Gelebte Verfassung 1: Staatsgrundsätze und Widerstandspflicht

Unter dem Titel „gelebte Verfassung“ möchte ich die derzeit in der staatspraxis meiner Ansicht nach angewandte Verfassung darstellen. Ich nehme mir in jedem Posting einen Artikel vor, der vom offiziellen Grundgesetz abweicht, und schreibe ihn so, wie ich finde, dass er tatsächlich „gelebt“ wird. So wird der Unterschied zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit deutlich, wie ich ihn erlebe. Damit möchte ich keinen sozialistischen Bestrebungen Vorschub leisten. Ich für meinen Teil stehe fest zu dem, was in diesen Texten das offizielle Grundgesetz genannt wird.

„Artikel 1: Staatsdefinition, -Aufbau und Widerstandspflicht
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist eine föderale, neoliberale Lobbykratie und Parteienoligarchie.
(2) Alle Staatsgewalt geht von den Lobbyverbänden aus. Sie wird von ihnen durch Geldzuwendungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an den in diesem Grundgesetz niedergelegten Willen der Lobbyverbände und der vollziehenden Gewalt, die vollziehende Gewalt selbst und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu kritisierren, zu beeinträchtigen oder gar zu beseitigen, haben alle Staatsorgane, die Lobbyverbände und die Rechtsanwälte die Pflicht zum Widerstand.“

Kommentar: Bevor die einzelnen Bestimmungen dieses Artikels erläutert werden, soll auf einige Änderungen gegenüber dem offiziellen Grundgesetz hingewiesen werden. In der „gelebten Verfassung“ fehlt die Präambel völlig. Dies ist auf den nüchternen und ökonomischen Zeitgeist zurückzuführen. Zwar werden Diskussionen in der deutschen Gesellschaft über Normen und Werte geführt, Ideale allerdings sind hierbei nicht gemeint, sondern Verhaltensnormen in moralischer und gesellschaftlicher Hinsicht. Die gelebte Verfassung trägt diesem Zeitgeist rechnung. Ebenfalls ist es der ökonomischen Ausrichtung der derzeitigen deutschen gelebten Verfassung geschuldet, dass dieser Artikel der erste des Werkes ist. Im offiziellen Grundgesetze findet er sich nach den sogenannten Grund- und Menschenrechten an Position 20. Die gelebte Verfassung ist in ihrer Einschätzung solcher Grund- und Menschenrechte zu den Vorstellungen der weimarer Reichsverfassung zurückgekehrt. Selbstverständlich enthält eine moderne Verfassung Grundfreiheiten, jedoch als Staatszielbestimmungen und nicht am Beginn der Verfassung, sondern im vorletzten Kapitel.

Zu Absatz 1: Hier werden die Grundwerte des Staates definiert.
Die BRD ist ein föderaler Staat. Sie besteht aus Ländern, die eigene Befugnisse haben. Auch werden sie an der Gesetzgebung des Gesamtstaates beteiligt, sofern es den übergeordneten Staatszielen dienlich ist.
Die BRD ist neoliberal ausgerichtet. Ihr Ziel ist es, das Unternehmertum zu stärken, die Rechte der Arbeitnehmer einzuschränken und den globalen Wettbewerb der Großkonzerne zu unterstützen. Hier wird ein Paradigmenwechsel weg vom Sozialstaat, wie er im offiziellen Grundgesetz vorgesehen ist, hin zu einem wirtschaftsfreundlichen Staat vollzogen, der die Freiheit der Leistungsträger und Wirtschaftslenker herstellt und schützt. Die neue Freiheit, wie sie sich bereits im Wort „neoliberal“ ausdrückt, ist auf die Leistungsträger und global Player der Wirtschaft ausgerichtet. Sie kann von jedem für sich erlangt werden, der in der Lage ist, mit innovativen Ideen eine Förderung durch die Leistungsträger und Wirtschaftsführer zu erwirken. Gewinnmaximierung der im heimischen Staat ansässigen Wirtschaft ist das oberste Ziel des staatlichen Handelns. Somit wird auch die Sorgfaltspflicht gegenüber den anderen Normalbürgern erfüllt, deren Arbeitsplätze hierdurch gesichert werden, soweit es dem Willen der Lobbyverbände entspricht. Alle gesetzlichen beschränkungen der Freiheit der Wirtschaft sind so schnell wie möglich abzuschaffen oder so weit es gehtt zu minimieren.
Die BRD ist eine Lobbykratie. Maßgeblichen Einfluss auf das staatliche Handeln haben die Lobbyverbände der Wirtschaft, die durch die Unterhaltung von Parteien und Organe zur Volksbeeinflussung die Staatsgewalt ausüben. Ihr Einfluss stützt sich auf Geld und hervorragende Organisations- und Infrastruktur, sowie die notwendige Skrupellosigkeit bei der Durchsetzung ihrer Interessen. Der Staat erkennt diese Interessen als Maßgeblich an und dient ihrer Durchsetzung und Erfüllung.
Desweiteren ist die BRD eine Parteienoligarchie. Zur Umsetzung der Interessen der Lobbyverbände wird eine Staatsgewalt organisiert, deren maßgebliches Element Parteien sind. Sie sind ein Überrest aus demokratischer und postdemokratischer Zeit, sind aber heutzutage hierarchisch organisiert und verfasst. Das Ergebnis der regelmäßig durchgeführten Wahlen zu sogenannten gesetzgebenden Körperschaften hat keinen Einfluss auf die Durchführung des Willens der Staatsgewalt. Die Wahlen legen lediglich fest, welche Parteien die Exekutivorgane stellen, also die Regierungen, die gemeinsam mit den sogenannten Parlamenten als Vermittler zwischen der Staatsgewalt und den Bürgern dienen. Je nach Ausrichtung der Parteien können bei der Überzeugung der Bürger, den Willen der Staatsgewalt zu ihrem Willen zu machen, unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Hier haben die Parteien einen kreativen Spielraum. Das staatliche System ist auf wenige etablierte Parteien ausgelegt, um die Kontrolle durch die Staatsgewalt zu erleichtern. Die gelebte Verfassung räumt den parteien ihren Platz als mächtigstes dem Staat zugehörendes Organ ein, den im offiziellen Grundgesetz noch das sogenannte Parlament einnimmt. Parlament und Regierung, aber auch das Verfassungsgericht, werden in der gelebten Verfassung von den Parteien kontrolliert, die wiederum Exekutivorgan der Staatsgewalt sind.

