne Männer, haben keine Angst vor dieser diskussion. Angst haben die, die glauben, etwas zu verlieren, wenn sie zugeben, Frauen sexuell missbraucht zu haben bzw. gewusst zu haben, dass Andere es tun und es für normal gehalten zu haben. Manche Männer mögen aus Scham schweigen. Scham darüber, dass sie Frauen nicht beigesprungen sind, als sie mehr oder weniger subtil angemacht wurden, erniedrigt wurden, unter Druck gesetzt wurden. Sie schämen sich für ihren fehlenden Mut, denke ich, vielleicht auch für eine Gleichgültigkeit, die ihnen nun schmerzhaft bewusst wird. Doch ganz sicher schweigen sie nicht, weil böse, mordlüsterne Frauen sie auf totalitäre Weise bedrohen und einschüchtern. Die Sache mit dem Gomringer-Gedicht ist sicher übertrieben, zumindest von meiner persönlichen Warte aus betrachtet, aber ich nenne das einen übereifrigen Einzelfall, wenn es auch vermutlich nicht der Einzige ist.

Natürlich schweigen einige auch, weil es ihnen egal ist, weil sie tatsächliche Verfechter patriarchaler Strukturen sind, aber deren Meinung kann man ohnehin nicht ändern.

Auch ich habe geschwiegen, auch ich habe mich geschämt.

Seit einigen Wochen wollte ich bereits meinen persönlichen Senf zu der Debatte geben, doch ich habe mich immer wieder zurückgehalten. Auch ich hatte Grund, zuzuhören und Scham zu empfinden. Dabei lässt mich das Thema „Männer und Frauen“ seit meiner Jugend nicht mehr los. Die erste junge Frau, in die ich mich verliebte, hatte jahrelang sexuellen Missbrauch erduldet. Naiv, wie ich war, bot ich ihr damals an, ihr die andere, die gute Seite der Liebe zu zeigen. Sie lehnte ab, wir sind nie zusammengekommen, doch unsere Freundschaft blieb zunächst erhalten. Deshalb habe ich mich mit sexuellem Missbrauch intensiv befasst, noch bevor ich auch nur eine Frau geküsst habe oder Hand in Hand mit ihr durch die Straße gegangen bin. Ich habe jede Radiosendung gehört, alles geleesen, was ich damals lesen konnte, was im Internat einer Blindenschule im Alter von 16 nicht viel war. Das Thema hat mich nie wieder losgelassen. Vermutlich aufgrund dieser Erfahrung ist mir jedes männliche Protzgehabe fremd, finde ich es abstoßend und widerlich. Ich habe es immer gemocht, wenn Frauen, denen ich begegnete, stark und selbstbewusst waren. Wieviel reicher ist die Welt, wenn Frauen aus ihrem Geschlecht keine Nachteile entstehen, und wie viel habe ich selbst von intelligenten, gebildeten, selbstbewussten Frauen gelernt.

Aber glauben Sie jetzt bloß nicht, ich möchte mich moralisch über die Männer erheben, deren Verhalten ich verurteile. Als ein Schulkamerad einmal protzte, er werde eine bestimmte Frau mit Leichtigkeit flachlegen, wettete ich mit ihm, dass er sich eine blutige Nase holen würde. Ich glaubte, die entsprechende Frau würde ihn abblitzen lassen, und das würde ihm gut tun. – Ich täuschte mich, und für diese Wette schäme ich mich bis heute. Immerhin habe ich mich bei der Frau entschuldigt, die mir aber verständlicherweise nicht verzeihen konnte. Sie war Objekt einer Wette geworden und hatte geglaubt, der Sex geschehe aus echter Zuneigung. Ich habe dies getan, obwohl ich zuvor die Erfahrungen gemacht hatte, über die ich eben berichtete. Das zeigt, in welch sexualisierter, patriarchaler Gesellschaft wir aufgewachsen sind.

Vielleicht hat nicht jeder Mann Schuld auf sich geladen, und schon gar nicht eine, die so individuell ist wie meine. Viele haben einfach nur in einer Gesellschaft gelebt, in der sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen, die längst nicht immer körperlich sein muss, normal ist. Dabei kann man sich auch Fragen, welches Männerbild wir seit Jahrtausenden zulassen: Der Mann kann nicht anders, er *muss* Frauen erobern und benutzen, es ist seine Natur. – Nein, ist es nicht! – Es ist die Gesellschaft, die allerdings von Männern aufgebaut und durch Männer geprägt und am laufen gehalten wird, die dieses Verhalten fördert.

Ach ja, da ist noch die Sache mit dem Flirten, zu der ich auch noch etwas sagen wollte: Wer sagt eigentlich, dass Flirten verboten ist? Wer sagt eigentlich, dass es verboten sein soll, einer Frau die Tür aufzuhalten, ihr einen Drink auszugeben, sie zu bewundern? Wer sagt aber andererseits, dass es verboten ist, wenn die Frau dem Man die tür aufhält, wenn sie ihm einen Drink ausgibt, wenn sie ihn bewundert, wenn sie ihn abschleppt? Wie wäre es mit der einfachen Grundregel: Geht jemand auf Flirtversuche nicht ein, hat sie oder er kein Interesse! Basta! Schwierig ist nur, wenn schon der erste Flirtversuch tief in die Privatsphäre des Gegenübers eindringt und keine Gelegenheit zu einer freundlichen, vielleicht sogar freundschaftlichen Ablehnung lässt! Flirten ist erlaubt, aber bei grober Anmache muss Mann eben mit einer Ohrfeige rechnen.

