Sagen, was ist: Gedanken zum Fall Relotius

Die Geschichte mit Claas Relotius, dem lügenden und erfindungsreichen Spiegelredakteur, ist jetzt mehr als einen Monat her und hat die Presselandschaft gar nicht so zerstört, wie erst gedacht worden war. Vor 2 Wochen habe ich für den Ohrfunk einen Kommentar dazu geschrieben, aber vergessen, ihn auf dem Blog zu veröffentlichen. Das möchte ich jetzt nachholen.

Im 12. Stock des Spiegelhochhauses an der Ericusspitze in Hamburg steht ein abschließbarer Kühlschrank. Er ist rund 2 Meter hoch und beherbergt 19 Flaschen edlen Champagners, weitere 31 Flaschen trockenen Qualitätsweins und ganz unten, fast verschämt versteckt, ein prall gefülltes Bierfach. Der Schlüssel zu diesem Kühlschrank wird bei der Amtsübergabe von Chefredakteur zu Chefredakteur weitergegeben. Derzeit befindet er sich kommissarisch im Besitz von Ullrich Fichtner (53), der in diesen Tagen offiziell einer der drei neuen Chefredakteure werden sollte. Allerdings wurde seine Ernennung bis zum Abschluss der internen Ermittlungen wegen des Relotius-Skandals ausgesetzt, weswegen er immer ein wenig gedrückt wirkt, wenn er jeden Tag an diesem Kühlschrank vorüber geht. Dann gleitet sein Blick automatisch zur LED-Anzeige seiner teuren, aber schlicht wirkenden Armbanduhr. Heute ist der 8. Januar. Wenn alles gut geht, kann er schon übermorgen den Schlüssel ins Schloss der Kühlschranktür stecken und in der Redaktion die Korken knallen lassen.

Dabei hatte anfangs alles gar nicht gut ausgesehen für die feiererprobte, trinkfeste Spiegelbelegschaft. Am 19. Dezember war das „Sturmgeschütz der Demokratie“ heftig ins Wanken geraten, als man die massiven Fälschungen des Gesellschaftsreporters Claas Relotius, eines vielfach preisgekrönten Jungspunts von 34 Jahren, selbst öffentlich machen musste. Relotius hatte herzzerreißende Geschichten über syrische Kriegswaisen, amerikanische Bürgerwehren, geläuterte Guantanamohäftlinge, Hinrichtungstouristinnen und kleinstädtische Trumpwähler erzählt. Leider war fast nichts davon wahr, und der normalerweise viel gepriesenen spiegelinternen Dokumentationsabteilung war es nicht aufgefallen.
„Er hat uns geblendet“, sagt Fichtner und fügt nach einer kurzen Pause widerstrebend hinzu: „Und wir haben uns blenden lassen.“

Als die Märchen von Claas Relotius öffentlich wurden, als sich die kleinstädtischen Trumpwähler, die alles andere waren, nur keine Fanatiker, lauthals und selbstbewusst beschwerten, ging die Angst um unter den Redakteuren des Spiegel, und nicht nur dort. Die Branche sei schwer getroffen, raunte es blattauf blattab, und allenthalben sprach man vom gefundenen Fressen für die, die seriösen Zeitungen schon lange den Vorwurf der „Lügenpresse“ machen.

Doch gerade die sind auffällig still geblieben.
„Das hatten wir nicht erwartet“, gibt Ullrich Fichtner zu und zieht an seiner Zigarre. Nachdenklich wiegt er den Kopf. „Vielleicht lesen die Pegida- und AFD-Anhänger einfach zu gern selbst solche Geschichten, wie Herr Relotius sie verfasst hat“, vermutet er. Natürlich nannte er seinen Protege früher einfach Claas und klopfte ihm fast täglich auf die Schulter. Fichtner war einer der Redakteure, die Relotius ermunterten, noch mehr zu schreiben, noch mehr Preise einzuheimsen, um den Ruf des Spiegel in der Fachwelt zu vergrößern. Jetzt gibt er sich geläutert und geknickt.
„Andererseits“, fährt er nach einer Pause fort und streicht sich nachdenklich mit der linken Hand über die Wange, „Unsere Geschichten sind viel zu komplex für den durchschnittlichen rechten Troll.“ Es sind die Gedanken eines Mannes, der langsam wieder zu hoffen beginnt, dass sein Arbeitgeber vielleicht doch relativ ungeschoren aus dieser Misere heraus kommt. Die Verlagsleitung hat ihm signalisiert, dass er den großen, verschließbaren Kühlschrank öffnen darf, wenn 14 Tage lang keine neuen Skandale über Claas Relotius mehr ans Licht gekommen sind, und wenn die Gemüter sich beruhigt haben. Am Donnerstag wäre es dann so weit. Dann haben Fichtner und seine Kollegen 14 Tage lang relativ abstinent gelebt, und das mitten in der trinkfreudigsten Jahreszeit der Festtage. Das war eine bittere Strafe für das Versagen im Fall Relotius. Doch in zwei Tagen könnte der Spuk vorbei sein.
„Allein schon wegen der Getränke, die wir uns vorenthalten müssen, ist es jetzt dringend notwendig, dass so etwas nie wieder passiert“, stellt Ullrich Fichtner fest. „Außerdem: Wenn ich nicht zum Chefredakteur ernannt werde, bedeutet das einen Karriereknick, und das nur wegen Herrn Relotius. Das wäre nun wirklich nicht fair.“ Ob er da nicht ein bisschen hart urteilt? Fichtner schüttelt den Kopf.
„Ich bin dem Spiegelmotto verpflichtet“, sagt er und nimmt eine feierliche Pose ein: „Sagen, was ist! Das hat Rudolph Augstein verlangt. So denken wir alle. Und die Wahrheit ist: Der Edelchampagner nach Abschluss einer erfolgreichen Spiegel-Titelgeschichte ist mir heilig. Und ich werde nicht ruhen, bis ich den Kühlschrank wieder öffnen darf.“

