Mut zur Wahrheit: Für eine gute Freundin

Dieser Beitrag handelt vom Mut zur Wahrheit und wie diese Wahrheitsliebe anderen Menschen Mut macht. Es ist ein kleiner, persönlicher Beitrag, aber ihn nicht zu schreiben hätte bedeutet, nicht dankbar zu sein, und ich bin dankbar.

Die Frau, über die ich schreibe, wohnt in einer relativ kleinen hessischen Stadt. Sie würde selbst von sich behaupten, nicht viel von Politik zu verstehen. Sie ist zweifache Mutter, hat schon viele Berufe ausprobiert, war bei der Feuerwehr und fuhr Motorrad. Sie singt, hat eine lange Krankheitsgeschichte und gibt trotzdem nicht auf. – Und sie ist eine gute Freundin. Mehr von ihr zu schreiben wäre schön, aber wer weiß, wem dieser Beitrag in die Hände fällt. Heute ist man schnell mit Häme und Hass zur Hand, und es ist das Letzte, was ich auslösen möchte.

Denn was sie vor allem auszeichnet, das ist ihre Zivilcourage. Nein: Sie rettete keine hunderttausend Menschen vor einer Brandkatastrophe, sie gab auch nicht ihr Leben, um andere zu retten. Sie ist einfach sie selbst, und das ist heute schon schwierig genug.

Irgendwann im August haben wir uns in einer kleinen Gruppe einmal darüber unterhalten, dass wir jetzt alle unsere Demokratie verteidigen müssen, dass wir die Wahrheit sagen müssen, dass wir nicht schweigen dürfen, wenn die pöbler brüllen und drohen, wenn sie mit Nazisymbolen winken und Menschen, die anderer Meinung sind, einschüchtern wollen. Wir sprachen davon, dass es an jedem von uns liegt, dass viel zu viele den Mund halten, wenn die Rechten auf sozialen Netzwerkenhetzen. Unsere Freundin hat sich dies mit ihrem eigenen Sinn für Pragmatismus zu Herzen genommen. Auf Facebook begann sie, den Coronaleugnern und
Nazisympathisanten zu widersprechen, wenn sie ihre Thesen verbreiteten. Sie appellierte an Vernunft, wenn man ihr krude Behauptungen vorbetete. Freundlich aber klar vertrat sie ihre Standpunkte: Wer mit Nazis marschiert, der ist Nazi, zumindest wenn er oder sie sich nicht beim Anblick der Reichskriegsflagge distanziert. Wer die Gefährlichkeit des Coronavirus leugnet und keine Masken trägt und keinen Abstand hält, der missachtet die Sicherheit anderer Menschen. Sie fragte nach Gründen, wenn aber Anti-Merkel-Thesen oder die Behauptung aufkam, Corona sei nicht gefährlich, sprach sie von ihren Verwandten in Spanien und Italien, von den Krankheiten und den Todesfällen, um die Menschen mit Berichten aus dem persönlichen Umfeld zu überzeugen. Sie wusste, was das für Folgen haben konnte. Und richtig: Einige langjährige Freund*innen wandten sich von ihr ab, brachen den Kontakt ab.

Ich habe viele Menschen erlebt, die den Drahtseilakt begehen wollen zwischen der eigenen Meinung und der Freundschaft ihrer inzwischen abgedrifteten Mitmenschen und Verwandten. Sie schweigen meist, wenn ein erster Überzeugungsversuch nicht gelingt. Ihnen ist der persönliche Kontakt, der heute ja auch keine Selbstverständlichkeit mehr ist, wichtiger als das unbedingte Beharren auf der Wahrheit. Nicht so bei unserer Freundin. Freundlich und ruhig sagt sie im Hexenkessel des sozialen Netzwerks ihre Meinung, bleibt sich, der Wahrheit und damit auch der Demokratie treu, verteidigt sie durch Wahrhaftigkeit und nimmt dafür den Verlust von Menschen in Kauf, die fast schon immer zu ihrem Leben gehörten.

Und natürlich stimmt es nicht, dass sie nichts von Politik versteht. Sie weiß, was richtig und was falsch ist. Sie weiß, was im Falle einer Verstärkung des Faschismus passiert. Dagegen spricht sie sich aus, schaut Videos von Demonstrationen, recherchiert zu vermeintlicher Polizeigewalt gegen Rechtsextreme und hat keine Angst, den Pöblern ruhig zu sagen, was sie denkt. Und manchmal, wenn eine Chatgruppe von Freunden nur aus Schreihälsen und leisetretern besteht, dann verlässt sie diese Gruppe auch, wenn niemand ihr beiseite springt.

Vor allem aber, und das ist das Wichtigste, macht sie Mut. In den letzten Monaten hab ich mich oft gefragt, was man gegen die zunehmende Gesprächsaggression unternehmen kann, wenn Vernunftargumente einfach nichts mehr zählen, wenn QAnon und die anderen Verschwörungserzählungen immer und überall am lautesten schreien. Verbal gegen Windmühlenflügel anzukämpfen, das ermüdet auf die Dauer. Und wenn es schon mir so geht, dann kann man ermessen, wie es echten Zielscheiben der rechten Meute gehen muss, gerade Frauen, die oft noch mit persönlicher und sexueller Gewalt bedroht werden. Und dann steht da plötzlich jemand, die einfach, klar, deutlich, unpolemisch, politisch ungeschult ihre eindeutige Meinung vertritt, eine Meinung voller Mitmenschlichkeit und Vernunft. Sie zeigt mir, dass es sich lohnt, weiterzumachen, denn noch leben wir in einem Staat, in dem man seine Meinung sagen kann, einem Staat, den es bei allen Fehlern, die er hat, zu erhalten lohnt, bei dem es an uns liegt, ihn zu verbessern. Dazu braucht es Haltung. Kein Wegducken wie: „Du hast deine meinung, ich hab meine, und die stehen nebeneinander.“ Dort, wo es eindeutige Fakten gibt, ist auch eine Wahrheit. Der Mond ist nicht aus Käse, die Hakenkreuzfahnen und die Hitlergrüße werden tatsächlich gezeigt, an Corona sterben wirklich viele Menschen. Es lohnt sich, diese Wahrheit zu sagen, auch wenn man dabei Freunde verlieren kann. Es gibt Kraft, wenn man andere Menschen kennenlernt, die das auch so sehen. Unsere Freundin ist dafür ein wunderbares Beispiel. Sie sagt mir: Wir dürfen nicht aufgeben und schweigen. Das gibt Kraft, denn allein schon zu wissen, dass es doch immer noch Menschen, auch in meinem persönlichen Umfeld, gibt, die sich nicht nur über den jetzigen Zustand beklagen, sondern ihn auch aktiv ändern wollen, macht Mut. Und diese Kraft und den Mut zur Wahrheit gibt sie nicht nur mir, sondern auch den schweigenden und unsicheren Mitleser*innen von Debatten in sozialen Netzwerken. Indem sie die Pöbler nicht unwidersprochen ihren Hass ausgießen und ihre Lügen verbreiten lässt, hilft sie ganz einfach denen, die eingeschüchtert sind, oder die sich in einem so aufgeheizten Klima nicht zu sprechen trauen. Sie hält die Stimme der Fakten und der Vernunft aufrecht.

Kämpfen wir also für die Wahrheit und für ein land, in dem es sich zu leben lohnt.

Danke für deine mutmachende Freundschaft

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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