Wie erkennt man Fakes? – Annalena Baerbock und die Witwenrente

Der Wahlkampf hat begonnen, und ich fürchte, es stehen uns harte Monate bevor. Inzwischen führen viele diesen Wahlkampf durch die Diffamierung der politischen Gegner, anstatt mit eigenen Ideen zu überzeugen. Skandalöse Behauptungen fliegen umher, und ich möchte zeigen, wie man schnell und mit wenig Aufwand wahre von unwahren Behauptungen unterscheiden kann.

Vor ein paar Tagen unterhielt ich mich mit einem netten, hilfsbereiten Bekannten über Fußball. Plötzlich sagte er: „Habt ihr das auch schon gehört? Annalena Baerbock will die Witwenrente abschaffen und das Geld den Ausländern geben, hat sie selbst gesagt.“
Meine sofortige Reaktion war: „Das ist ein rechter Fake.“ Die Website „Volksverpetzer“ bestätigte mir das gestern. So erfuhr ich, dass die Behauptung im Netz empört aufgenommen und tausendfach geteilt wurde. Und ich habe mich gefragt, warum man so eine plumpe Fälschung nicht erkennt. Immer wieder höre ich von Menschen, die alles kritisch hinterfragen, dass doch vielleicht etwasdran sein könnte, dass man doch nicht von vorneherein wissen kann, ob es war oder gelogen ist. Doch das ist Unsinn. Binnen einer Minute kann man sich Klarheit verschaffen, und ich erzähle Ihnen gern einmal, wie ich selbst dabei vorgehe.

Erste Probe: Was sagt der gesunde Menschenverstand?

Gehen wir für einen Moment einmal davon aus, dass alles möglich ist. Wenn Annalena Baerbock tatsächlich so etwas gesagt haben sollte, dann stellt sich die Frage nach dem Grund. Was wollte sie damit erreichen? Schon bei dieser Frage entlarven sich die meisten Skandalbehauptungen selbst. Denn wenn man eines unseren – nach rechter Meinung – korrupten Politiker*innen nicht vorwerfen kann, dann ist es Dummheit. Wie könnte diese krachende Aussage also Frau Baerbock nützen? Die Abschaffung der Witwenrente träfe die älteren Menschen hart, die ehemaligen Hausfrauen und die ehemaligen Berufstätigen gleichermaßen. Jede und jeder hat in der eigenen Familie, im Bekanntenkreis und im weiteren sozialen Umfeld Menschen, die auf die Witwenrente angewiesen sind. Breite Zustimmung unter der Wahlbevölkerung würde sich Frau Baerbock mit einer solchen Ankündigung also nicht sichern. Die ominösen Ausländer, von denen man ja nicht einmal weiß, wen sie damit genau meint, könnten ihr es jedenfalls nicht danken, die dürfen nämlich nicht wählen, und sie könnte dieses Vorhaben nur umsetzen, wenn sie gewählt würde. Eine solche plumpe Aussage wäre also schon von Anfang an ein klassisches, nicht gutzumachendes Eigentor.

Aber selbst wenn man einmal annimmt, Frau Baerbock hätte so eine Ungeheuerlichkeit wirklich vor, muss man sich gleich die nächste Frage stellen: Wie will sie das denn umsetzen? Um die Witwenrente abzuschaffen reicht es nicht aus, dass sie Bundeskanzlerin wird, sie muss ein Gesetz ändern und benötigt dazu die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat. Dort sitzen überwiegend ältere Deutsche, die genau wissen, dass die Witwenrente notwendig und gut ist, sie kennen wie gesagt selbst Frauen, die eine solche Leistung beziehen. So ein Gesetz würde nie mit der entsprechenden Mehrheit verabschiedet, keine Regierung, die wiedergewählt werden will, könnte das auch nur ansatzweise versuchen. Unddann gibt es ja auch noch ein Verfassungsgericht, das eine solche Maßnahme auch nicht durchgehen lassen würde, weil eine große Gruppe von Menschen plötzlich ohne eigene Grundversorgung sein würde.

Ganz sicher wäre eine solche Aussage das Ende der politischen Karriere von Annalena Baerbock.

Zweite Probe: Was sagt Google?