Es ist wunderbar, wenn man Geschichten erzählen kann. Natürlich ist meine Geschichte vom Kühlschrank im Spiegelhochhaus und von der trinksüchtigen Spiegelredaktion ebenso frei erfunden wie die Geschichten von Claas Relotius. Der Punkt ist, dass Geschichten den Lesern und Hörern näher kommen, als es nüchterne Zahlen und Fakten je vermögen. Es sind die gut erzählten Geschichten, die uns die Möglichkeit geben, uns in Flüchtlinge, Soldaten, Waisenkinder, Gefangene, Polizisten, Henker und andere interessante Menschen hinein zu versetzen. Sie erzeugen Gefühle, lassen uns an dem Teilhaben, was der Reporter, der für uns die Geschichten sammelt, erlebt oder zumindest gefühlt hat. Natürlich sind diese Geschichten subjektiv, aber sie vermitteln Stimmungs- und Situationsbilder, lassen uns einzelne Menschen erleben statt seelenloser Statistiken. Und darum ist der Verrat, den Claas Relotius begangen hat, auch besonders bitter, ja fast intim. Er hat nicht unseren Glauben an die Wahrheit verraten, oder nicht nur, sondern unsere Fähigkeit zur Empathie missbraucht, unser Herz und unsere Seele verletzt. Es ist kein schönes Gefühl zu erfahren, dass Claas Relotius vermutlich für einige seiner erfundenen Figuren sogar Spendengelder eingesammelt hat. Das macht die erschütternde Dimension aus: Claas Relotius hat zumindest mich dazu gebracht, auch Mitgefühl und Zuwendung zu portionieren und sehr kritisch zu hinterfragen.

Die Reportage ist der Teil des Journalismus, wo der Reporter der Literatur am nächsten kommt. Es ist jene journalistische Ausdrucksform, mit der man die Gefühle der Menschen anspricht, die Vorstellungskraft bedient und anregt. Die Bildzeitung, um nur ein Beispiel zu nennen, bedient sich oft des Mittels der Reportage, doch sie wird auch von seriösen Medien eingesetzt, um Menschen ein komplexes Thema zu eröffnen, um ansatzweise erfahrbar zu machen, was in für sie fremden Weltgegenden geschieht, wie das Leben unter fremden Bedingungen funktioniert. Es bedarf großer Verantwortung, eine Reportage zu schreiben, denn sie ist auch am einfachsten für Manipulation zu nutzen. Insofern ist es verständlich, dass diejenigen, die sonst Lügenpresse schreien, im Falle Relotius auffallend still geblieben sind. Denn gerade die rechte Propaganda bedient sich der Reportage, weil sie so wunderbar einfach Gefühle erzeugen, Stimmungen manipulieren kann, wenn jemand sein Handwerk versteht.

Claas Relotius verstandd sein Handwerk. Und wenn auch die aktuellen Ereignisse diesen Skandal zu verdrängen beginnen, was den Spiegel nur freuen kann, so ist die journalistische Zunft wohl doch stärker beschädigt, als es jetzt den anschein hat. Denn gerade die Propagandisten haben einiges aus dieser Affäre gelernt: Man kann Geschichten erfinden, in denen alles zusammenpasst, die geradezu perfekt sind, wo immer an der richtigen Stelle Musik ertönt, wo selbst die Flüchtlingskinder immer das richtige Lied kennen, wo der Reporter genau zum richtigen Zeitpunkt vor Ort ist, um einem Schlüsselerlebnis beizuwohnen. Wenn man diese Geschichten nur spannend genug erzählt, dann kommt niemand auf die Idee, dass sie erfunden sein könnten. Dann gewinnt man dafür sogar noch Preise und wird hoch gelobt. Das kann man sich zunutze machen.

Natürlich bleibt die Frage nach dem weiteren Leben des Claas Relotius auf der Strecke. Warum hat er Geschichten erfunden, warum hat er nicht sorgfältig recherchiert? Es sei nicht die Gier nach immer besseren Stories gewesen, sagt er selbst, doch er habe den Druck gespürt, das für ihn bezahlte Spesen- und Reisegeld zu rechtfertigen. Auch darüber müssen wir nachdenken. Journalismus unter Kostendruck und mit dem Anspruch, kritisch und aufklärend zu sein, das geht auf die Dauer nicht zusammen. Wenn Journalisten aufklären sollen, dann brauchen sie bessere Arbeitsbedingungen.

So könnte es sein, dass der fiktive Kühlschrank auf der Etage der Chefredaktion im Spiegel zwar demnächst geöffnet werden kann, dass der Champagner daraus allerdings bitter schmeckt, und zwar für sehr lange Zeit.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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