Netz macht Meinung, oder: Wie ich in die Verkürzungsfalle ging

Eigentlich müsstte ich jetzt noch mal einen äußerst langen Artikel über Joachim Gauck schreiben. Aber irgendwann liest das keiner mehr, weil so viele so vieles schreiben, weil das Thema sich abnutzt, weil doch nichts mehr zu ändern ist oder weil wir uns alle immer wieder im Kreis drehen. Erlauben Sie mir daher, über mich zu schreiben, auch wenn Joachim Gauck in diesem Beitrag immer noch eine prominente Rolle spielen wird.

Ich bin seit 10 Jahren ehrenamtlicher Journalist. Schon vorher habe ich auf meiner Homepage recherchierte Beiträge veröffentlicht, spätestens ab Oktober 1997 habe ich damit begonnen. Immer wieder habe ich die Neigung von Journalisten kritisiert, irgendwelche Behauptungen ohne Überprüfung und tiefer gehende Ausleuchtung als Wahrheit zu verkaufen. Jetzt ist es mir selbst passiert, und das tut mir leid.

Als vor 20 Monaten Joachim Gauck gegen Christian Wulff bei der Bundespräsidentenwahl antrat, war er sehr beliebt. Gerade im Internet genoss der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und evangelische Pfarrer einen ungeahnten Zuspruch. Nur die Linkspartei wetterte gegen ihn, er wurde als Jäger und Hetzer bezeichnet. Die Koalition zollte ihm Respekt, und SPD und Grüne machten ihn zu ihrem Kandidaten. Und schon damals schloss ich aus dieser Tatsache, dass Joachim Gauck eher links der Mitte anzusiedeln sei. Für mich war er bis dahin ein Beamter gewesen, ein ehemaliger Behördenchef, nicht mehr. Dass er deutlich sagte, dass er kein Linker sei, hatte ich nicht recherchiert.

Als es am vergangenen Wochenende um die möglichen Kandidaten für Wulffs Nachfolge ging, las ich in der von mir durchaus geschätzten TAZ, dass SPD und Grüne mit Gauck auf die Dauer vielleicht gar nicht so glücklich wären. Gauck betrachte Freiheit nur als Abwehr gegen staatliche Willkür, während entfesselte Finanzmärkte keine rolle spielten. Und er sehe die Anti-Hartz-IV-Demos nur als Ruf nach einem fürsorglichen Staat, den er strikt ablehne. Als Gauck dann von allen auf den Schild gehoben wurde, und als ich ein paar recht selbstverliebte Äußerungen von ihm hörte, stellte ich für mich schnell fest, dass er für das Amt des Bundespräsidenten nicht geeignet war. Meine Meinung formte sich auf Twitter, vor allem durch folgenden, oft in verschiedenen Variationen verbreiteten Tweet: „Gauck findet Sarrazin mutig, Occupy kindisch, s21 Demos doof, Wikileaks datenklau. Was soll dieser Typ? Der hat keine Ahnung von unserer Zeit.“ Daraufhin ließ auch ich mich durch das Gehörte und Gelesene zu folgenden Twitter-Statements hinreißen: „Ehrlich gesagt bin ich nicht glücklich mit Gauck. Er ist sehr konservativ und egozentrisch. – Gauck nennt sich selber einen linken liberalen Konservativen und einen aufgeklärten Patrioten. – Der neue Bundespräsident Gauck mag volkes Stimme entsprechen und Kompromisskandidat sein, aber er ist sicher nicht überparteilich. – Und ein Bundespräsident Gauck ist sicher nicht modern. Siehe seine Äußerungen zur Occupy-Bewegung. – Ein Bundespräsident Gauck wird mehr über sich selbst reden als über die Nöte des Landes. Und die SPD wird seufzen. – Wir werden noch sehr viel Spaß mit ihm haben und vielleicht auch einen neuen Skandal? Stasi-Verwicklungen deuten sich an.“