Sind wir bis hierher noch nicht überzeugt, dass die Behauptung kompletter Schwachsinn ist und nur dazu gedacht war, Unfrieden zu stiften, eine Empörungswelle und Gewalt zu schüren, sollten wir nun den Inhalt überprüfen:

Was soll Annalena Baerbock eigentlich genau gesagt haben?
In Facebook-Postings findet sich ein Bild, auf dem die Kanzlerkandidatin der Grünen zu sehen ist. Daneben kann man folgenden Text lesen: „Frau Baerbock: „Witwenrente abschaffen“
Die Witwenrente ist ein Relikt aus der militanten Vergangenheit Deutschlands. Damit sollten die Frauen von, im Krieg getöteten, Soldaten vor sozialer Verelendung geschützt werden. Heute sind unsere Frauen selbstbestimmt und finanziell nicht mehr von Ihren Männern abhängig. Diesem Umstand sollten wir Rechnung tragen. Dieses Relikt aus einer anderen Zeit gehört abgeschafft. Mit den 1,5 Mrd. eingesparter Mittel könnten wir viel für die Integration von Flüchtlingen tun.“
Es fällt sofort auf, dass nicht zu erkennen ist, wann, wo und zu welchem Anlass Frau Baerbock ihre Aussage gemacht hat. Bei journalistisch recherchierten Nachrichten werden diese Angaben immer gemacht, es gehört absolut zum Grundhandwerkszeug jedes Journalisten und jeder Journalistin. Geben wir den Text nun in eine Google-Suche ein, finden wir keine Textquelle außer einem Faktencheck der österreichischen Fakejäger-Plattform Mimikama, der das Bild eine Fälschung nennt. Dabei erfahren wir übrigens auch noch, das die sogenannte Witwenrente eigentlich Hinterbliebenenrente heißt und auch Männern zusteht. Als Text in einer Rede, einem Interview oder einem Artikel finden wir das Bild nirgendwo. Woher hat also die ominöse Facebook-Quelle dieses Bild? Hat Frau Baerbock die Aussage der verbreitenden Person gegenüber privat getätigt?

Um eine Aussage wenigstens ansatzweise zu bestätigen sind mindestens zwei voneinander unabhängige Quellen nötig. Wenn jemand ein Bild postet und eine weitere Person das Posting weitergibt, so sind das keine zwei Quellen, sondern immer noch nur eine. Selbst wenn das Bild oder die Aussage auf zwei Facebook-Seiten gleichzeitig auftaucht, kann man nicht unbedingt von zwei voneinander unabhängigen Quellen sprechen. Mehrere Quellen garantieren eine Form von Allgemeinheit, von Öffentlichkeit. In diesem Falle ist die Situation allerdings ganz einfach: Da Frau Baerbock die Aussage – wie das Bild suggeriert – öffentlich getätigt haben soll, kann man bei ihrer Partei und ihrer Pressesprecherin nachfragen. Die Antwort, die man erhält, ist eindeutig: „Dieses Zitat ist schlicht und einfach gefälscht“, schreibt die Pressesprecherin öffentlich auf Twitter. Außer dem Bild gibt es schlicht keine Textstelle im Netz, wo man das Zitat nachlesen kann, die Person, die das Bild zuerst gepostet hat, ist die einzige Quelle. Und doch verbreitet sich die Falschmeldung in Windeseile in den sozialen Netzwerken und sorgt für Zündstoff im Wahlkampf. Es ist nicht die erste Falschaussage, die Annalena Baerbock untergeschoben wird. Vor ein paar Wochen wurde behauptet, sie wolle alle Haustiere abschaffen, um gegen den Klimawandel und Umweltverschmutzung vorzugehen. Auch gegen diese Behauptung hat sich Frau Baerbock öffentlich zur Wehr gesetzt, aber natürlich hält sich die Lüge unter den Wutbürger*innen beharrlich.

Bleibt die Frage, warum solche Falschmeldungen bewusst verbreitet werden? Der von mir eben bereits angesprochene Faktencheck auf Mimikama erklärt es so:
„Bei dieser Fälschung haben wir es mit einer Falschmeldung zu tun, die gleich auf verschiedenen Ebenen wirkt. Einmal wird ein klassisches Narrativ bedient, dass die Grünen dem deutschen Volk schaden wollen. Und zwar nur dem deutschen Volk. Daher geht es hier um die Witwenrente. Diese steht auf der Metaebene für die deutsche Bevölkerung. Gleichzeitig wird ein zweites Narrativ bedient, nämlich dass die Grünen eine Art Bevölkerungsaustausch herbeiführen wollen bzw. dass Migranten bevorzugt werden. Daher sollen laut Fake die eingesparten Gelder für Migranten und deren Integration ausgegeben werden…
Interessanterweise spielt es häufig für viele Menschen gar keine Rolle, dass es sich um eine Falschmeldung handelt. Wir lesen regelmäßig abwehrende Sätze wie „hätte aber sein können“ oder „zuzutrauen ist es ihnen“. Diese Aussagen bestätigen, dass die Narrative so sehr wirken, dass selbst absurde Falschmeldungen (wie die über Abschaffung der Witwenrente zugunsten der Integration) für absolut plausibel gehalten werden.“

