Regierungsbildung auf Niederländisch – Teil 2: Das rechte Kabinett

Hier der zweite Teil der Reihe über die niederländische Regierungsbildung. Es wird immer ein paar Tage dauern, bis ein neuer Beitra erscheint. Er muss sorgfältig recherchiert werden, auch muss ich einige Originalzitate übersetzen. In diesem Teil beschreibe ich die Verhandlungen über die Bildung eines rechten Kabinetts.Montag, 14. Juni 2010 – Tag 5

 

Im Pressesaal der ersten Kammer des niederländischen Parlaments versammelten sich die Pressevertreter, um das erste öffentliche Statement von Prof. Uri Rosenthal zu hören, des neuen Informateurs. Der Informateur ist in den Niederlanden und Belgien ein Politiker oder Wissenschaftler, der im Auftrag des Staatsoberhauptes mögliche Regierungskoalitionen auslotet und bei Verhandlungen über konkrete Regierungsvorhaben hilft. Unter seiner Führung wird ein Regierungsprogramm ausgearbeitet, über das sich die Beteiligten einig sind, meistens ist der Informateur nach der Regierungsbildung aber nicht der Ministerpräsident. Oft ist er nicht einmal Mitglied der Regierung. So wird es auch bei Uri Rosenthal sein, der weiterhin als Politologe und Fachmann für Verwaltungskunde, und als Vorsitzender der VVD-Fraktion in der ersten Kammer arbeiten wird.

Obwohl ein Informateur beim Beginn seiner Arbeit eigentlich noch nicht viel sagen kann, war der Pressesaal um 10:15 Uhr an diesem Montagmorgen voll. Uri Rosenthal begann, indem er den Auftrag, den er erhalten hatte, noch einmal zu zitieren: „Königin Beatrix hat am Samstag, dem 12. Juni 2010, Prof. Dr. Uri Rosenthal ersucht, auch auf Grund der schwierigen Situation, in der sich unser Land befindet, kurzfristig zu untersuchen, welche Möglichkeiten auf Grundlage des Wahlergebnisses für die Bildung eines Kabinettes vorhanden sind, das auf eine fruchtbare Zusammenarbeit mit den Generalstaaten bauen kann. Hierzu soll als erstes die Möglichkeit eines Kabinetts untersucht werden, an dem sowohl die größte Partei, als auch der größte Gewinner beteiligt sind.“ Es ging, das war klar, um ein rechtes Kabinett. Zwar ginge es zunächst nur um eine Aufklärungsphase, ob alle drei Parteien bereit seien, zusammenzuarbeiten, erklärte Rosenthal, allerdings könne man so etwas nicht vom Regierungsprogramm lösen, also werde auch inhaltlich verhandelt. Zu diesem Zweck würden am Montag alle Fraktionsvorsitzenden ihm einen Besuch abstatten. Journalisten fragten ihn, warum er sich in dieser ersten Phase nicht auf die drei in Frage kommenden Vorsitzenden Rutte, Wilders und Verhagen beschränke. Rosenthal erklärte, dass sein Auftrag sich ja nicht nur auf diese eine Koalition beziehe. Er habe lediglich den Auftrag, diese Möglichkeit als erstes zu untersuchen. Er wolle aber sorgfältig arbeiten, wenn auch so schnell wie möglich, denn nicht umsonst habe die Königin auf die schwierige Situation verwiesen, in der das Land sich befinde. Eine solche Formulierung in einem Informationsauftrag sei zuletzt 1935 verwendet worden, in einer ähnlich großen Wirtschaftskrise also. Und man dürfe auch die politische Krise nicht unterschätzen, die zersplitterung der Parteienlandschaft, die nach der Wahl zutage getreten sei. Er werde also so schnell wie möglich, aber auch sehr sorgfältig und gründlich die möglichen Koalitionen untersuchen. Auf die Frage, ob er sein Amt nach der Erkundung der Möglichkeit des Rechtsbündnisses abgebe, wiederholte er, dass sein Auftrag lediglich verpflichte, das rechte Kabinett als erstes zu untersuchen. Er gehe davon aus, dass er, falls dieses Kabinett nicht zustande kommen sollte, auch die anderen Koalitionsmöglichkeiten erkunden werde. Zum Schluss referierte Rosenthal noch über den Ausdruck „fruchtbare Zusammenarbeit mit den Generalstaaten“, der in seinem Auftrag zu finden ist. Es gehe dabei darum, dass er versuchen müsse, ein Kabinett zustande zu bringen, dass auch auf ausreichende Unterstützung in der ersten Kammer bauen könne. Im Auftrag stünde nicht „fruchtbare Zusammenarbeit mit der zweiten Kammer“, sondern „mit den Generalstaaten“,womit das gesamte Parlament gemeint sei. Er gehe davon aus, dass die Mehrheitsverhältnisse so sein müssten, dass ein Regieren für das neue Kabinett möglich sei, ohne dass sich Fraktionen der ersten Kammer durch ein Regierungsprogramm der Fraktionen der zweiten Kammer gebunden fühlen müssten.

