Kampf gegen den Neoliberalismus – Gedanken zum chilenischen Verfassungsreferendum

Sie haben es sicher in meinen letzten Kommentaren gemerkt: Ich habe größtenteils den Optimismus für die Zukunft verloren. Das heißt nicht, dass ich selbst nichts mehr tun möchte, um mich für Klimaschutz, Gleichberechtigung, Demokratie und Sozialstaat zu engagieren, doch ich tue das, weil sonst alle Chancen dahin sind, nicht, weil ich an einen Erfolg glaube. Ich möchte Ihnen heute ein Beispiel vorstellen, warum ich so desillusioniert bin.

Im Jahre 2019 erhob sich ein großer Teil des Chilenischen Volkes, um eine neue Verfassung zu verlangen, das Land zu einem Sozialstaat zu machen und künftig leichter Reformen zu ermöglichen. Die in Chile geltende Verfassung stammte aus der Pinochet-Diktatur und war extrem Neoliberal. Bildung und Gesundheitswesen sind privatisiert, das gesamte Wasser im Land gehört wenigen reichen Familien, und Frauen, LGBTIQ-Personen und Mitglieder der indigenen Bevölkerung haben weniger bis keine Rechte. Der Druck auf der Straße sorgte für die Wahl eines Verfassungskonvents, in dem die linken Organisationen zweidrittel der Sitze erhielten. Sie arbeiteten eine moderne, sozialstaatliche, offene Verfassung aus, die zu einem Muster für die ganze Welt werden sollte. Damit wir uns nicht missverstehen: Es war keine sozialistische Verfassung. Eigentum, Unternehmertum und ähnliche Errungenschaften wurden garantiert, doch die sozialstaatliche Bindung des Eigentums, die kostenlose Bildung, die moderne Gesundheitsversorgung, die Anerkennung der Care- und Hausarbeit, die Rechte von Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung und die Rechte der indigenen Bevölkerung wurden festgeschrieben. Die Verfassung wurde ausgearbeitet, von der Regierung an alle Haushalte verteilt und debattiert. Zu den Kundgebungen der Befürworter*innen kamen zigtausende Menschen, die Gegner*innen versammelten meist lediglich einige hundert Personen. Am 4. September 2022 sollte die Abstimmung stattfinden.

Doch die Medien des Landes waren größtenteils in privater, rechter Hand. Sie machten Stimmung gegen die Verfassung. Sie behaupteten, gerade arme Menschen würden unter dem neuen Sozialismus leiden, weil die Wirtschaft, die seit 30 Jahren floriere, einbrechen werde. Sie verkündeten, Abtreibung sei künftig bis zur Geburt erlaubt, man dürfe nicht mehr stolz auf sein Land sein und dürfe kein Eigentum besitzen. Sie verbreiteten gefakete Verfassungsentwürfe, auch übe die sozialen Medien.

Trotzdem war man sich sicher: Die neue Verfassung würde verabschiedet, wenn auch nur mit knapper Mehrheit.

Am Abend des Abstimmungstages hatten 62 % der Chilenen die neue Verfassung abgelehnt, und vor allem Diejenigen, denen sie zugute gekommen wäre.

Sogar wenn man also selbst die Möglichkeit und die Macht hat, für eine bessere Zukunft mit einem einzigen Kreuzchen etwas gewaltiges zu bewegen, tut man es nicht. Die Angst vor wirtschaftlichen Einbußen, dem Verlust von Arbeit und Wohlstand ist immer stärker.

Für einen Moment haben sie gezittert, die Neoliberalen. Nicht nur in Chile, sondern überall auf der Welt. Was für ein Durchbruch, wenn das Projekt gelungen wäre? Ist es aber nicht, die Schafe schlafen weiter. Schon Robert Long sang: „Latscht wie eine dumme Kuh nur auf den eig’nen Metzger zu.“ Das ist natürlich ein wenig ungerecht: Die Mächtigen und Reichen spielen mit der Angst der Menschen. Dagegen gibt es offenbar noch kein Mittel, auch nicht die massenhafte, von der Regierung unterstützte Aufklärung.

Und das ist einer der Gründe, warum ich so frustriert bin. Es ist ja kein chilenisches, sondern ein weltweites Phänomen. Wenn die Menschen nicht mal mehr den Honigtopf ergreifen, den sie sich selbst erkämpften und den eine willige Obrigkeit ihnen entgegenstreckt, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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