Mein endgültiger Abschied von Twitter

Am 4. November 2022 hat Elon Musk das gesamte Menschenrechts- und das gesamte Accessibility-Team bei Twitter entlassen. Außerdem wurde die Möglichkeit, sich über Hass und Hetze auf der Plattform zu beschweren, praktisch beseitigt. alles im Namen der Meinungsfreiheit. Spätestens damit habe ich jeden Grund verloren, weiterhin einen Account auf Twitter zu haben. Manche mögen sagen, man müsse gerade jetzt bleiben, um zu kämpfen. Doch dort, wo ein Einzelner die gesamte Macht hat, wo man innerhalb des Systems keinerlei Gestaltungsspielraum mehr hat, wo es keine Regulierungen mehr gibt, ist die einzig wirksame Form des Protestes der Boykott.

In den letzten Jahren hat mir Twitter fast nur noch als Informationsquelle gedient, nicht mehr als soziales Netzwerk, auf dem man sich austauschen, debattieren, Aktionen planen oder sich vernetzen kann. Das war am Anfang ganz anders. Damals, 2009, lernte ich schnell und unkompliziert Menschen und Institutionen kennen, mit denen ich Wissen und Meinungen austauschte, und deren Informationen mir bis zum Schluss wertvolle Dienste leisteten. Ich habe über Twitter auch Freundschaften geschlossen. Seit ungefähr 2015 verschärfte sich jedoch der Ton. Anstatt einander zuzuhören und kontrovers aber konstruktiv zu debattieren, wurde das Netzwerk immer mehr zur Kloake des Internets, auf der Beleidigungen, Morddrohungen und Shitstorms mit Todesfolge immer häufiger geschahen. Insofern war ich ganz froh, als ich 2018 Mastodon entdeckte, das damals als kleine Twitter-Alternative angepriesen wurde. Leider geschieht das heute immer noch, und das ist extrem irreführend, denn alles, was die beiden Systeme miteinander gemeinsam haben, ist teilweise das Aussehen, und das grundlegende Prinzip des Kurznachrichtendienstes. In allen anderen belangen funktioniert Mastodon völlig anders.

Zunächst einmal muss gesagt werden, dass Mastodon nur *ein* Dienst unter Vielen ist, die man in ihrer Gesamtheit das „Fediverse“ nennt, ein föderiertes Netzwerk, in dem man über die eigenen Netzwerkgrenzen hinweg einander folgen kann. Da gibt es Plattformen für Fotos, Videos, Blogbeiträge, die alle miteinander vernetzt sind, dasselbe Protokoll nutzen. Man kann also ganz einfach mit einem Account auf Mastodon einem Account auf Pleroma, Friendica oder anderen Plattformen folgen, als wären es auch Mastodon-Accounts. Mastodon ist aber die für mich barrierefreieste Plattform, und so möchte ich mich in diesem Beitrag auf Mastodon beschränken, doch erwähnt werden sollte das Fediversum in jedem Falle. Das Fediversum ist das Netzwerk, Mastodon ist nur eine Zugangsmöglichkeit.

Jedes dieser Netzwerke besteht aus abertausenden von Servern, die von Einzelpersonen oder Institutionen betrieben werden. Damit haben wir schon einmal den ersten, großen Vorteil des Fediversums: Man kann es nicht kaufen, es ist nicht in einer Hand. Als ich mich angemeldet habe, musste ich mir einen Server, sie werden bei uns „Instanzen“ genannt, aussuchen. Es ist aber egal, auf welchem Server man sich niederlässt, man hat zu allen Menschen auf allen Servern Verbindung. Es ist ungefähr so, als würde man sich einen Email-Provider aussuchen. Ich hätte mich damals zum Beispiel zwischen den Instanzen „mastodon.social“, „hessen.social“, Chaos.sozial“ oder „troet.cafe“ entscheiden können. Es gibt auch Instanzen für Computernerds, für Künstler*innen, für Leute aus Freiburg, Dresden und vielen weiteren Regionen. Es wird oft behauptet, eine Instanz für sich zu finden, wäre unnötig kompliziert, doch das stimmt nicht. Es gibt eine Liste der Instanzen, die man auf joinmastodon.org, dem Startpunkt jedes Mastodon-Abenteuers, einsehen kann. Viele Instanzen sind relativ klein, manche sind aber auch recht groß, man kann sich eben nach Thema oder Region eine Instanz wählen, oder eben eine allgemeine, die überhaupt nicht spezialisiert ist.

