Hornochsen gibt es überall oder: Der Mythos vom empfindlichen Blinden

Heute ist mir wieder so’n Ding passiert, auf das ich gut und gerne hätte
verzichten können. Ich schlenderte so munter für mich hin durch die schöne
Stadt Marburg an der Baustelle, als ich auf ein unerwartetes Hindernis
stieß: Mitten auf der Kreuzung, da wo für gewöhnlich ein Überweg gewesen
war, stand nun – malerisch in die reizvolle Landschaft eingebettet – ein
hoher Gitterzaun.

Begreiflicherweise wußte ich nicht sofort, wo es
weiterging, war ich doch schon länger nicht an dieser Kreuzung gewesen. Und
da begegnete mir dann so ein Idiot, wie man ihn gott sei Dank nicht täglich,
aber doch viel zu oft trifft. Er kam mit seinem Fahrrad ans Gitter gerauscht
und blaffte mich an: „Da kannste nich rüber! Da ist ein Gitter!“ Leider kann
man Tonfälle nicht schriftlich wiedergeben, aber seiner sagte: „Stell Dich
doch nicht so bescheuert an!“ Ich sagte: „Das ist toll, das hab ich auch
schon gemerkt! Aber wie komme ich jetzt hier weiter?“ Ich wollte wissen, ob
es eine Lücke gäbe. Da patzte er mich an: „Da mußte halt schon mal auf die
andere Seite rüber und dann die andere ampel nehmen!“ Der Ton war echt unter
aller Sau, und außerdem hätte ich ja ortsfremd sein oder sonstwie die
Orientierung verloren haben können. Ich sagte: „Danke, aber das hätten Sie
auch nett und freundlich sagen können!“ Da dreht er sich zu mir um und sagt
richtig zornig: „Ach Du scheiße! Meine Güüte! Ich war an der Blista!“ Das
erklärt natürlich alles, oder? Die Blista, das ist die deutsche Blindenstudienanstalt, und weil er
mal „da“ war, was immer das bedeutet, weiß er natürlich Bescheid, oder? Ist
doch logisch! Er hat mal Blinde gesehen, und deshalb weiß er, wie man mit
denen umgeht. Ich rief ihm dann nach: „Was hat das denn damit zu tun? Man
kann zu jedem Menschen nett und freundlich sein!“ Aber darauf reagierte er
dann nicht. Ich wette, er radelte völlig ärgerlich weiter und dachte sich,
wie empfindlich manche Blinde doch sind… Aber ist das nicht denkbar
bescheuert? Er ist einfach nicht auszurotten, der Mythos vom empfindlichen
Blinden, wahlweise auch anders behinderten. entweder man trifft die Leute,
die einen hyperrücksichtsvoll ansprechen oder überhaupt nicht wissen wie,
oder man trift die, die sich das Bild zurechtgelegt haben, daß „ein Blinder“
nicht bemitleidet werden will, und die gewöhnen sich dann einen megaruppigen
oder kumpelhaften Ton an. „Ich war mal an der Blista“ hieß nix anderes als:
„Ich weiß, daß Du für ne blinde untypisch reagierst. also hab ich mir nix
vorzuwerfen.“ Ich höre so oft, daß ich nachsichtig sein soll, gegen alle
formen von Unbeholfenheit und Unsicherheit, zu denen auch mal so was zählen
kann, wie der da an den Tag legte – schließlich hat der sich doch auch
was dabei gedacht! – aber manchmal bin ich diese Denkweise im Grunde
verdammt Leid. Man stelle sich vor: Ich gehe mit einer blinden Freundin die
Straße runter und wir haben keine Uhr dabei. Dann sagt sie: „Laß uns doch
mal den, der uns da entgegen kommt, nach der Zeit fragen“, und ich antworte:
„Nee Du, ich kenn da ’n paar sehende. Die sagen Dir nie die Zeit“, nur weil
ich ein paar in der Fußgängerzone getroffen habe von der Sorte, die sicher
jeder kennt und die immer in Hektik sind. Oder ich komm von einer
Bhagwan-Veranstaltung und sage: „Die sehenden mögen alle rot.“ Wie können
sich so viele herausnehmen, einen Behinderten zu kennen und sich gleich zum
Experten zu erklären? In gewisserweise zieht ja jeder Schlüsse aus
Begegnungen, aber muß man die dann immer gleich zum Credo erheben? Von mir
aus war er eben an der Blista! Aber was weiß er davon, daß manche Blinde,
grade Tumorpatienten, oft einen Teil ihres räumlichen Wahrnehmungsvermögens
verloren haben und große Orientierungsschwierigkeiten haben? Was weiß er
davon, wie die Orientierung sich unterscheidet, wenn man noch Farbreste
sieht oder eben nicht sieht? Nichts weiß er, genausowenig wie ich bei
sehenden, die ich treffe, sagen kann, ob sie gut einparken können oder
nicht. Nicht jedenfalls, bevor ich mit ihnen Auto gefahren bin. Und ich bin
leider nicht einzuordnen: Nicht unter die, die besonders kumpelhaft
behandelt werden wollen, weil sie dann glauben, den anderen „gleicher“ zu
sein, und nicht unter die, die einen besonders rücksichtsvollen Ton
erwarten. Ich erwarte nur einen freundlichen und menschlichen Umgang – wie
jeder andere Mensch auch. Ach ja: Und dann bin ich nochmal besonders
kompliziert! Ich bin dann auch noch jeden Tag unterschiedlich gelaunt! Mann,
wie soll ein nicht behinderter *da* aber auch noch durchsteigen! Da gibt’s
nur eins: Behinderte sind auch Menschen, und man kann ihre Verhaltensweisen
einfach nicht lernen wie bei Meerschweinchen oder Pinselohraffen. Man muß
sich schon mit dem Menschen befassen, der da vor einem steht. Und da man ja
bei niemandem weiß, wann und wo einem der wiederbegegnet, sollte man lieber
freundlich sein. .