Und dann noch die schwedische Einverständniserklärung: Natürlich muss keine Frau in Schweden vor dem Sex schriftlich ihr Einverständnis erklären, das ist wieder so eine Übertreibung alter, weißer Männer. Im grunde ist nur in Gesetzesform gegossen worden, was ohnehin selbstverständlich sein sollte: Sex ist nur dann einvernehmlich, wenn beide Partner vorher ihr Einverständnis erklärt haben, auf eine für beide verständliche Weise. Würden Sie mit irgendeinem Partner oder mit irgendeiner Partnerin ins Bett gehen wollen, der oder die nicht will? Sehen sie: So einfach ist das. Dass es gegen diese Symbolpolitik einen Aufschrei der Entrüstung gegeben hat, lasse ich jetzt einmal unkommentiert stehen. Übrigens: Ich kann mir spielerische Flirtsituationen vorstellen, in denen die Sache mit der schriftlichen Einverständniserklärung ziemlich sexy sein könnte. Gleichberechtigung ist erreicht, wenn auch eine Frau eine solche Erklärung aus der Tasche ziehen und zu ihrem Begleiter sagen kann: „Dann unterschreib mal schön.“

Die #MeToo-Debatte ist eine riesige Chance, unsere Gesellschaft gemeinsam zu verändern. Natürlich müssen wir aufpassen, dass negative auswüchse nicht überhand nehmen, aber das ist unser geringstes Problem. Viel wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass wir in einen Dialog eintreten, einen echten Dialog, kein Gequängel wegen verlorener Besitzstände. Dazu ist es nötig, dass auch die Frauen sich nicht verschließen, dass auch sie reden wollen, dass auch sie eine Veränderung wollen, die uns allen nützt. Das ist bestimmt nicht leicht, und es ist noch viel schwieriger, solange es diese Platzhirsche wie Jens Jessen gibt, die das Gefühl haben, alle Männer würden für die Taten Einzelner verantwortlich gemacht. Er kann offenbar nicht begreifen, dass es darum gehen muss, Strukturen aufzubrechen, weswegen man der Meinung sein kann, dass Reformen nicht reichen, sondern eine Revolution erfolgen muss. Ich jedenfalls wünsche mir eine Gesellschaft, in der jeder Mann und jede Frau so sein darf, wie sie oder er will, ohne befürchten zu müssen, sexuell angegangen, erniedrigt, gedemütigt oder missbraucht zu werden. Der Hausmann leistet ebenso wichtige Arbeit wie die Hausfrau, die Frau, der es Lust macht, zu einem Mann, der sie liebt, aufzuschauen, soll ebenso ihr Glück finden wie der Mann, der einer starken, selbstbewussten Frau die Zügel überlässt. Männlichkeit definiert sich nicht über Prollerei, Grabscherei oder Vergewaltigung. Vielleicht ist eine gewisse Tatkraft meistens männlich, oder vielleicht ein Hang zu gewissen Sportarten. Ich verstehe ja, dass man etwas braucht, womit man sich identifizieren kann, aber ich denke, dass es schwierig wird, wenn es sich um das gesellschaftliche Geschlecht handelt, das man im englischen Gender nennt, im Gegensatz zum Sex, dem biologischen Geschlecht. Das soziale, das gesellschaftliche Geschlecht bietet sich zur Identifikation meiner ansicht nach nicht so gut an, weil es mit Jahrtausenden der Macht und der Gewalt verknüpft ist, oder mit Jahrtausenden der Ohnmacht und der Objektifizierung.

Ich fände es großartig, wenn wir zivilisiert genug wären, diese tausende und abertausende Beispiele für sexualisierte Gewalt, die in einem unglaublichen Akt des Mutes und der Auflehnung an die Öffentlichkeit gelangt sind, zum Anlass zu nehmen, endlich ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Gleichberechtigung und Gleichbehandlung kein Verlust sind, sondern eine ungeheure Bereicherung und eine ungeahnte Entfaltung neuer Lebensentwürfe, Freiheitsversprechen und auch nichtstereotyper, sexueller Begegnungen, wenn wir uns darauf einlassen. Es braucht dazu nur Mut und Einsicht, und dazu sollten doch auch wir Männer in der Lage sein.

Leseempfehlungen:

Jens Jessen: der bedrohte Mann – Leider mit Bezahlschranke

Bernd Ulrich: Mann irrt, eine Antwort auf Jessen – ebenfalls hinter einer Bezaghlschranke

Was darf Mann? – eine Handreichung

Taz: Heißt nein wirklich immer nein?

Dürfen Männer in der Sexismus-Debatte mitreden? („die Zeit“)

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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