Rechte Fakes spielen mit der leicht zu entflammenden Empörung der Menschen, die inzwischen allen Politiker*innen jede Ungerechtigkeit zutrauen. Genau mit diesen Falschaussagen wird das Vertrauen in demokratische Entscheidungsträger*innen und Prozesse zerstört, denn was die rechten wollen, ist ja keine Demokratie, sondern ihre eigene Willkürherrschaft undDiktatur. Wer eine solche Aussage wie die angebliche Abschaffung der Witwenrente liest, fühlt sich im Innersten selbst betroffen und reagiert mit Wut und Empörung. Der Stich, das Gefühl, verraten worden zu sein, setzt genau jenes kritische Denken außer Kraft, das gebraucht würde, um den Wahrheitsgehalt einer solchen Aussage zu überprüfen. Und überprüfen kann man so etwas. Man kann damit anfangen, selbst zu denken, sich zu fragen, was diese Aussage der Politikerin nützt, ob es logisch ist, dass sie sie tätigt, wie sie sie denn bitteschön umsetzen will und warum. Und dann kann man versuchen, unabhängige Quellen zu finden, die berichten, wann, wo, in welchem Zusammenhang diese Aussage getätigt wurde. Bei allen öffentlichen Auftritten sind immer Pressevertreter*innen dabei, und die würden sich so etwas nicht entgehen lassen, und sei es nur, weil es Geld und Quoten bringt, wenn man schon nicht an die Wahrhaftigkeit des Journalismus glauben möchte.

Die rechten Trolle haben sich nun auf Annalena Baerbock eingeschossen. Der Grund dafür dürfte kaum in einer sachlichen Auseinandersetzung mit der politischen Gegnerin liegen. Sie wissen genau, wen sie mit einem solchen Fake verunsichern und wen sie wütend machen und anstacheln können. Verunsichert werden ältere Menschen, die entweder Hinterbliebenenrente beziehen oder bald möglicherweise davon werden leben müssen. Die Wut wird vor allem bei jenen Männern hochkochen, die sich von jungen, dynamischen Politikerinnen verdrängt sehen, die sich für die Verlierer der Einwanderungsgesellschaft halten und teilweise mit latentem Frauenhass ohnehin das Reservoir rechter Parteien bilden. Es wird gar nicht erst versucht, einen inhaltlichen Wahlkampf zu führen, schon gar nicht gegen eine Frau.

Während der Zeit des Wahlkampfes werden wir immer wieder haarsträubende Aussagen hören und lesen. Oft helfen aber ein kurzes Nachdenken und ein wenig Recherche, um sich Klarheit über den Wahrheitsgehalt der Aussagen und die Intention der Urheber zu verschaffen. Nicht immer ist es so einfach wie im Falle des hier beschriebenen Fakes. Manchmal muss man sich darüber Gedanken machen, welchen unterschiedlichen Quellen man vertraut, manchmal muss man Aussagen miteinander vergleichen. Doch im Grunde leben solche Empörungsfakes von der Ungeheuerlichkeit einer Aussage, die man nur bei einer Quelle findet und die den angeblichen Urhebern in keiner Weise nützt. Das sind deutliche Hinweise auf eine Fälschung.

Lesen Sie hier den Faktencheck von Mimikama

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Wie erkennt man Fakes? – Annalena Baerbock und die Witwenrente

  1. Christian Ohrens sagt:

    Ich glaube, bei keiner anderen Bundestagswahl wie der Bevorstehenden war bzw. ist es so elementar wichtig, sich mit diesem Thema der Fakeverbreitung auseinanderzusetzen!

    Dein Beitrag zeigt hier sehr exemplarisch, woher solche Fakes kommen könnten und gibt auch gleichzeitig Interessierten ein Handwerkszeug an die Hand, um selber auf einfachste Weise solche Aussagen zu entlarven. Sehr wichtig, denn ich denke, viele sind – trotz dass wir im Internetzeitalter leben – immer noch recht „hilflos“, was dieses Thema anbelangt. Davon kann ich mich natürlich auch nicht immer komplett lossagen, manche Sachen scheinen so abstrus, dass man automatisch ein Fünkchen Wahrheit vermutet.

    Vielen Dank!

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