Gedanken eines mütenden, mittelalten Mannes

410 Tage dauert in Deutschland offiziell bereits die Corona-Pandemie, und wir können es alle nicht mehr hören. Das vollständige Versagen von Politik und Wirtschaft, die Abstumpfung großer Teile der Bevölkerung, der Verlust von Solidarität und Empathie sindProbleme, die weit über die Pandemie hinaus wirken und andauern werden.

Ich bin ebenso mütend wie viele andere Menschen in Deutschland auch. Mütend ist ein Kunstwort, das sich aus „müde“ und „wütend“ zusammensetzt. Es beschreibt recht gut eine Gefühlsmischung, die immer mehr um sich greift. Wir können und wir wollen nichts mehr hören von der Corona-Pandemie, wir halten uns fast automatisch an die Maßnahmen, die derzeit gelten, soweit wir sie verstehen und nachvollziehen können. Täglich werden wir von den Todes- und Infektionszahlen, von R- und Inzidenzwerten ereilt, doch sie entlocken uns kaum noch ein Gefühl jenseits eines bitteren Zynismus, der uns heimsucht wie ein Krebsgeschwür, und der auf mittlere Sicht die Empathie und das Mitgefühl abtötet, wenn wir uns nicht bewusst dagegen auflehnen. Und dieses Auflehnen kostet Kraft, denn es ist kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen, kein Ende zu erkennen. Gestern hörte ich im Radio den Satz: „Munter werden Bauprojekte in der Großstadt geplant, obwohl nicht einmal sicher ist, dass unsere Cities die Pandemie überleben werden.“ Dieser Satz kam einfach so und regte mich beim ersten Hören nicht einmal auf, ich musste es mir noch einmal vergegenwärtigen, um mir darüber klar zu werden, dass hier vom Ende unserer sogenannten modernen Zivilisation gesprochen wird. Wie um alles in der Welt hat es so weit kommen können?

Es hat wenig Sinn, jedes einzelne Versagen unserer politischen Entscheidungsträger*innen aufzuzählen, sich wieder und wieder über die rücksichtslosen Egoist*innen aufzuregen, die ohne Masken demonstrieren und damit den Rest der Bevölkerung gefährden, während die Anderen sich aller sozialen und mitmenschlichen Kontakte enthalten. Während täglich hunderte Menschen an Covid-19 sterben, spielen unsere Politiker*innen das Spiel von Macht und Einfluss, streiten und kämpfen um die Kanzlerkandidatur, als hätte niemand eine andere Sorge. In den Schulen wird der Präsenzunterricht angeordnet, wobei sich die zu großen Leistungskurse einen Lehrer teilen müssen, was vorher beim Videounterricht nicht nötig war. Und in einem Landkreis erkranken alle 78 Schulbusfahrer an Covid-19. Das ist an Widersinn nicht zu übertreffen, weswegen jetzt endlich der Bund reagiert und der Ministerpräsident*innenkonferenz das Ruder aus der hand nimmt. Das Infektionsschutzgesetz wird ergänzt. Sollte die Politik endlich aufgewacht sein?

Natürlich nicht. Das Vertrauen in die Politik ist inzwischen so weit gesunken, dass mich nicht überrascht, was ich über das neue Gesetz lesen muss. Eine Notbremse soll es erst bei einem Inzidenzwert von 100 und mehr geben, obwohl Wissenschaftler*innen einen Wert unter 10 fordern, um die Gesundheitsämter wieder in die lage zu versetzen, jede einzelne Infektion nachverfolgen zu können. Und worin wird diese Notbremse bestehen? Natürlich in einer ausgangssperre zur Nacht. Im Büro und in der Schule gibt es weiterhin selbst im schlimmsten Fall keine Einschränkungen, doch der kleine, private Abendspaziergang, bei dem man gut darauf achten kann, keinem Menschen zu begegnen, der wird verboten. Die Wirtschaft jubelt, weil ihre Gewinnmargen nicht einbrechen, CDU-Bundestagsabgeordnete verdienen Millionen am Geschäft mit dem Tod und mit den Masken, die Polizei bestraft People of Colour, weil schwarze FFP2-Masken unter das Vermummungsverbot fallen, weiße jedoch nicht. Die Bundesnotbremse soll auch nur Wahlkampfhilfe für die Union sein, wenn Arbeitsleben und Wirtschaftsgewinne nicht angetastet werden.

Ich wünsche mir eine Notstandsregierung aus Wissenschaftler*innen, ein Bedingungsloses Grundeinkommen, flächendeckenden Fern-Unterricht, verpflichtendes Homeoffice, Verbot der Auslandsreisen, unbürokratische Hilfen für kleine und mittelständische Unternehmen und Familien, gute Arbeitsbedingungen und ausreichenden Lohn für Pflege- und Gesundheitspersonal und hohe Strafen für die Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung.

Doch vor allem wünsche ich mir, dass alle Patente auf Impfstoff gegen Covid-19 verboten werden, dass alle Länder der Erde gleichmäßig mit Impfstoff zu möglichst günstigen Preisen versorgt werden. Denn wir können uns hier noch so sehr anstrengen: Ohne Solidarität mit anderen Ländern, mit den Ärmsten der Armen, werden auch wir nie wieder das von uns so sehr herbeigesehnte sogenannte normale Leben zurückgewinnen. Das müsste in einer globalisierten Welt doch allen klar sein.

Aber wer sagt das wem? Ich bin nur ein mütender mittelalter Mann, dem so langsam die Puste ausgeht.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Gedanken eines mütenden, mittelalten Mannes

  1. Lieber Jens Bertrams, ich bin genau so „mütend“ wie Sie. Hier zeigen sich aber auch die Grenzen unseres Gesellschaftssystems. Gewinnorientierte Wirtschaft ist nie zum Wohle der Gemeinheit. Die Skandale mit den Masken und der Betrug beim Handel mit Impfstoff sind für mich „Systemrelevant“.
    Ich lese regelmäßig Ihren Blog. Wir hatten auch schon näheren Kontakt wegen eines Artikels,den ich im Kabarett aufführen wollte. Was bei mir einwenig Unwohl beim lesen der letzten Blog’s auslöst ist das unsinnige Gentern. Hier wir auch nur ein Scheinkampf geführt, der keiner Frau zu mehr Gleichberechtigung verhilft. Beim lesen eines gegenterten Textes bekomme ich immer würgereize. Oft verliere ich den Inhalt, bzw dden Sinn des Satzes. Der Klang und die Schönheit der Sprache gehen verloren. Ein * kann man nicht sprechen. Sie schreiben so gut. Verschandeln Sie nicht Ihre Texte mit solchem Blödsinn. Mit vielen Grüßen Lothar Petersen

  2. Lieber Lothar Petersen, vielen Dank für die netten Worte. Auf das Gendern werde ich noch mal in einem Extraartikel eingehen, dann können wir gern darüber debattieren, wenn Sie wollen.

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