Am Montag machte ich mir immerhin die Mühe, ein Gespräch Gaucks mit der Süddeutschen Zeitung zu lesen, in dem seine Äußerungen zu Thilo Sarrazin ausführlicher und intensiver besprochen wurden. Sie erschienen damit schon schwächer, weil sich Gauck inhaltlich deutlich von Sarrazin distanziert, aber die Tatsache, dass er den Mut hatte, über ein Thema, dass normalerweise der politischen Korrektheit unterliegt, offen zu reden, hervor hob. Ich finde Sarrazins Verhalten nicht mutig, aber macht Gaucks Meinung ihn zu einem ungeeigneten Bundespräsidenten? Den Gedanken habe ich lange nicht verfolgt, und ich bin etwas entsetzt darüber, dass meine Meinung über den künftigen Bundespräsidenten in aufgeheizter Stimmung am Twitter-Stammtisch entstand. Denn die Angriffe gegen Joachim Gauck wurden dort immer heftiger, immer verkürzter wurden seine Aussagen dargestellt. Gauck mag ein Konservativer sein, er mag damit in einigen Punkten nicht meiner Meinung sein, aber auch er hat verdient, dass man seine Äußerungen im Zusammenhang sieht, denn Joachim Gauck ist ein Redner, einer, der Themen und Sachverhalte von beiden Seiten beleuchtet und oft ein „einerseits“ und ein „andererseits“ aufzeigt. In einer echten Demokratie muss es möglich sein, einen Menschen auch trotz seiner andersartigen Meinung zu respektieren, und der Respekt für Joachim Gauck ging Stück für Stück verloren, auch bei mir. Der Reflex setzte ein, nachdem ich vielleicht 300 Tweets gegen ihn gelesen hatte, ihn als kalten, unsozialen Menschen anzusehen, dem das Schicksal der Menschen egal ist, der die Sozialsysteme abschaffen will und ähnliches. Und all dies habe ich ohne Überprüfung seiner Aussagen gelesen, geglaubt und teilweise selbst verbreitet. Das ist etwas, was mir nach 6 Jahren Arbeit bei www.ohrfunk.de eigentlich nicht mehr passieren dürfte.

Es liegt an der scheinbaren Leichtigkeit, an Informationen zu kommen, sie zu multiplizieren, sie zu verdichten und zu konsumieren. Es ist einfach, nachzuplappern, was man gehört hat. Sollen doch die Anderen die Recherchearbeit machen, man selbst hat ja keine Zeit, man macht Stimmung, nicht Recherche. Immer am Puls der Zeit sein, sich nicht durch langes Suchen ablenken lassen. Das kostet Zeit, da kann man ja bald nichts anderes mehr tun. Eine Falle, in die ich gegangen bin. Und die zweite Falle war, die sogenannte Netzgemeinde per se für gut informiert zu halten. Aber mit jeder Verbreitung, mit jedem Kommentar verzerrt sich die ursprüngliche Aussage. Das ist normal und in ordnung, man muss sich dessen nur ständig bewusst sein. Und das habe ich vernachlässigt.

Der öffentliche Rückzieher einer bekannten Journalistin, eine Kollegin, die mir riet, doch mal Gaucks Buch zu lesen, und einige analytische Artikel zeigten mir dann deutlich, dass ich etwas unreflektiert auf Joachim Gauck eingedroschen habe. Daraufhin habe ich angefangen, Originalquellen zu lesen. Meine erste Feststellung war, dass er eigentlich nie knallharte, einfache Sätze von sich gibt. Ich habe ihm 90 Minuten bei einer Debatte über Freiheit und Sicherheit und die Vorratsdatenspeicherung zugehört. Ich habe ein ausführliches Interview mit der süddeutschen Zeitung gelesen. Danach glaube ich: Joachim Gauck ist kein Anhänger Thilo Sarrazins, und er befürwortet die Vorratsdatenspeicherung nur sehr bedingt. Viel wichtiger als Gaucks Meinung in Detailfragen ist allerdings für mich die Erkenntnis, dass es sich eben um Detailfragen handelt, wenn sie auch wichtig sind. Und wenn Joachim Gauck da völlig anderer Meinung ist als ich, kann er trotzdem Bundespräsident sein.