Der zweite Vorteil der vielen unabhängigen Server ist die bessere Kontrolle von Hass und Hetze. Auf Twitter war es doch so: Wurde man beleidigt, meldete man dies in die Firmenzentrale. Dort hatte man viel zu tun, verstand auch nicht alle Sprachen der Welt, hatte nur ein kleines Team und drückte dem gesamten Netzwerk amerikanische Moralvorstellungen auf, die eher Nippelbilder als Morddrohungen bestraft. Wenn man auf Mastodon beleidigt wird, wendet man sich an den Administrator oder das Team des eigenen Servers, und nicht an eine ferne Zentrale. Der kann dann die entsprechende Person serverweit blockieren, und natürlich ist es auch möglich, Strafanzeige zu stellen. Aber es kommt noch besser: Vor einigen Jahren hat ein rechtes Netzwerk eine Mastodon-Instanz aufgesetzt. Die hat sich mit den anderen Servern verbunden, dann haben Leute von dort angefangen, Hetze zu verbreiten. Da haben die Admins der anderen Instanzen sich zusammengeschlossen und diesen Server aus dem Netzwerk ausgeschlossen. Es gibt jetzt also eine Mastodon-Instanz, wo die rechten Trolle unter sich sind und miteinander in Verbindung stehen, aber praktisch nicht mit der Außenwelt. Ich finde, das ist ein wirksamer Schutz.

Seit 2018 verwendet Twitter einen Algorithmus. Vorher wurden alle Beiträge von Menschen, denen man folgte, in der Reihenfolge ihres Eintreffens in der Zeitleiste angezeigt, ungefiltert, unbewertet. Doch Twitter näherte sich mit dem Algorithmus Facebook an, indem es nun Inhalte von Personen, die man einmal geliked hatte, gut sichtbar oben in der Zeitleiste platzierte. Damit nahm die Firma Twitter Einfluss darauf, was man als Nutzer*in häufiger zu sehen bekam. Es gab und gibt ein paar wenige Programme, darunter die, die für uns blinde Menschen speziell programmiert worden sind, die die Zeitleiste noch unbeeinflusst darstellen, doch das ist inzwischen die Ausnahme. Durch den Algorithmus ändert sich übrigens auch die Bedeutung der Menge an Followern, die man hat. Man kann 10.000 Follower haben, das nützt einem überhaupt nichts, was die Reichweite angeht. Nur, wenn man etwas schreibt, was geteilt und geliket wird, kriegen die Follower diese Beiträge auch tatsächlich so auf ihrer Zeitleiste zu sehen, dass man den Beitrag auch bemerkt. Denn wenn man vielen Menschen folgt, ist die Zeitleiste voll, und man übersieht, was von Twitter nicht besonders gepusht und herausgestellt wird. Viele Menschen glauben aber immer noch, die Menge an Followern sagt etwas darüber aus, wieviele Menschen die eigenen Beiträge lesen. Das ist aber ein Irrtum. Es sagt nur, dass all diese Menschen irgendwo in ihrer übervollen Zeitleiste diesen Beitrag bekommen. Beiträge, die kontroverse Debatten und Aufregung erzeugen, werden natürlich häufiger geteilt und auch gelieket, selbst Beleidigungen und Drohungen. Wer also die Aufmerksamkeit des Algorithmus erregen will, sodass die eigenen Beiträge bei den Followern gut sichtbar platziert werden, der schreibe etwas, woran man sich reiben, worüber man sich aufregen kann. Krawallmacherei wird von Twitter belohnt, Hass und Hetze ebenso. Auf Mastodon hingegen gibt es keinen derartigen Algorithmus. Wenn man dort 10.000 Follower hat, nützt einem das auch nicht besonders, denn die eigenen Beiträge werden nicht gepusht. Besser ist es, man hat weniger Follower, aber dafür die, die sich wirklich für das interessieren, was man zu sagen hat. Wenn man weniger Menschen folgt, kann man alles, was sie schreiben, wirklich lesen. Man muss sich die Leute, denen man folgt, aussuchen, doch dafür findet mehr echte Interaktion statt. Und wenn man etwas schreibt, was die eigenen Follower gut finden, teilen (boosten) sie es mit ihren Followern, und es verbreitet sich über das Fediversum.

