Corona-Katastrophe: Dann hätten ja die Anderen gewonnen

Den folgenden Beitrag habe ich für den Ohrfunk geschrieben und gerade nur leicht aktualisiert.

In Sachsen wird die Triage eingeführt, Bayern dürfte bald folgen. Deutschland hat eine 7-Tage-Inzidenz von über 400, 100.000 Tote sind zu beklagen, von den nicht geimpften Infizierten landen über 40 % früher oder später auf Intensivstationen, die Inzidenz unter nicht geimpften Personen liegt um das Zehnfache höher als unter geimpften Personen. Die Impfquote in Deutschland ist beschämend niedrig, unter Anderem, weil die Politik im Wahlkampf auf die Impfgegner*innen unter den Wähler*innen Rücksicht nehmen wollte. Nur keine harten Maßnahmen, schnelle Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, möglichst bald ein Freedom Day. So wollte es der noch amtierende Gesundheitsminister. Jetzt, am Tag vor dem Ende der nationalen Notlage, hält derselbe Politiker diese Maßnahmen für eine Fehlentscheidung der künftigen Ampel-Koalition.

Und die Ampel selbst? Es wird taktiert und gepokert, nur die FDP kann Erfolge bei den Verhandlungen verzeichnen, und zwar am laufenden Band. Seit Juli hat die Politik die Wissenschaft komplett ignoriert und sich nur auf den Wahlkampf konzentriert. Fahrlässige Tötung ist ihnen allen moralisch vorzuwerfen. Sie beklagen die Spaltung der Gesellschaft und lassen sich von einem stetig größer werdenden Haufen komplett durchgeknallter Menschenfeinde vor sich her treiben. Wer frech die Gesundheit der Mitbürger*innen missachtet, bekommt alle Aufmerksamkeit, je lauter man sich Gehör verschafft, desto größer das Entgegenkommen. Diejenigen, die still und leise sind, auf ihre Mitmenschen achten, sich an alle Maßnahmen halten, darüber hinaus Kontakte beschränken, bekommen nur einen Arschtritt.

Und wenn wir über die Pflegekräfte reden, die Menschen, die Tag für Tag in Krankenhäusern und Altenheimen ihr Möglichstes geben, und noch viel mehr, als man von ihnen erwarten dürfte, die mit geringem Lohn und lauwarmen Verständnisbekundungen abgespeist werden, während die Krankenhausbetreiber ihre Gewinne einfahren, – wenn wir über sie reden, dann rollt die nächste Katastrophe auf uns zu. Wenn dieser Albtraum jemals vorbei sein wird, werden sie fluchtartig ihre Arbeitsplätze zu tausenden verlassen, gedemütigt, betrogen, im Stich gelassen. Dieses Totalversagen der Politik werden wir alle bereuen. Aber das ist uns egal, solange wir Samstags zum Fußball können.

Wir haben derzeit eine Mortalitätsrate von 0,8 %. Das bedeutet, dass von 1000 Infizierten sicher 8 Menschen sterben werden, oft ein paar mehr. An einem Tag werden oft 45000 Menschen krank. Damit wissen wir bereits, dass von diesen in den nächsten Monaten 360 Patient*innen dem Tod geweiht sind. Das gilt für fast jeden verdammten Tag! Das alles hat man gewusst, bevor es geschah, aber es war, so der Noch-Gesundheitsminister, den Deutschen nicht zumutbar, schon gar nicht im Wahlkampf.

Ich sitze im Lockdown. Ich möchte diese Krankheit nicht haben. Bei meinen Voraussetzungen und Vorerkrankungen habe ich Angst um mein Leben. Der Spiegel berichtete am letzten Wochenende in seiner Titelgeschichte vom noch relativ gut funktionierenden Uni-Klinikum Leipzig. Es war einer der schrecklichsten Berichte, die ich je gelesen habe. Drei Tage lang durfte das Team auf der Intensivstation die Pfleger*innen begleiten. Es ist ein Bericht, der nur aus Erschütterung und Fassungslosigkeit besteht.

Und dann sagt ein nicht geimpfter Mann, bevor er an die Beatmungsmaschine angeschlossen wird, auf die Frage, warum er sich nicht hat impfen lassen: „Dann hätten ja die Anderen gewonnen.“

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Corona-Katastrophe: Dann hätten ja die Anderen gewonnen

  1. Der Verfasser des „Homo Ludens“, Johan Huizinga, hätte sich über den letzten Satz gefreut. Er untersuchte in seinem Buch den agonalen Charakter von archaischen bis bürgerlichen Gesellschaften unserer Zeit (er starb 1945). Wir sehen: rücksichtslose Opferung damals und auch heute. Ob nun Potlach oder Corona, es geht um den „last man standing!“. Grauenhaft, aber wie wir Holländer sagen: „het zit in het diertje“.

  2. Ich stelle immer wieder fest, dass der letzte Satz deines Beitrags (welcher ja ein indirektes Zitat aus dem genannten Spiegel-Artikel ist) für viele in meinem Umfeld zur ernüchternden Wahrheit wird. Einerseits, weil der Druck aus dem privaten Umfeld immer weiter wächst und andererseits, weil sie durch ihre Impfverweigerung zum Teil bald ihre Jobs nicht mehr ausüben dürfen. „Bald haben sie mich auch so weit“, höre ich dann immer wieder. Doch anstatt mal darüber nachzudenken, ob dieses „so weit“ wirklich ’so negativ‘ wäre, gehen sie munter seit zwei Wochen Samstags auf die hamburger Straßen und demonstrieren gegen die angebliche Spaltung der Gesellschaft – zwar erstaunlich friedlich, dafür jedoch natürlich ohne Maske und Abstand…oder sollte man hier besser sagen „ohne Maske und Verstand“?
    Zugegeben stand auch ich der Impfung anfangs äußerst skeptisch gegenüber, habe Maßnahmen der Regierung kritisiert… aber wir wären nicht denkende Menschen, wenn wir unsere Ansichten nicht auch über den Haufen werfen und neu ordnen könnten. Denn mit der Zeit wachsen auch die Erkenntnisse und Erfahrungen – egal, um was es dabei geht.

    Und jeder wirft der Politik nun Versagen vor, ob nun der alten oder der neu amtierenden Regierung, das ist völlig wurscht. Niemand will der Buhmann sein und schiebt den schwarzen Peter munter hin und her. Man sollte sich bei all der Kritik am System jedoch immer fragen: Welches unserer Güter (im übertragenen Sinne) wiegt am stärksten und wie sollten wir uns am besten ausrichten? Ist es ausschließlich die Gesundheit, hätten wir schon längst nicht nur einen erneuten Lockdown erlebt, sondern auch die von vielen gewollte Impfpflicht – und zwar für ALLE. Oder ist es die Wirtschaft, die ein Gesellschaftssystem ja auch ingewisserweise am Laufen und aufrecht hält? Dass hier jedoch auch mit Existenzen „gespielt“ wird, vergessen die meisten von uns sehr gern – Gesundheit geht ja vor allem. Was nützt nur die beste Gesundheit, wenn man am Ende ohne Lohn und Brot da steht? Also dann doch lieber schauen, ob und wie man beides miteinander vereinbaren kann? Das wahrlich ist die Mammut-Aufgabe, der sich die Regierungen stellten bzw. aktuell stellen müssen.

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