Das bedeutet nun für mich nicht, dass der zukünftige Schlossherr von Bellevue zu der Lichtgestalt geworden ist, die viele etablierte Medien in ihm sehen. Man muss sich Zeit für ihn nehmen, dann hört man seine eloquent vorgetragenen und durchaus differenzierten Meinungsäußerungen, die sich selten in wenigen Worten zusammenfassen lassen. Für einfaches Schwarz-Weiß-Denken ist er zu vielschichtig und zu analytisch. Das bedeutet eben auch, dass man einige Äußerungen, die wirklich schwierig sind, erst bei genauerem Hinsehen findet. Denn bei aller Relativierrung meiner Kritik hat Joachim Gauck meiner Ansicht nach ein sehr problematisches Verhältnis zum Sozialstaat, wie Anatol Stefanowitsch im Sprachlog zeigt. Gauck hält unsere Gesellschaft für zu materialistisch und den Menschen für glücklicher, wenn er in Gemeinschaft lebt. Auf die seltsam klischeehafte Frage der SZ: „Wie bringen Sie das den Menschen bei, die Hartz IV empfangen und ihre Kinder nicht jeden Tag zur Schule bringen, weil sie keinen Sinn darin sehen?“ antwortet Gauck: „Erst einmal sage ich ihnen, dass es keine Tugend ist, wenn man dort sitzt, den ganzen Tag Zeit hat und den Gören kein Mittag macht. Das darf man auch kritisieren.“ Und etwas später: „Neulich erzählte mir mein Fahrer von seinem Cousin, der mit den gesamten Sozialleistungen ungefähr 30 Euro weniger als er hat. Mein Fahrer muss aber fast immer um fünf Uhr aufstehen. Er sei der Dumme in der Familie, aber er sagte mir auch: „Ich kann das nicht, ich kann nicht so dasitzen.“ Da habe ich gesagt, dass er denen erzählen soll, wie gut er sich mit Arbeit fühlt. Wir sehen ja auch in den Kreisen der Hartz-IV-Empfänger Leute, die politisch aktiv sind und auf eine Demonstration gehen. In diesem Moment verändert sich schon ihr Leben. Sie zeigen Haltung. Das ist sehr viel wichtiger, als dafür zu sorgen, dass die Alimentierung immer rundum sicher ist.“ Anstatt sich über die schlechte Bezahlung seines Fahrers Gedanken zu machen, lobt Gauck die Arbeit, egal für wie wenig Geld, und die, die keine Arbeit haben, bekommen Alimentierung, die nicht so wichtig ist wie das Bewahren von Haltung? Es mag ja sein, dass Joachim Gauck, der auch in der DDR zu den Begünstigten zählte, obwohl er nicht Journalismus studieren durfte, und obwohl er sich strikt weigerte, als Kind zur FDJ zu gehen, ein Trauma davongetragen hat, das ihm jede Sozialleistung wie die Gabe eines fürsorglichen Staates erscheinen lässt. Aber das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes sollte er als Bundespräsident schon ernst nehmen. Und um die Freiheit mit gestalten zu können, um Verantwortung übernehmen zu können, bedarf es einer gewissen materiellen Sicherheit, denn sonst hat man anderes zu tun. Der künftige Bundespräsident täte gut daran, sich im Land umzuschauen und die Lebenswirklichkeit seines Volkes im kapitalistischen Staat kennenzulernen, den er bislang nur als positiven Gegenentwurf zur kommunistischen Diktatur ostdeutscher Prägung kennt. Es wird Zeit, das er sich von seinen DDR-Ansichten emanzipiert und die heutige Realität kritisch begleitet. Dann kann meiner Ansicht nach aus Joachim Gauck mit seiner brillanten Art zu reden ein guter Bundespräsident werden.

Die letzten Tage haben mich dazu gebracht, vorschnell und aufgrund unsicherer Quellen Parolen zu übernehmen, weil sie gerade so in mein Denkschema passten. Ich hoffe, ich werde daraus eine Lehre ziehen. Nachplapperer haben wir genug, ich muss nicht auch noch so einer werden.

 

Weitere interessante Links:

Hintergrund des Deutschlandfunks zu Joachim Gauck

Spiegelfechter: Kandidat der Herzen? Ein Theologe der Herzlosigkeit

Verzerrte Zitate: Gauck und die Stille Post im Netz von Sascha Lobo

Heise: Gauck gegen Wikileaks und für Vorratsdatenspeicherung

Gauck: Freiheit und Demokratie in Zeiten der Krise

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Bloggen, Computer und Internet, erlebte Geschichte, Politik abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar