Der Akku ist leer: Ich muss nach Hause

Einen Artikel wie diesen habe ich schon mehr als 1064 Tage nicht mehr geschrieben, und diese Zeit kam mir wie eine Ewigkeit vor. Jetzt endlich kann ich eine kurze Auszeit nehmen, kann ich kurz abtauchen in eine andere, friedliche Welt.

Wer meine Social-Media-Aktivitäten verfolgte, der weiß, dass ich seit einiger Zeit recht pessimistisch und deprimiert schreibe. Das kann man auch in diesem Blog nachlesen. Mehr als zwei Jahre Corona, der Krieg in der Ukraine, der Tod eines meiner besten Freunde, der Rückzug der Demokratie in der Welt, der praktisch nicht mehr aufzuhaltende Klimawandel: All das hinterlässt in mir seine Spuren. Das war schon immer so, aber es gab selten so viele Gründe für Trübsal und Hoffnungsarmut wie in den letzten Jahren. Bis vor drei Jahren habe ich jedes Jahr meine Jugendheimat und mein zweites zu Hause besucht, den Campingplatz „Heelderpeel“ in den Niederlanden, in der Nähe von Roermond, kurz hinter der deutschen Grenze, mitten im Naturschutzgebiet und in einem der Vogel- und Waldreichsten Gebiete Mittel- und Westeuropas. Vor 40 Jahren kauften meine Eltern dort ein Ferienhaus, vor 16 Jahren mussten meine Liebste und ich es nach dem Tod meiner Eltern und aus Geldmangel abreißen lassen. Trotzdem sind wir jedes Jahr wieder hingefahren und haben dort ein paar Wochen verbracht. Es waren Zeiten, in denen ich wie aus der Welt gefallen war. In den Neunzigern haben wir manchmal drei Monate im Sommer dort verbracht, genossen jeden Tag, jeden Spaziergang, jedes Gespräch, jedes Würfelspiel, jedes Schwimmen im See, jeden Geruch nach den Feldern, den Wäldern, den Bauernhöfen. Wir wussten immer, wie glücklich wir waren.

Am 28. Juni 2019 kehrten wir von unserer letzten Reise nach Heelderpeel zurück, eine Woche später begann beim Ohrfunk der große Umbruch, drei Monate später war einer unserer allerbesten und allerältesten Freunde tot, und wieder drei Monate später kam das Coronavirus. Seither haben wir unsere Heimat nicht wiedergesehen. Wir saßen nicht mehr nachts am See, wo die Frösche quakten und uns zeigten, was Romantik ist, wir liefen nicht mehr durch die Felder, grillten nicht, sangen wenig, hörten nicht den morgentlichen Vogelkonzerten zu, die ich nirgendwo anders so wunderschön erlebte. Alltag, Angst, Mühsal, Häme, Streit, Lähmung, Unbeweglichkeit und gesellschaftlicher Zerfall berührten uns. Menschen, die wir kannten und mochten, starben, wir aber suchten den Frieden vergeblich.

Morgen Mittag werde ich in das Auto meines Freundes Eckart steigen, und wir werden wieder losfahren. Noch kann ich es nicht glauben: Koffer, Rucksack und Lebensmittelkiste sind gepackt, ich sitze nur noch hier, um dies hier zu schreiben, bevor ich schlafen gehe. Morgen, nach 1064 Tagen, werde ich nach Hause kommen. Nicht in meine Geburtsstadt, sondern an den Ort meines Herzens, meiner schönsten Erinnerung und meiner Sorglosigkeit. Ich kann mir noch gar nicht wieder vorstellen, wie sich das anfühlen wird.

Ganz ehrlich: Mein Akku ist leer, schon seit vielen Monaten. Ich funktioniere noch, aber ich erreiche nichts mehr. Als Vorsitzender unseres SPD-Ortsvereins war ich im Landratswahlkampf eine Niete, den Streit in unserer Ortsbeiratsfraktion habe ich nicht beilegen können. Ich mache meine Sachen beim Ohrfunk, aber ich mache sie, weil die Anderen sich auf mich verlassen. Alles ist mir zu viel, alles strengt mich ungemein an. – Ich will nach Hause, und wenn es nur für vier Wochen ist, viel zu kurz.

Doch morgen ist es so weit. Schon morgen Abend werde ich vor unserem Häuschen sitzen und zuhören, wie sich erst die Spatzen und dann die Amseln gute Nacht wünschen. Vielleicht sind einige Nachbarn noch später dran. Und morgens um vier werde ich mit Freude aufstehen, um das Vogelkonzert zu hören. Ich werde spazierengehen, ich werde plaudern, lachen und mich ausruhen. Ich werde Freunde treffen. Ich werde endlich mal wieder ich selbst sein, ohne ständige Sorgen und unerträgliche Überlastung.

Ich schreibe dies auch deshalb, weil ich damit aufhören will, immer nur zu sagen, dass es mir schon ganz gut geht, wenn mich jemand danach fragt. Vor ein paar Wochen bin ich größtenteils von Twitter zu Mastodon gewechselt, weil ich den Umgang dort leichter, freundlicher und zugewandter erlebte. Und doch habe ich wenig gepostet, weil die Kraft fehlte, und inzwischen sind die Kontakte dort zumindest vorübergehend auch wieder eingeschlafen. Es ist nicht alles gut, und wir alle wissen das.

Doch ab morgen wird mich das vier Wochen lang nicht kümmern. Wir werden fast kein Internet haben, ich werde entgegen meiner normalen Gewohnheiten kaum Nachrichten hören, sondern das Leben und die Menschen genießen, die ich treffe.

Wenn ich morgen gegen halb fünf Uhr nachmittags aus dem Auto steige, wird mich wieder der vertraute Geruch nach Sand, Wald und Feld empfangen, den ich nie vergessen werde. Vom ersten Moment an werde ich Frieden atmen, vier ganze Wochen lang. Ich wünsche mir, mit etwas mehr Kraft nach dieser Zeit zurückzukehren. Und ich wünsche allen Leser*innen dieses Blogs, dass sie auch einen Kraftort besitzen, wo sie Frieden und Ruhe tanken können. Wir brauchen es alle.

Wenn Sie mehr über meine zweite Heimat lesen wollen, bitte sehr. Allerdings gibt es einiges, was sich in diesen Artikeln wiederholt.

Der letzte Spaziergang

Mein Freund, der Kühlschrank

Wir bleiben hier, was auch geschieht

Willkommen in Limburg

Der erste Spaziergang

Ein Feiertag meines Lebens

Ich rieche noch das Feuer, ich höre noch das Lied

von Mikronationen, Hitparaden, Weltstaaten und Freundeskreisen

If I say the Words: Meine Hitparaden und ich

Vorstellungskraft und Vorfreude

Die Musikplatte ist abgekabelt

Im Paradies sind sogar die Erdbeben zahm

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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