Natürlich stürzte sich die Presse auf den Vergleich mit 1935, und ausgedehnt wurde auch über die Tatsache gesprochen, dass alle Fraktionsvorsitzenden beim Informateur vorsprechen sollten, obwohl sie doch Freitag schon alle bei der Königin gewesen waren und es doch notwendig sei, so schnell wie möglich eine neue Regierung zu benennen. Und natürlich standen sie spalier, die Presseleute, als die Fraktionsvorsitzenden einer nach dem Anderen beim Informateur vorsprachen.

Als Mark Rutte beim Informateur eintraf, erklärte er, dass er zunächst die Fragen Rosenthals beantworten wolle. Für ihn sei wichtig zu erfahren, wie stabil die PVV von Geert Wilders sei, das sei notwendig, um mit ihr regieren zu können. Als Rutte nach anderthalb Stunden von seinem Gespräch mit Rosenthal zurückkehrte, äußerte er sich erstmals klarer über seine eigenen Vorstellungen. „Wenn Sie sich den Wahlausgang anschauen, dann haben VVD und PVV zusammen 23 Sitze gewonnen. Also liegt es auf der Hand, sehr ernsthaft über eine Zusammenarbeit nachzudenken. Es gibt da ein paar schwierige Fragen, aber es ist nicht unmöglich“, sagte Rutte den Pressevertretern. Eine solche Regierungskoalition würde dem Wahlausgang gerecht werden. Allerdings müsse die PVV klar sagen, ob sie z. B. an den Provinzwahlen im nächsten März teilnehme, so Rutte. Eine Teilnahme der PVV an diesen Wahlen ist für ein rechtes Kabinett notwendig, weil vermutlich nur so eine Mehrheit in der ersten Kammer erreicht werden kann. Für die PVV, deren einziges Mitglied Geert Wilders ist, der also allein alle Leute suchen und aufstellen muss, in jeder Gemeinde und Provinz, ist dies organisatorisch schwierig.

Job Cohen von den Sozialdemokraten, der nur einen Sitz weniger hat als Rutte, war sehr bescheiden und teilte nach seinem Gespräch mit Rosenthal lediglich mit, dass es richtig sei, zuerst die Möglichkeit eines Rechtskabinetts zu untersuchen, obwohl er eine andere Koalition vorziehe.

Politischer Druck kam aber von Geert Wilders. Als er gegen 15 Uhr sein Gespräch mit dem Informateur beendet hatte, äußerte er sich ausführlich. „Der Schlüssel für eine erfolgreiche Zusammenarbeit liegt nun bei den Christdemokraten“, sagte er und erhöhte damit den Druck auf CDA-chef Maxime Verhagen. „Mit uns kann man gute Geschäfte machen“, erklärte der Rechtspopulist. Er habe einen konstruktiven Standpunkt vertreten und sei zu Kompromissen bereit. „anderthalb Millionen Menschen haben uns gewählt, damit wir Verantwortung übernehmen. Und diese Menschen verstehen durchaus, dass man sich auch mal anpassen muss“, erklärte Wilders. Befragt nach den Problemen wegen der hauchdünnen Mehrheit, die die Rechtskoalition nur in der zweiten Kammer habe sagte Wilders: „Eine Mehrheit ist eine Mehrheit.“ Er zeigte deutlich, dass er unbedingt in die Regierung will, entgegen mancher Experten, die behauptet hatten, er wolle eigentlich gar nicht, um die Schuld Anderen in die Schuhe schieben und seine Partei noch größer werden lassen zu können. Doch Wilders setzte Maxime Verhagen unter Druck, einer Zusammenarbeit so schnell wie möglich zuzustimmen. Wie sich allerdings VVD und PVV auf sozialem und ökonomischem Gebiet einigen würden, konnte auch Geert Wilders noch nicht sagen. Obwohl die PVV in vielen Punkten sehr rechte Ansichten hat, teilt sie einige Auffassungen der Sozialisten über den Sozialstaat. So ist sie beispielsweise gegen eine Rentenalterserhöhung, die von der VVD aber unbedingt gefordert wird. Auch den massiven Einsparungen im Sozialsektor, die Rutte immer wieder ankündigt, steht die PVV skeptisch gegenüber. Doch auch auf diesem Gebiet sei er bereit, Kompromisse einzugehen, sagte Wilders. Dabei muss man wissen, dass Geert Wilders eigentlich aus der VVD kommt. Es gibt Leute, die vermuten, dass er eigentlich Ruttes Auffassungen teilt, in seinem eigenen Parteiprogramm jedoch eine andere Marschrichtung vorgibt, um sozial benachteiligte Menschen für sich zu gewinnen, die sich auch durch seinen Antiislamkurs angesprochen fühlen. Vielleicht fällt es ihm gar nicht schwer, seine sozialen Forderungen aufzugeben.