Dieser Beitrag wurde unter Behinderung, Leben veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

3 Antworten zu Hornochsen gibt es überall oder: Der Mythos vom empfindlichen Blinden

  1. toberbossel sagt:

    Hallo,

    ja, diese nette Baustelle kenne ich auch, und ich habe da auch schon erlebt, dass es verdammt schwierig ist, darum herumzulaufen.

    Was die Umgangsformen angeht, so ist das richtig, dass jeder Mensch jeden Tag anders drauf ist und daher besser freundlich mit seinen Mitmenschen reden sollte, allein um sich selbst nicht unnötig ärgern zu müssen, wenn dann verständlicherweise zurückgeraunzt wird.

    In Deutschland habe ich es bisher leider zu häufig erlebt, dass nichtbehinderte Menschen sich lieber ein Bild zurechtlegen, weil sie entweder aus Angst vor rüden Antworten oder peinlicher Berührtheit nicht fragen wollen, ob jemand zurechtkommt.

    Bei besagter Baustelle wollte ich mit einer Bekannten auch einmal weiterlaufen, hangelte mich dabei am Gitter lang, dabei aber schon auf der Fahrstraße. Zwei Passantinnen kamen von hinten und sagten: „Entschuldigung, Sie laufen auf der Straße!“ Wir haben dann geantwortet, dass wir das wohl wüßten, aber nach dem Ende der Baustelle suchten und daher am Gitter langlaufen müssten. Die beiden Damen haben uns dann geholfen, um die Baustelle rumzulaufen, bzw. auf der anderen Straßenseite einige Meter weiterzugehen und dann, als gerade kein Auto kam, überzuwechseln. Warum die da jetzt die Baustelle haben, wo es bald Winter ist weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ein ruhiger Tonfall viele Dinge einfacher macht als ein ruppiger. Und was den Herrn angeht, der dir begegnet ist, der war bestimmt schon angefrustet und meinte, der Pfadfinderregel nr.1 entsprechen zu können und damit seine Stimmung etwas aufpolieren zu können. Da ich aber in diesem Jahr die Erfahrung machen durfte, wie schnell mancher Sehende irritiert ist, wenn das Licht ganz aus ist und das Erkennen dann nur noch über den Tastsinn erfolgen kann, vermute ich mal, dass dem Radfahrer nicht klar war, dass du das Gitter als Gitter erkennen konntest und meinte, dich darauf hinweisen zu müssen um die berühmte gute Tat pro Tag vollbringen zu können. Das hätte er wahrlich einfacher haben können, wenn er gefragt hätte: „Entschuldigung, möchten Sie um die Baustelle rum?“ Aber da er ja an der BliSta war, hat der wohl gedacht, das der Hinweis auf das Gitter schon ausreichen möge.

    Ja, ich weiß, ist jetzt etwas sarkastisch. Doch ich habe es leider auch zu oft erlebt, dass Leute, die etwas gut meinen nicht bereit sind, sich erzählen zu lassen, wie sie es dann auch gut machen können.

    Thorsten Oberbossel

  2. Claudia sagt:

    Freundlichkeit und gute Laune verbreiten das sind ganz tolle Tugenden. Ich bewundere Menschen, die fast immer freundlich sind und nie die Übersicht verlieren.

    Unfreundliche Menschen – Hornochsen – wie du sie treffend bezeichnest gibt es leider viel zu viele. Es wäre schön, wenn man sie immer sofort vergessen könnte, wenn sie einem begegnet sind.

  3. Fabian Schwarz sagt:

    Dass Du die Muße aufbringst, über diesen blöden Vorfall so differenziert und pointiert zu berichten, finde ich bewundernswert. Ich fresse so was entweder in mich rein, oder kann mich darüber nur in wütendem und indifferentem Sprechdurchfall ergehen.

Schreibe einen Kommentar