Einige, die neu auf Mastodon sind, beschweren sich überjeden Unterschied zu Twitter. Z. B. sagen sie, dass es nicht möglich ist, Toots anderer Leute vor dem Teilen mit einem eigenen Kommentar zu versehen. Das stimmt, und das ist auch so gewollt. Auf Twitter hatte sich der Trend durchgesetzt, Tweets von Menschen, die nicht der eigenen Meinung waren, zu verbreiten und sie mit dem eigenen Kommentar lächerlich zu machen. Es war ein Reden mit sich selbst, ein Hinausbrüllen des eigenen Standpunktes, wobei der Ursprungstweet in den Hintergrund geriet. Außerdem fand keine Interaktion statt. Deshalb kann man zwar auf Mastodon Beiträge teilen, aber will man sie kommentieren, muss man das in einem eigenen Toot tun. So wird beides voneinander getrennt und auch zu klar unterscheidbaren Statements. Ich gebe zu, dass ich mich anfangs auch daran gewöhnen musste, doch inzwischen leuchtet mir diese Regel ein.

Überhaupt Regeln: Es gibt ein paar Grundregeln von Mastodon, die jeder Serveradministrator anerkennen muss, wenn ein neuer Server aufgesetzt wird, doch die Admins können auch für ihren Server eigene Regeln festlegen. Die Instanz chaos.social beispielsweise, die dem Chaos Computer Club nahesteht, verlangt von jedem User, sich mit 1 Euro monatlich an den Kosten zu beteiligen. Wir sind gewohnt, dass Twitter nichts kostet. Dafür hat es Werbung und einen unfairen Algorithmus. Mastodon hingegen hat aufopferungsvolle Moderator*innen und Administrator*innen, die oft in ihrer Freizeit ihre Instanzen betreiben, und die an ein gutes, dezentrales Netzwerk glauben. Wenn jeder User 1 Euro bezahlen würde, wären die Serverkosten tatsächlich gedeckt. Gute Qualität kostet etwas, es muss ja nicht viel sein.

Die Nutzerin Thalestria beschrieb in einem Toot die Vorteile von Mastodon aus ihrer Sicht: „- Fame ist irrelevant
– Reichweite auch
– Geld ist hier nicht zu verdienen
– Kontakte zu Menschen sind wichtig
– Unterstützung ist da, wenn mann oder frau sie braucht
– jeder darf hier mit allen reden so viel er oder sie will
– boosten ist okay, aber keine Voraussetzung
– besternen ist schön und freut den Empfänger, aber schafft keinen Fame – hier gibt es Schutz vor Trollen und Hass
Kurz: hier geht es um Menschen.“
Und die SPD-Vorsitzende Saskia Esken trötete oder tootete:
„„Holt Euch Euer Netz zurück!“ Das ist es, was Tim Berners-Lee, der Erfinder des Internets uns rät. Kapitalverwertung und zentralistische Monopole haben seine emanzipative Ursprungsidee kaputt gemacht. Wir sollten wieder auf Humanität und Offenheit setzen, auf Dezentralität, Privatheit und Souveränität. Und die Kontrolle übernehmen.“

Wer nur auf Reichweite starrt, auf Followerzahlen, dem geht es vor allem um Einfluss. Wenn das alle tun, relativieren sich die Einflüsse gegenseitig. Damit stellte sich für mich die Frage, was ich eigentlich von einem sozialen Netzwerk erwarte. Vor ein paar Tagen schrieb ich einige meiner Gedanken auf:
„Die letzten Tage sind das erste Mal seit Ende Mai, dass ich mich wieder intensiv mit Politik beschäftigt habe, und mir tut es wirklich gut, dass ich das nicht auf Twitter getan habe. Ich werde Twitter vollständig verlassen. Ich möchte mich gern auch über politische Themen austauschen, auch mal kontrovers debattieren, aber eben respektvoll. Und ich hoffe, dass das auf Mastodon weiterhin möglich bleibt.
Ich denke darüber nach, wie sich der Ansturm der Menschen von Twitter auf Mastodon auswirkt. Warum kommen sie her? Was versprechen sie sich von einem sozialen Netzwerk? Manche finden sich hier nicht zurecht, fühlen sich wie auf einer einsamen Insel. Sie sind inzwischen die Algorithmen gewöhnt, die natürlich das Leben scheinbar erleichtern, wenn die eigene Zeitleiste unüberschaubar groß ist.
Der Punkt ist ja, dass man eben drüben stolz auf möglichst viele Freunde und Follower war. Dann war man beliebt, anerkannt, hatte etwas zu sagen. Da brauchte man irgendwann die Sortierung durch den Algorithmus. Doch paradox war ja, wie ich selbst erlebte, wenn man dann recht selten postete, kam man selbst bei großer Followerzahl nicht an. Was also kann man von Mastodon erwarten, wenn man neu hier ist?
Ist es nicht vielleicht so, dass ein soziales wirklich ein soziales Netzwerk sein muss, wo man mit den Menschen Umgang pflegt, die gleiche Interessen in irgend einer Form haben? Ist das virtuelle soziale Netzwerk nicht auch eines, wo der Begriff „Freund“ zumindest bedeuten muss, dass man sich in bestimmten Interessen nahesteht und austauscht? Denn wir wollen doch ohne Algorithmus bleiben, nicht wahr? Dann müssen wir die Menschen auf die Instanzen verteilen.
Und wir müssen, glaube ich, eine neue Philosophie von sozialen Netzwerken entwickeln, oder vielleicht habt ihr sie schon entwickelt. Ich stelle mir vor, dass wir in einem solchen Netzwerk wirklich Gleichgesinnte suchen sollten, und nicht Followermassen. Denn nur, wenn wir erkennen, dass wenige Follower ein großer Schatz sind, wenn es die Richtigen sind, kommen wir weiter, denke ich.“

