Kriegstagebuch 1: Der Krieg ist zurück in Europa und in meinem Kopf

Der Krieg ist zurück in Europa. Macht und Frechheit siegen. Offen droht Russlands Präsident Putin mit einem Atomschlag gegen alle Länder, die sich ihm in den Weg stellen wollen. Die Weltordnung ist Geschichte. – Mein Eindruck vom ersten Kriegstag.

In den letzten Wochen habe ich immer wieder gesagt, dass ich einen Angriff Russlands auf die Ukraine für eher unwahrscheinlich halte. Höchstens, so dachte ich, würden russische Truppen wie damals auf der Krim die sogenannten Separatistengebiete im Osten des Landes einnehmen und verstärken. Wladimir Putin, so dachte ich, sei viel zu berechnend, um sein Land auch nur in die Nähe eines Weltkrieges zu bringen. – Alles quatsch! Putin weiß, wie schwach und zögerlich die Anderen sind, wir, der Westen. Er spielt Poker. Er weiß, dass er mit der Drohung eines Atomschlages den Westen in die Knie zwingen kann, solange nicht Donald Trump in Washington an der Macht ist.

Ich kann gar nicht sagen, wie geschockt ich war, als ich heute morgen gegen viertel nach neun auf Twitter vom russischen Angriff auf die Ukraine las. Keine begrenzte Militäraktion im Osten, sondern ein voller, unmaskierter, unprovozierter Angriff. „Wer sich mir in den Weg stellt, der hat Konsequenzen zu tragen, wie noch niemals in der Geschichte. Russland ist eine Atommacht“, sagte Putin in seiner Ansprache letzte Nacht. Und jetzt habe ich Kriegsangst. Er wird sich diplomatisch nicht aufhalten lassen.

Und was jetzt? Welche Möglichkeiten hat die Welt denn, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden? Man kann sich nicht einmal zur Kontensperrung und Ausweisung russischer Oligarchen oder zum Ausschluss aus dem Bankensystem SWIFT durchringen. Solche Maßnahmen würden helfen, auch ein Einfuhrverbot für russisches Erdgas.

Sie haben lange für ihre Demokratie gekämpft, die Menschen in der Ukraine. Ich meine jetzt nicht die faschistischen Kräfte, die auch nicht größer sind als im Rest Europas, sondern die normalen Menschen, die nach der Sowjetzeit versuchten, etwas Neues aufzubauen. Es scheint, als gebe es eine schnelle Eroberung des Landes, alle Berichte deuten darauf hin.

Damals, in der Zeit des kalten Krieges, hatte ich meistens weniger Kriegsangst. Irgendwie waren beide Seiten berechenbarer. Niemand wollte den Atomkrieg, alle waren sich dessen bewusst. Jetzt schließen sich zwei autokratische Staaten mit Weltmachtfantasien zu einer unheiligen Allianz zusammen: Russland und China. Mit ihrer Macht, ihren Waffen, ihrer Brutalität, ihrer Skrupellosigkeit sind sie allem überlegen, was sich an unvollkommener Menschlichkeit seit dem zweiten Weltkrieg im internationalen Verkehr entwickelt hat. Sie brauchen nur darüber zu lachen.

Ich gebe zu: Ich bin den ganzen Tag vollkommen durcheinander. Ich musste mich mit meiner Arbeit als SPD-Vorsitzender hier am Ort befassen und habe mich abgelenkt. Aber es hat mich nicht verlassen.

Warumwar der Westen so ahnungslos und überrascht? Herfried Münkler, ein konservativer Historiker, schrieb in der Zeit dazu: „Bis vor Kurzem war das Schlimmste, das man sich vorstellen konnte, noch eine Art Kalter Krieg 2.0. Aber das war eine analytische Dummheit, weil man eben nicht in Rechnung gestellt hat, dass die Einflusszonen des Kalten Krieges festgefügt waren, sie also gegenseitig nicht infrage gestellt worden sind. … Damals war klar, dass der unmittelbare Zusammenstoß des Warschauer Pakts mit der Nato im Prinzip nur in Deutschland geschehen kann. Nördlich davon war die Pufferzone mit Finnland und Schweden, südlich die mit Österreich und Jugoslawien. Innerhalb der sogenannten Ersten und Zweiten Welt gab deshalb wenig Bewegung, die Veränderungen haben sich vor allem in der sogenannten Dritten Welt abgespielt. Und es kam offensichtlich keiner auf die Idee, dass die Konstellationen der Dritten Welt, wo Bündniswechsel zu Staatsstreichen oder massiven militärischen Hilfslieferungen geführt haben, inzwischen auch bei uns Einzug gehalten haben.“
Er meint in dem Interview sogar, dass Russland andere Staaten, die nicht Mitglied der NATO sind, wie Finnland oder Schweden, bedrohen könnte. Er hält das zwar für sehr unwahrscheinlich, aber für möglich. Mit was muss man sich jetzt also befassen?

