Kriegsverbrechen in der Ukraine

Im Augenblick fällt mir das Schreiben politischer Kommentare entsetzlich schwer. Ich habe das Gefühl, jeden Morgen in einer Welt aufzuwachen, die noch ein bisschen dunkler, noch ein wenig hoffnungsloser ist als am Tag zuvor. Das drückt die Stimmung auf einen Tiefpunkt, weil ich mir derzeit überhaupt nicht vorstellen kann, wie wir uns von all dem wieder erholen sollen, wie die Welt auch nur wieder ein wenig besser werden soll. Seit dem vergangenen Sonntag haben meine Fassungslosigkeit und meine Ratlosigkeit eine neue Intensität erreicht.

Der Krieg in der Ukraine tobt nun schon fast sechs Wochen, und ein Ende ist nicht in Sicht. Je mehr der russische Präsident Wladimir Putin militärisch in die Defensive gerät, desto radikaler wird sein Regime. Am Sonntag nun wurden fürchterliche Kriegsverbrechen bekannt, die von russischen Truppen in der Kleinstadt Bucha begangen wurden, bevor sie von der Ukraine zurückerobert wurde. Internationale Journalistenteams und die Organisation Human Rights Watch konnten unabhängig voneinander bestätigen, dass eine große Anzahl von Zivilisten, teils gefesselt, teils gefoltert, auf den Straßen der Stadt lagen, meist durch Schüsse in den Kopf getötet. In mehreren Autos saßen erschossene Familien, eine Frau lag auf dem Pflaster, ihr Hausschlüssel neben ihr, und an dem Schlüssel das EU-Logo als Anhänger. Frauen berichten von stundenlangen Vergewaltigungen, manche überlebten nur schwer verletzt. Es wurden einige Massengräber gefunden. Ich bin froh, dass ich die Bilder nicht sehen kann, aber auch die Berichte von Human Rights Watch, die mit überlebenden Opfern gesprochen haben, sind nur schwer zu ertragen.

Nun ist es tatsächlich nicht so, dass dies die ersten Kriegsverbrechen in Europa seit dem zweiten Weltkrieg sind. Die Ermordung von 8000 muslimischen Männern und Jungen in Srebrenica und die Vergewaltigungslager, in denen die serbischen Besatzer in Bosnien zigtausende Frauen systematisch vergewaltigten, um eine neue serbische Rasse zu züchten, waren in den neunziger Jahren bereits Tiefpunkte der Unmenschlichkeit. Und natürlich geschehen in anderen Teilen der Welt täglich Kriegsverbrechen: Der Jemen, Syrien, Äthiopien, der Südsudan, ja sogar die europäischen Grenzen und das Mittelmeer sind furchtbare und abstoßende Beispiele dafür. Kriegsverbrechen werden von vielen Staaten begangen, oft sind es auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn sie nicht in einem bewaffneten Konflikt stattfinden. Doch sind wir Menschen nun einmal so gestrickt, dass wir eine Situation mit mehr Aufmerksamkeit verfolgen, je näher sie uns liegt. Das muss nicht geographisch gemeint sein. Einem Freund von mir, der eine Mitbewohnerin aus Äthiopien hat, ist der Konflikt dort sicherlich näher als der anhaltende Drogenkrieg in Kolumbien. Und so waren es diese furchtbaren Nachrichten aus einem Vorort von Kiew, die mich am Sonntag aufs heftigste erschütterten. Am selben Abend gewannen in Serbien und in Ungarn rechtsnationale Parteien die Parlamentswahlen. Die Demokratie ist auf dem Rückzug, stellte die New York Times schon vor 8 Jahren in einem Portrait über Angela Merkel fest. Eben diese Angela Merkel hat übrigens in den letzten Jahren versucht, den Gesprächsfaden mit Russland, genauer, mit Wladimir Putin, nicht abreißen zu lassen. Mit wirtschaftlicher Verlockung sollte er dazu gebracht werden, menschlicher zu handeln, und Deutschland konnte daran sogar noch verdienen. Jetzt fällt uns diese so oft als pragmatisch gelobte Politik auf die Füße. Wladimir Putin scheißt auf internationales Recht und mühsam errungene Mechanismen des Völkerrechts, die eine friedlichere Welt ermöglichen sollten.