Im Laufe des Montages äußerten sich auch noch andere Fraktionsvorsitzende. André Rouvoet von der Christenunion sagte, er könne sich für seine Partei eine Zusammenarbeit mit PVV und VVD nicht vorstellen, es gebe zu viele Unterschiede. Die Fraktionsvorsitzende der Tierschutzpartei, Marianne Thieme, sprach sich offen für ein Kabinett „lila-plus“ aus. Sie erinnerte Mark Rutte daran, dass er auch schon über eine grünrechte Koalition nachgedacht habe. Eine nachhaltige Koalition könne aus den rechten Parteien nicht erwachsen, sagte Thieme. Auch Alexander Pechtold von den Linksliberalen D66 wiederholte seine Präferenz für ein Lila-Plus-Kabinett. Er könne den Kollegen von der VVD nur raten, noch einmal über eine Zusammenarbeit mit Geert Wilders nachzudenken, erklärte er sinngemäß und fügte hinzu: „Nicht vor allem wegen der Standpunkte der PVV, sondern wegen des Menschenbildes, das Herr Wilders die letzten 5 Jahre offenbarte. Ein Menschenbild der Gewalt und der Diskriminierung einer großen Anzahl von Menschen.“

Kees van der Staaij, der Fraktionsvorsitzende der christlich-orthodoxen SGP, erklärte, dass seine Partei grundsätzlich bereit sei, ein rechtes Kabinett zu tolerieren, wenn der CDA sich bereit finden würde, einem derartigen Kabinett beizutreten. Allerdings, so fügte er hinzu, habe man die Unterstützung seiner Partei dann nicht nötig, und es gebe auch programmatische Probleme mit PVV und VVD.

Maxime Verhagen war der letzte an diesem Abend. Auf ihn hatten alle gewartet. Weil er aber als amtierender Außenminister den ganzen Tag über in Luxemburg war, konnte er den Informateur erst am späten Abend aufsuchen. Nach seinem Gespräch erklärte er, dass er an einer ersten Verhandlungsrunde nicht teilnehmen werde. Zunächst müssten VVD und PVV klar zu erkennen geben, dass sie sich auf Grundsätze eines neuen Regierungsprogramms einigen könnten. Dann erst würde er überlegen, ob er mit dem CDA dazu passe.

Es war der Reichsinformationsdienst, der in seinen nüchternen Worten das weitere Vorgehen der Öffentlichkeit bekannt machte, indem er den Terminplan des Informateurs für die nächsten
2 Tage bekannt gab. Rosenthal werde sich am Dienstag zuerst mit dem noch amtierenden Ministerpräsidenten Balkenende, sodann mit den beiden Kammervorsitzenden und mit dem Vizepräsidenten des Staatsrates treffen, hieß es. Am Nachmittag empfange der Informateur dann zuerst Mark Rutte, dann Geert Wilders und schließlich beide zusammen zu Gesprächen über eine mögliche Regierungsbildung. Am Mittwochmorgen sei dann ein weiteres Gespräch mit Maxime Verhagen vorgesehen.