Ich sagte es schon: Ich bin ziemlich durcheinander. Ich hoffe, ich kann morgen mal etwas journalistischer, etwas analytischer die Nachrichten bewerten. Im Augenblick fällt mir das ebenso schwer, wie große Worte und große Gesten zu machen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter erlebte Geschichte, Politik abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Kriegstagebuch 1: Der Krieg ist zurück in Europa und in meinem Kopf

  1. Christian Ohrens sagt:

    Müssen oder sollten wir Angst haben?
    Etwas, worüber ich heute (also einen Tag nach diesem Beitrag) schon mit ein paar Kollegen diskutiert habe.

    Ich mit Jahrgang 1984 kenne Krieg nur aus dem Geschichtsunterricht, aus Erzählungen anderer, aus den Nachrichten, aus Kriegsfilmen. Das, was er letztlich für uns alle bedeuten könnte, kann ich mir nur ausmalen. Auch wenn nun scheinbar ein Krieg so nah ist wie schon lang nicht mehr, verspüre ich weder Kriegsangst noch Panik, die seit gestern auch schon einige ergreift.

    Die Regierungen sind planlos und teils auch machtlos. Die erdachten Sanktionen? Ein Tropfen auf dem heißen Stein. Was ist schon Westeuropa…wenn man will, sucht man sich eben in Nah- oder Fernost neue Wirtschafts-, Handels- und Finanzpartner. Wir beschließen Sanktionen und verkünden diese großspurig über die hiesigen Medien. Doch wird es den größenwahnsinnigen Menschen in Moskau in irgendeiner Weise kümmern? Oder wird er im stillen Kämmerlein nur über uns lachen? Was wäre die weitere Konsequenz? Aus Solidarität und den Verpflichtungen von Nato & co heraus uns ebenfalls an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligen? Dann, ja dann können wir wirklich Kriegsangst haben!

    Noch liefern wir keine Waffen an die Ukraine aus. Doch wie lange können wir dieses „Nein“ aufrecht erhalten.

    Andere Baustelle: Vorhin las ich eine Hörermail für den „Ohrfunk“, in dem sich jemand irritiert zu den aktuellen Programmankündigungen äußerte. Karnevalsprogramm statt solidarischer Entachtsamkeit. Man mag mich jetzt hierfür steinigen. Ich finde Solidarität auch wichtig, halte aber dieses Ändern von Programmen, Versinken in Kriegsangstlethargie bei sehr vielen für sehr geheuchelt. Und seien wir doch mal ehrlich. All dieser Verzicht auf Spaß aus Gründen der Solidarität nützt denen, um die es hier am Ende ja geht, am wenigsten. Die Pellen sich ’n Ei drauf… erst recht der „alte, weiße Mann“ in Moskau.

    Denn ist es nicht sogar vielleicht genau das, was er erreichen möchte? Angst verbreiten, Panik schüren? Die Ukraine wird erschüttert von Angriffen, der alte Mann stellt sich stur und verbreitet Gerüchte, er würde sich ja nur bloß wehren…

    Und sind nicht aus purer Angst schon viele Fehlentscheidungen getroffen worden? Kriegsangst? Nein! Nicht, so lang noch ein Fünkchen Hoffnung, Besonnenheit und Glaube an die Menschheit in uns vorhanden ist!

  2. Pingback: Kein Krieg in Europa: Solidarität setzt Signale der Hoffnung – marburg.news

Schreibe einen Kommentar