Die „Letzte Generation“ hat recht!

Den folgenden Beitrag habe ich am 29.11.22 für den Ohrfunk geschrieben.

Was hat Sie eigentlich in den letzten Wochen neben dem Geschachere um das Bürgergeld am meisten aufgeregt? Bei mir war es der Umgang mit den Aktionen der sogenannten „letzten Generation“, die mit spektakulären Straßen- und Flughafenblockaden oder sogenannten Kunstschmierereien auf sich aufmerksam machen. Ihr Protest richtet sich gegen das aus ihrer Sicht absolut unzureichende Handeln der Regierung für den Klimaschutz, um künftigen Generationen ein einigermaßen sicheres Leben auf diesem Planeten zu ermöglichen. Die Aktionen sind allesamt gewaltlos, stören aber empfindlich eingespielte Abläufe. Menschen kleben sich auf Straßen und Autobahnen fest und verhindern einen geregelten Verkehrsfluss, oder sie blockieren Flughäfen.

Interessant und bestürzend finde ich die Reaktion des Staates und der Medien. Lange hat man die Aktivist*innen der letzten Generation schlichtweg ignoriert, bis vor knapp zwei Monaten in Berlin eine Radfahrerin starb, die von einem Betonmischer überfahren wurde. Zur gleichen Zeit hatte die „letzte Generation“ rund 10 Kilometer entfernt einen Stau verursacht, und es wurde nun behauptet, dieser Stau habe die Rettungskräfte am rechtzeitigen Eintreffen am Unfallort gehindert. Die Rettungskräfte selbst haben dies bestritten, doch ihnen hört niemand zu. Seit diesem Vorfall sind die Aktivist*innen der „letzten Generation“ für manche Politiker*innen die Klima-RAF, Terroristen und Verbrecher, und viele Medien, auch seriöse Blätter und Kommentator*innen, stoßen in dasselbe Horn. Um Proteste zu verhindern, werden in Bayern bekannte Aktivist*innen 30 Tage in Präventivhaft genommen, ohne überhaupt auch nur einer Straftat verdächtigt zu werden, und auch die Protestaktionen selbst sind keine Straftat. Derweil wird niemand zur Rechenschaft gezogen, wenn Rettungskräfte auf der Autobahn nicht zum Unfallort kommen, weil einfach keine Rettungsgasse gebildet wird, oder weil Schaulustige die Fahrbahn versperren. Schon gar niemand wird für bewusst klimaschädliches Autofahren in Suvs eingesperrt. Stattdessen behaupten die großen Medien, die „letzte Generation“ beschädige mutwillig unersetzliche Kunstwerke. Es interessiert niemanden, dass das schlicht gelogen ist. Die Aktivist*innen bewerfen oder beschmieren Glasscheiben vor Kunstwerken, die sofort und leicht abwaschbar sind.

Mit ihren Aktionen erreichen die Klimaaktivist*innen Aufmerksamkeit, doch mich hätte einmal interessiert, ob sie der Meinung sind, dass tatsächlich über ihr Anliegen gesprochen wird. Ganz sicher wird versucht, sie in Misskredit zu bringen und eine Debatte über die Klimakatastrophe zu verhindern. Es ist klar, dass dies eindeutig den Interessen der Auto- und Ölindustrie dient. Dabei wissen alle, dass die Klimakatastrophe nicht mehr aufzuhalten, nur noch abzumildern ist. Dass der Bundeskanzler behauptet, man werde schon rechtzeitig eine technische Lösung finden, ist bestenfalls vernagelt und naiv, schlimmstenfalls ist es ihm egal, oder er ist feige und knickt vor den finanzstarken Eliten ein.

So sehr man sich über die Aktivist*innen der letzten Generation aufregt: Sie treffen einen Nerv, und sie haben schlicht recht. Gutes Zureden, Verhandlungen und vor allem Klimakonferenzen haben nichts genützt, jetzt müssen wir es alle am eigenen Leib spüren, dass die Zeit zum Handeln im Grunde schon fast abgelaufen ist, dass es jetzt schnell gehen muss. Und ganz richtig setzen die Aktivist*innen auf möglichst viel Aufmerksamkeit, um die Regierung zum Handeln zu zwingen. Denn die Verantwortung liegt nur zu einem geringen Teil bei den einfachen Menschen, die billig einkaufen müssen, um ihren Lebensstandard zu halten. Die Regierung ist es, die neue Standards festlegen muss, die die Wirtschaft zu nachhaltiger Produktion und zur Verkehrswende zwingen muss, auch gegen die Profitinteressen der Großkonzerne. Und wenn es eine Massenarbeitslosigkeit geben sollte, dann muss eben trotz hoher Schulden ein bedingungsloses Grundeinkommen her. Es wird Zeit, neu zu denken, und ich wünsche den Aktivist*innen der letzten Generation Erfolg. Meinetwegen können sie auch wirklich anfangen, Kunstwerke zu zerstören. Denn was nützen sie noch, wenn die Erde unbewohnbar geworden ist?

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter erlebte Geschichte, Leben, Politik abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.