Dienstag, 15. Juni 2010 – Tag 6

Geert Wilders hatte offenbar nicht die Absicht, in seinem Druck auf den CDA nachzulassen. Schon am Morgen, noch bevor er zum ersten mal an diesem Tag mit Informateur Uri Rosenthal zusammen kam, sprach er die „dringende Bitte“ an Maxime Verhagen aus, sich doch sofort an Gesprächen über ein rechtes Kabinett zu beteiligen. Anders wäre es doch nicht möglich, Vertrauen zu schaffen, und er sei bereit dazu, eventuelle Bedenken des möglichen Koalitionspartners auszuräumen, erklärte Wilders. Die anderen Fraktionsvorsitzenden äußerten sich zunächst nicht, nur Maxime Verhagen antwortete indirekt. Es gebe große Unterschiede vor allem zwischen seinem CDA und Wilders PVV, ließ er wissen. Der PVV fehle es an einer Reformagenda. Außerdem sei ihre Haltung gegenüber dem Ausland und bestimmten Gruppen innerhalb der niederländischen Gesellschaft besorgniserregend. Es handelte sich um Statements, die auch im Wahlkampf hätten geäußert werden können. So sah das auch der langjährige Vorsitzende der sozialistischen Partei, Jan Marijnissen, als er sich am Abend in der Sendung „Met het Ook op morgen“ im Radio äußerte. Aus taktischen Gründen hätten CDA und VVD während des Wahlkampfes eine Koalition mit Wilders nicht ausgeschlossen, um möglicherweise noch rechte Wähler an sich binden zu können. Nun müssten sie diesen Mann los werden, obwohl er die größten Stimmenzuwächse erhalten habe, sagte Marijnissen. Der Politprofi, der schon seit den siebziger Jahren maßgeblich die Entwicklung der Sozialisten bestimmte, erinnerte sich an die Verhandlungen mit ihm vor 4 Jahren. Damals waren die Sozialisten die Partei mit den größten Stimmenzuwächsen, sogar noch erfolgreicher als die PVV heute. Man lud Marijnissen zu Gesprächen ein, inhaltlich aber machte man Verhandlungen unmöglich, weil man fast alles für nicht verhandelbar erklärte, bis die Sozialisten die Regierungsverhandlungen abbrachen. So verfahre man auch heute mit Wilders, der sich allerdings nicht so leicht beiseite schieben lasse, meinte Marijnissen. Im Gegensatz zu mir vertrat er die Auffassung, dass auch Mark Rutte kein Interesse an einem Regierungsbündnis mit Wilders habe, jedoch sein Gesicht wahren und Wilders oder Verhagen den schwarzen Peter zuschieben wolle.

Die Sozialdemokraten hatten bis zu diesem Dienstagmittag noch hoffen können, bei der Anzahl Sitzen im Parlament mit den Liberalen gleich ziehen zu können, weil der Wahlrat erst an diesem Dienstag die endgültige Sitzverteilung bekannt gab. Allerdings ist diese spannende Geschichte schnell erzählt, die Sitzverteilung blieb so, wie sie von den Medien seit Tagen berechnet worden war.

Eine andere Nachricht ging zwar fast unter, ist abe sehr interessant. Wissenschaftler der Reichsuniversität Groningen sagten eine Koalition aus VVD, PVDA und CDA voraus, das sogenannte „Kabinett der Mitte“ oder „nationale Kabinett“. Als Grundlage dienten die Wahlprogramme der Parteien und der Wahlausgang. Alle anderen Varianten seien unwahrscheinlich, ermittelten die Forscher. Auffallend ist an dieser Untersuchung, dass sie nach jeder Wahl durchgeführt wurde und bislang fast immer richtig gelegen hatt. Vor 4 Jahren hatten die Wissenschaftler zwei mögliche Koalitionen voraus gesagt, und eine davon war auch tatsächlich zustande gekommen.

Gegen Nachmittag, noch war nichts übe die Gespräche beim Informateur bekannt, meldete sich Jos Werner zu Wort. Er ist der Fraktionsvorsitzende des CDA in der ersten Kammer, also ein Politiker, derr zwar im Land nicht besonders bekannt ist, aber zur Führung des CDA gehört. Er glaube nicht, dass es zu einer rechten Regierung komme, erklärte Werner öffentlich: „CDA und PVV sind auf der Grundlage von Inhalt, Programm und Ideologie nicht zusammenzubringen“, erklärte Werner. Ungefähr zur gleichen Zeit rief Geert Wilders den CDA noch einmal auf, sich an den Verhandlungen zu beteiligen, weil es schwierig sei, nur mit zwei Parteien zu verhandeln. „Entweder Verhagen muss deutlich sagen: „Ich hab keinen Bock auf die PVV“, oder er muss sich beteiligen“, meinte Wilders. Verhagens Verhalten nannte er „nicht ehrlich“. Bevor er zum gemeinsamen Gespräch mit Wilders und Rosenthal zusammen kam, bestätigte Mark Rutte, dass er sowohl über die Äußerungen Werners, als auch die von Wilders informiert sei. „Wir haben ein sehr kompliziertes Wahlergebnis, und das zwingt mich, keinen Kommentar abzugeben“, sagte er den wartenden Journalisten. Dann gab er allerdings doch noch einen inhaltlichen Kommentar ab: Zwischen PVV und VVD gebe es einige Unterschiede im Bereich soziale Sicherheit und Gesundheit. In diesen beiden Bereichen sei die PVV eher linkslastig, aber er glaube daran, dass man darüber miteinander sprechen und eine Lösung finden könne. Andererseits habe Wilders während des Wahlkampfes einige vernünftige Dinge über die Haushaltskonsolidierung gesagt, und auch auf dem Gebiet Integration und Immigration werde man wohl Übereinstimmung erreichen, sagte Rutte.