Beeindruckt hat mich von Anfang an, dass der Ton auf Mastodon viel freundlicher, mitmenschlicher und konstruktiver war. Zum Einen trägt dazu natürlich die einfache Möglichkeit bei, gegen Störer vorzugehen, aber auch die Tatsache, dass man Toots hinter sogenannten Content-Warnungen verstecken kann. Themen, die andere Nutzer*innen traumatisieren könnten, oder die einfach sehr aufwühlend sind, sollte man hinter dieser Warnung platzieren. Dann kann sich jeder und jede Lesende selbst überlegen, ob und wann sie oder er den Toot lesen mag. Damit wird die Atmosphäre entspannter. Und wenn es dann zu einem Meinungsaustausch über aktuelle und emotionale Themen kommt, dann ist dieser Austausch auch so gewollt, und zwar von beiden Seiten.

Auch ist die Solidarität unter den Fedinauten beeindruckend: Die meisten Toots mit Bildern haben eine Bildbeschreibung, weil man von Anfang an daran gedacht hat, das zu einem Teil der Netiquette zu machen. So ist auch die Web-Oberfläche von Mastodon sehr zugänglich, und es gibt auch eine Web-Application namens Pinafore, mit der es sogar noch ein wenig besser geht.

Nachdem ich jetzt seit einigen Wochen intensiv via Mastodon im Fediverse unterwegs bin, um es korrekt zu sagen, habe ich für mich einige Dinge klar festgestellt: 1. Der Umgangston ist freundlicher, die Community ist hilfsbereit und geduldig,
2. Das Netzwerk ist dezentral und nicht an Geschäftsinteressen gebunden, kann auch nicht gekauft oder verkauft werden, 3. Barrierearmut ist Teil der Netiquette,
4. Hass und Hetze zu bekämpfen, ist einfacher,
5. Es gibt keinen manipulativen Algorithmus,
6. Die Bedürfnisse von marginalisierten Gruppen wie Migrant*innen, LGBTIQ-Menschen, Menschen mit Behinderung aller Art, werden weitestgehend berücksichtigt.

Die Behauptung, für den Normalnutzer und die Normalnutzerin sei das Fediverse zu kompliziert, kann ich nicht teilen. Sascha Lobo, den ich normalerweise sehr schätze, hat sogar behauptet, man müsse seinen eigenen Mastodon-Server betreiben, um wirklich im Fediverse mitmachen zu können. Das ist natürlich Unsinn, ich betreibe selbstverständlich keinen eigenen Server. Aber selbst wenn ich das wollte, so könnte ich das via masto.host tun, ohne selbst programmieren können zu müssen. Allerdings stimmt es auch, dass man sich am Anfang ein wenig zurechtfinden muss, dass es eine Weile braucht, bis die Zeitleiste wieder so voll ist wie auf Twitter, dass man selbst nach Menschen suchen muss, denen man folgt, dass die eigenen Beiträge und deren Verbreitung allein dafür verantwortlich sind, wieviele Menschen dir folgen, und dass die Anzahl der Follower geringer ist. Die tatsächliche Reichweite mag aber sogar höher sein als auf Twitter.

Auf einem Netzwerk, das der politischen Agenda eines rechten Multimilliardärs dient, das offen für rechtsextreme Propaganda ist, die Menschenrechte bedrängter Gruppen nicht schützt und keinen sicheren Diskussionsraum bietet, möchte ich nicht sein. Deshalb verlasse ich jetzt Twitter. Es war schön, so lange es dauerte, und es war lange Zeit auch bereichernd. Es gibt Accounts, die ich auf Mastodon vermissen werde, und einige aufbereitete Informationsquellen werden mir fehlen. Doch die Nachteile überwiegen. Danke an alle lieben Menschen, die ich auf Twitter kennenlernen durfte und mit denen ich dort debattierte oder Freundschaft schloss. Und wenn ihr wollt, lesen wir uns via Mastodon.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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