Erstkontakt: Meine Rückkehr in die SPD

Als ich vor über 2 Monaten ankündigte, wieder in die SPD einzutreten, haben Menschen, die ich sehr schätze, die Nase gerümpft. Die SPD ist tot, sagten sie, sie hat keine Zukunft mehr, sagten sie, sie hat uns verraten, sagten sie. Unbewusst haben sie damit meinen Entschluss nur noch bestärkt: Die Sozialdemokratie hat keine Zukunft? Wir brauchen eine gemäßigte linke Partei, die nicht in Gefahr gerät, sich vom Extremismus und Populismus anstecken zu lassen, die verschiedene Strömungen einbindet und kanalisiert, auch wenn die so gefundenen Lösungen nicht so radikal sein mögen, wie es sich mancher wünscht. Gestern nun hatte ich mein erstes offizielles Gespräch in der Partei.

Die Vorsitzende meines Ortsvereins und gleichzeitig Ortsvorsteherin des Stadtteils Richtsberg, Erika Lotz-Halilovic, hatte mich eingeladen, um mich kennenzulernen. 43 Minuten lang saßen wir uns in ihrem Büro im Haus des Bewohnernetzwerkes für soziale Fragen (BSF) gegenüber. Von ihr erhielt ich mein Parteibuch, und als sie mich herzlich in der SPD willkommen hieß, geschah es ohne jedes Pathos und mit Freude. Erika Lotz-Halilovic ist eine engagierte Frau, die den oft schwierigen Stadtteil Richtsberg mit seiner Vielfalt an Kulturen und Lebensumständen zu einem lebendigen Ort machen möchte. Der Ortsbeirat arbeitet intensiv daran, kümmert sich um Altenpflege, Fußballplätze, Kulturbegegnungen, Kinderbetreuung, eine gute Verkehrsanbindung und vieles mehr. Trotzdem kümmern sich die Richtsberger wenig um die Politik, erzählte sie mir. Die Wahlbeteiligung war niedrig, und die Zustimmung zur AfD hoch, wenn auch nicht so hoch wie für die SPD. Mir wurde wieder einmal klar, dass die Menschen bei Wahlen die Politik nicht mit den Ereignissen vor Ort identifizieren, sondern fast ausschließlich mit den Parteiführungen in Berlin. Die Probleme aber müssen die Ortsvereine auslöffeln. Ihnen bleiben nicht nur die Wähler weg, sondern ihnen fehlt auch der Nachwuchs. Ich bin jetzt eines der ganz wenigen SPD-Mitglieder am Richtsberg, die jünger sind als 60 Jahre. Was, wenn diese Generation, die jetzt noch so engagiert ist, sowohl in der Stadtteil- als auch in der Parteiarbeit, einmal ausstirbt?

Neben dem Büro der Ortsvorsteherin ist ein Raum, in dem Kleidungsstücke liegen und Hängen, die man kostenlos mitnehmen kann. „Ich gebe Kleider nicht mehr an Altkleidersammlungen“, sagt Erika Lotz-Halilovic, „oft kommen sie doch auf den Müll oder landen wieder auf der Straße. Hier kann jeder gute, gebrauchte Kleider abgeben, und Bedürftige können sie mitnehmen.“ Es seien zunehmend ältere Frauen, die zu ihr kämen, sagt die Ortsvorsteherin.

Es wird Winter, und am Richtsberg gibt es eine kleine Brücke, die, weil es so schön aussieht, mit einem teppichartigen Belag versehen wurde. Wenn es im Winter regnet und dann friert, wird die Brücke sehr glatt. „Du gehst ab wie eine Rakete“, kommentiert Erika Lotz-Halilovic. Im letzten Jahr habe sich schon jemand dort verletzt, und sie versuche nun, das Ordnungsamt dazu zu bewegen, während der Wintermonate ein rutschfestes Material dort ausrollen zu lassen. Das ist alltägliche Arbeit für die Menschen vor Ort, geboren aber aus einer sozialdemokratischen Einstellung und dem Engagement in der SPD, die dazu geführt hat, dass frau Lotz-Halilovic heute Ortsvorsteherin ist und etwas tun kann.

Natürlich haben wir ein paar sätze über die sogenannte große Politik gewechselt. Aber meiner Gesprächspartnerin war es viel wichtiger, mich in die Stadtteilarbeit einzubinden, was leider nur begrenzt meinen Möglichkeiten und Neigungen entspricht. Und doch überlege ich mir, was ich tun kann, denn ich wohne hier und fühle die Verpflichtung, mich wenigstens ein bisschen zu engagieren.

Politik beginnt im Kleinen. Dort werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Menschen ihr Umfeld als lebenswert empfinden. Wenn in den Orten und den Stadtteilen die engagierten Menschen aussterben und wegfallen, wenn sich bald niemand mehr für Ortsvereine der SPD oder anderer Parteien interessiert, dann stockt auch die gemeinsame Stadtteil- und Ortsarbeit, die oft über die Parteigrenzen hinweg funktioniert. Ein Freund von mir sagte: „In der SPD kannst du nur ein Sandkorn sein, das zerrieben wird, oder ein Zahnrad, das sich im System dreht, aber du kannst keine eigenen Visionen verwirklichen.“ Aber das stimmt nicht: Auf die Menschen in den Ortsvereinen und Unterbezirken kommt es an: Sie kümmern sich um die Belange der Stadtteilbewohner, und sie sind es, die die Deligierten für die Parteitage wählen, die eine Veränderung erzwingen können. Die Macht liegt hier unten, wir müssen sie nur ergreifen. Wenn aber die Menschen, die jünger sind als 60 Jahre, die keine Erinnerung mehr an Krieg und Nachkriegszeit haben, zur hippen FDP, zu den nach allen Seiten offenen Grünen, zur halb populistischen Linkspartei oder zur voll faschistischen AfD abwandern, dann schließen bald die letzten Kindergärten und Jugendclubs, dann werden die Kleiderhaken im Büro der Ortsvorsteherin verschwinden, dann häufen sich die Unfälle an Straßen und Brücken, weil niemand sich um solche Kleinigkeiten mehr kümmert. Stattdessen ziehen verunsicherte, ängstliche und hassende Menschen durch die Straßen und brüllen „Ausländer raus“, als ob dadurch auch nur ein einziger Mensch sich mehr für die Bedürfnisse der Mitmenschen vor Ort interessieren würde.

Nach 43 Minuten brachte mich Erika Lotz-Halilovic zum Bus. Sie machte sich auf den Weg zum täglichen lebendigen Adventskalender hier am Richtsberg. Gestern wurde er vom deutsch-osteuropäischen Integrationszentrum gestaltet, heute von der islamischen Gemeinde. Man kommt zusammen, es gibt Getränke oder etwas zu essen, es werden Lieder gesungen, Menschen unterschiedlicher Kulturen treffen sich und feiern Advent. Im Januar oder Anfang Februar werde ich dann an einer Sitzung des Ortsvereinsvorstandes teilnehmen. Ich glaube immer mehr, das die SPD meine politische Heimat ist, und ich kann nur hoffen, dass sie nicht untergeht. Die Folgen davon wird man auch in Berlin spüren, doch die Hauptlast trägt man dann am Richtsberg und an vielen anderen Orten der Republik. Wir haben nur noch wenige Jahre, bis eine neue Generation das Engagement derer übernehmen muss, die noch aus Überzeugung und als Konsequenz aus der Vergangenheit SPD wählten, die die Lebenssituation der wirtschaftlich Schwachen aus eigener anschauung kannten und verbessern wollten. Niemand soll mir sagen, es gäbe heute weniger wirtschaftlich schwache Menschen, deren Lebensumstände einer Verbesserung bedürfen. Wenn man sie auch heute nicht mehr Arbeiter nennt: Sie sind die Menschen, für die sich die SPD einsetzen muss, und die sie für sich und ihre Arbeit gewinnen muss.

Ich bewundere Menschen wie Erika Lotz-Halilovic und all jene, die ich noch kennenlernen werde. Sie sind es, die das Land auf der untersten Ebene zusammenhalten. 43 Minuten Erstkontakt haben mein theoretisches Wissen zu einer praktischen Erfahrung werden lassen. Wenn es mir jetzt noch gelingt, auch persönlich in der SPD anzukommen, werde ich nicht bereuen zurückgekehrt zu sein, auch wenn ich mit vielem, was die Parteiführung in Berlin sagt, nicht einverstanden bin.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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