Während Wilders und Rutte erstmals gemeinsam mit Rosenthal sprachen, veröffentlichte der Reichsinformationsdienst die Nachricht, dass Rosenthal am nächsten Morgen, noch vor dem Gespräch mit Maxime Verhagen, mit Wirtschaftsfachleuten sprechen wolle. Darunter der Chef des zentralen Planungsbüros, der noch amtierende Finanzminister und der Präsident der nationalen Bank. Das zentrale Planungsbüro ist wirtschaftlicher Ratgeber der Regierung und rechnet die wirtschaftlichen Folgen von geplanten Regierungsentscheidungen durch. In den Einzelgesprächen, die der Informateur mit den Fraktionsvorsitzenden führte, ging es also schon ums Eingemachte, obwohl nur spärlich Informationen nach außen drangen. Themen waren mit Sicherheit die VErringerung der Staatsschulden und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Allerdings ist das Problem Wirtschaftskrise in den Niederlanden nicht so ernst wie in vielen anderen europäischen Ländern, obwohl nicht weniger darüber gesprochen wird, im Gegenteil. Die Arbeitslosigkeit liegt aber derzeit bei 5 Prozent, es handelt sich um die niedrigste Arbeitslosigkeit im Euroraum. Die Staatsschulden sind zwar sehr hoch, aber weder mit Deutschland, noch mit Griechenland oder anderen gefährdeten Nationen zu vergleichen. Offenbar will man in den Niederlanden verhindern, dass es überhaupt so weit kommt, darum sollen frühzeitig tiefe Einschnitte in die soziale Sicherheit vollzogen werden, zumindest wenn es nach den rechten Parteien geht. Die Gespräche mit den Wirtschaftsexperten sollten eine klare Einsicht in die derzeitige Situation bringen.

Dann, gegen 22 Uhr, war das erste gemeinsame Gespräch der Herren Rutte und Wilders beim Informateur beendet. Wilders sagte überhaupt nichts, uind Mark Rutte teilte lediglich mit, es sei ein gutes Gespräch gewesen. Den ganzen Abend lang spekulierten die Journalisten über die Frage, was das inhaltlich bedeute, ein gutes Gespräch. Wie eben bereits erwähnt, meldete sich in dieser Situation Jan Marijnissen von den Sozialisten zu Wort und sagte deutlich, dass es nur bedeute, dass man Wilders abservieren wolle. Auf die Frage, welche Koalition Marijnissen denn für wahrscheinlich halte, gab er allerdings keine Antwort.

Mittwoch, 16. Juni 2010 – Tag 7

Der Tag, an dem sich nach Meinung vieler Beobachter das Schicksal eines rechten Kabinettes entscheiden sollte, begann mit einer Überraschung. Noch während Maxime Verhagen ausführlich mit dem Informateur sprach, gab seine Partei, der christlich-demokratische Appell bekannt, dass das letzte Wort über den Beitritt zu einer möglichen Koalition ein Parteitag haben werde. Es sei wichtig, in einer so entscheidenden Frage den Mitgliedern das letzte Wort zu überlassen, erklärte Henk Bleker, der Parteivorsitzende des CDA. Trotzdem habe Maxime Verhagen das Recht, frei zu verhandeln, und er genieße das Vertrauen der Partei. Politische Journalisten in Den Haag ließen nun allerlei Theorien hören, warum der CDA nicht wie üblich die Fraktion und die Parteispitze entscheiden lassen wollte. An der Parteibasis, so die meist vertretene Theorie, komme eine Teilnahme an einem rechten Kabinett nicht gut an. Wenn dieses aber jetzt scheitere, und alle anderen Optionen danach auch, könne man auf die rechte Regierung zurückkommen und der Parteibasis deutlich machen, dass man alles Andere, was möglich schien, versucht habe. Dann würde die Parteibasis selbst für eine rechte Koalition stimmen und sich beruhigen.