Am Montag postete der Ukraine-Experte und langjährige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, Sergej Sumlenny, folgendes auf Twitter:
„Die staatliche russische Propagandaagentur RIA veröffentlichte einen neuen programmatischen Artikel mit dem Titel „Was Russland mit der Ukraine tun muss“. Der Artikel enthüllt einen detaillierten Plan für einen Völkermord, der mit der vollständigen Beseitigung des ukrainischen Staates beginnt. Darin wird fast jeder Ukrainer als Nazi bezeichnet, der den Tod verdient. „Nazis, die zu den Waffen gegriffen haben, müssen so zahlreich wie möglich getötet werden… Nicht nur die Eliten, auch die meisten Menschen sind schuldig, sie sind passive Nazis, Nazi-Unterstützer. Sie haben diese Eliten unterstützt und müssen bestraft werden.“ Er sieht die wirtschaftliche und politische Zerstörung der Ukraine voraus: „Die Ukraine muss für ihre Schuld gegenüber Russland bezahlen. Sie muss als Feind behandelt werden und darf sich daher nur in Abhängigkeit von Russland entwickeln. Es darf keinen „Marshall-Plan“ geben. Keine „Neutralität“, weder ideologisch noch praktisch“. Eine tyrannische Zukunft zeichnet sich ab: „Das Personal, das die Entnazifizierung in den neuen entnazifizierten Republiken (Plural! –
Sumlenny) durchführt, kann nicht anders handeln als mit direkter militärisch-polizeilicher und verwaltungstechnischer Unterstützung aus Russland. Entnazifizierung muss eine Entukrainisierung sein“. Die Ukraine ist der Feind: „Die Geschichte hat bewiesen: Die Ukraine darf als Nationalstaat nicht existieren. Jeder Versuch, ihn zu schaffen, führt zum Nationalsozialismus. Der Ukrainismus ist ein künstliches antirussisches Konstrukt… Eliten- und Bandenvernichtung ist nicht genug… Die Entnazifizierung der Ukraine muss eine Ent-Europäisierung der Ukraine sein“. Gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung: „Die Banden-Eliten müssen liquidiert werden, sie können nicht umerzogen werden. Der gesellschaftliche „Sumpf“, der sie unterstützt hat, muss die Schrecken des Krieges erleben und die Lektion lernen und für seine Schuld bezahlen“.“

Deutlicher kann man nicht werden, und diese Äußerungen existieren seit Jahren und gehören in Russland zum Alltag. Oft wird von westlicher Seite behauptet, die russische Bevölkerung unterstütze mehrheitlich Putins Krieg nicht. Die Wahrheit sieht leider anders aus: Unabhängige Meinungsforscher konstatierten eine Zustimmung von rund 80 %, und auch viele Russinnen und Russen in Deutschland glauben, die grauenhaften Bilder aus Bucha seien Fakes. Manche gehen sogar so weit, zu behaupten, die Ukraine habe die Verbrechen selbst begangen, um sie Russland in die Schuhe schieben zu können. Gott sei Dank gibt es noch ein paar Berichte aus der bereits eroberten Stadt vom Beginn des Krieges, in denen die Bevölkerung bereits über Grausamkeiten informierte.

Angesichts dieser furchtbaren menschlichen Tragödie möchte ich auf keinen Fall in der Haut unserer Bundesregierung stecken. Was soll sie tun? Auf Twitter wurde schon ein absolutes Embargo, der Ausschluss Russlands aus der UNO und eine robuste Blauhelmaktion in der Ukraine gefordert. Abgesehen davon, dass die Bundesregierung dies kaum erreichen kann, ist es auch rechtlich unmöglich, Russland aus der UNO auszuschließen. Vielleicht gäbe es derzeit in der deutschen Bevölkerung eine Mehrheit für ein Gas-Embargo, doch in drei Wochen sähe das vermutlich schon wieder anders aus. Wir kriegen ja nicht einmal ein Tempolimit hin.

Und all das macht die Menschen in Bucha und den anderen Städten, die von Russland besetzt wurden, nicht wieder lebendig. Der Hass ist gesät, er wird Generationen blühen, und jede Eindämmung des Krieges heute wird vermutlich irgendwann zu einer extrem gewaltsamen Explosion führen, die die Welt mit in den Abgrund reißen kann. Wieviele Menschen mögen diese Verzweiflung jetzt spüren? Ich selbst habe nichts gegen ein Embargo, ich habe mich als Kind immer nur im kalten Wasser gewaschen, unsere Heizungen waren Heißlüfter und heizten nur einen Raum. Ich glaube von mir tatsächlich, dass ich mich in einigen Dingen wieder umstellen kann, wenn es nötig wird. Ich jammere also nicht wegen meines Wohlstandes. Ich habe Angst vor dem Schlunt, diesem weltweiten Abgrund, in den wir voller Panik hineinrasen, weil durch immer mehr Gewalt bei immer mehr Menschen die Vernunft versagt, das klare Denken ausgeschaltet wird und die Mitmenschlichkeit in den Hintergrund tritt. Wir alle haben diese schrecklichen Verbrechen nicht verhindert, wir haben die Chance verpasst, die wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten. Es war die Chance für eine echte stabile Weltordnung, gerade am Ende des kalten Krieges. Doch weil sich der neoliberale Kapitalismus als Sieger fühlte, und weil fast alle an seine magnetische Zauberkraft glaubten, sterben jetzt Menschen. Überall auf der Welt, aber auch in unserer Nachbarschaft.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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