Zwei Stunden später erklärte Verhagen nach seinem Gespräch mit Uri Rosenthal, dass er derzeit noch nicht in der Lage sei, einer Koalition mit PVV und VVD beizutreten. „Ich hatte ein gutes Gespräch, aber ich habe nicht die Antworten bekommen, die ich wollte“, erklärte der noch amtierende Außenminister. Seine Haltung habe sich nicht verändert, er wolle erst wissen, wie VVD und PVV ihre Gegensätze überwinden wollten. Es gebe nach wie vor große Unterschiede zwischen CDA und VVD einerseits, und der PVV andererseits. Als Beispiele nannte er die Wirtschafts- und Finanzprogramme der Parteien, oder den Wunsch der PVV, das islamische Kopftuch für Frauen verbieten zu lassen, oder die sogenannte ethnische Registrierung für Ausländer. Er wolle allerdings am nächsten Morgen sein Gespräch mit Rosenthal fortsetzen, sagte Verhagen.

Donnerstag, 17. Juni 2010 – Tag 8

Als Maxime Verhagen am Donnerstagmorgen nach nur einer halben Stunde das Gespräch mit Informateur Rosenthal beendete und immer noch sagte, er könne derzeit nicht einer rechten Koalition beitreten, wussten alle, dass diese Runde ergebnislos abgebrochen werden würde. Es war derzeit nicht möglich, eine rechte Regierung zu bilden. Mark Rutte, der etwas später beim Informateur vorsprach, sagte allerdings deutlich, dass er diese Koalition bevorzuge. Er drückte sein Bedauern über die Haltung des CDA-Parteiführers aus. „Man kann nicht mit drei Leuten einen Tango tanzen, wenn nur zwei auf der Tanzfläche erscheinen“, erklärte Rutte enttäuscht. Geert Wilders äußerte sich ähnlich. Ohne Not habe der CDA die Möglichkeit eines rechten Kabinetts vergeben. Es war nur ein kleiner Nebensatz Ruttes, der mich an die journalistischen Spekulationen vom Vortage denken ließ. „Es ist immer noch möglich, dass eine rechte Koalition formiert werden kann“, sagte er. Dieser Ausspruch wurde nur selten in den Medien wiedergegeben, und die Überschriften behaupteten, dass die Chance für ein rechtes Kabinett vertan sei.

Am Donnerstagmittag erstattete Uri Rosenthal der Königin bericht, danach erschien er erstmals seit Montagmorgen wieder offiziell vor der Presse und wiederholte, was er in den letzten Tagen untersucht hatte. Obwohl er immer wieder betonte, über die Vorgänge kein Werturteil abgeben zu wollen, legte die Art seines Berichts nahe, dass Maxime Verhagen ohne Not, wie es auch Rutte und Wilders erklärt hatten, die Verhandlungen abgebrochen habe. „Von seiner Warte aus waren weder gemeinsame Gespräche, noch Gespräche unter 4 Augen mit Herrn Rutte oder Herrn Wilders derzeit möglich, obwohl ich ihn mehrfach darum gebeten habe“, erklärte der Informateur. Die Frage, wie es nun weitergehe, ließ er aber unbeantwortet. Er müsse noch darüber nachdenken. Später am Abend teilte der Reichsinformationsdienst mit, Rosenthal werde am nächsten Tag nacheinander Mit Mark Rutte, Job Cohen von den Sozialdemokraten, Maxime Verhagen, Alexander Pechtold von den Linksliberalen D66 und Femke Halsema von den Grünen sprechen. Allen war klar, dass dies der Anfang von Gesprächen über ein Lila-Plus-Kabinett sein würde.

Mir persönlich fiel allerdings etwas an dem Koalitionspoker auf. Auf der einen Seite redeten alle davon, dass es so schnell als möglich ein Kabinett geben müsse, auf der anderen Seite wurden der Machtpoker und das übliche Politkarussell fortgesetzt. Ich war mir sicher, dass man irgendwann auf das rechte Kabinett zurückkommen würde, wie Rutte es vorausgesagt hatte.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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