Zu Absatz 2: Hier werden die Staatsgewalt und ihre Machtmittel definiert.
„Alle Staatsgewalt geht von den Lobbyverbänden aus.“ Dieser Satz ist das Kernstück der gelebten Ordnung in Deutschland. Die Lobbyverbände der Wirtschaft sind die eigentliche Staatsgewalt. Ihre Interessen werden durchgesetzt. Dabei ist es nicht nötig, dass die Verbände selbst als Staatsgewalt in Erscheinung treten. Aus fachlichen Gründen, aber auch zur Vermittlung des Staatswillens gegenüber dem Volk und also seiner Beruhigung, wird ein politischer Fachbetrieb aufrechterhalten und finanziell ausgestattet. Die im offiziellen Grundgesetz vertretene Auffassung, dass die Staatsgewalt vom Volke in seiner Gesamtheit ausgehe, ist überholt und unpraktikabel. Im Spiel der Kräfte des Marktes ist es unzweckmäßig, wenn Entscheidungen durch lange Debatten hinausgezögert werden, was zu gewaltigen Gewinneinbußen führen kann. Außerdem sind die Interessen der Volksmehrheit nicht immer mit denen der Wirtschaft in Einklang zu bringen. Um Gewinn, Wachstum und Wirtschaftsstandort zu sichern und zu fördern ist eine Abkehr von diesen alten Grundsätzen notwendig, zumal sie nie in Gänze durchgesetzt wurden.
Die Staatsgewalt wird durch Geldzuwendungen ausgeübt. Damit sind Geldzuwendungen an die Parteien gemeint, die dieses Geld einerseits für die Aufrechterhaltung ihrer Funktion und Infrastruktur bei spürbarem Mitgliederschwund benötigen, zum Anderen aber auch, um damit Personen in Staatsämtern überzeugen und finanziell unterstützen zu können, falls diese den Wunsch verspüren sollten, den Interessen der eigentlichen Staatsgewalt zu widersprechen. Auch wenn solche Zuwendungen nach der Rechtsordnung des offiziellen Grundgesetzes verboten sind, sind sie nach dieser gelebten Verfassung ein probates und durchaus legitimes Mittel. Es ist hierrnach erlaubt, jene Behörden zu disziplinieren oder zu täuschen, die glauben, nach der Rechtsordnung des offiziellen Grundgesetzes verfahren zu müssen.
Die Staatsgewalt wird von den Lobbyverbänden außerdem durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Diese Organe sind der politische Fachbetrieb und dienen der administrativen und propagandistisch wirksamen Umsetzung des Lobbywillens. Wichtigstes dieser Organe ist die Exekutive, die mit ihrer Verwaltung die von den Lobbyverbänden ausgearbeiteten Vorschriften umsetzt. Die Rechtsprechung ist hauptsächlich mit Hilfe der Polizeiorgane für die Einhaltung dieser Vorschriften durch den Normalbürger zuständig. Die Organe der Gesetzgebung erfüllen nach der gelebten Verfassung keine notwendige Funktion mehr. Sie werden allerdings aufrechterhalten, um dem Normalbürger eine fortsetzung demokratischer und postdemokratischer Gepflogenheiten und das Festhalten an alten Grundwerten zu suggerieren. Somit ist seine größtmögliche Mitarbeit, die bestmögliche Ausnutzung seiner Arbeitskraft und der soziale Friede gewährleistet, der zur Gewinnmaximierung und für die attraktivität des Wirtschaftsstandortes notwendig ist. In Verfahrensfragen werden weiterhin die Bestimmungen des offiziellen Grundgesetzes angewandt, und das Bundesverfassungsgericht mag weiterhin die Einhaltung dieses Verfahrensrechts überprüfen. In Fällen von übergeordneter Bedeutung kann das Verfahrensrecht der hier genannten Organe allerdings umgangen werden. Zur Durchsetzung der Staatsprinzipien wird die vollziehende Gewalt dafür Sorge tragen, dass die Gesetzgebungsorgane die von der Staatsgewalt gewünschten Vorschriften ohne Änderungen im Wesensgehalt beschließen und dem Normalbürger vermitteln.

Zu Absatz 3: Das Verhältnis der Staatsorgane zueinander und zu den Vorschriften wird definiert.
Die Gesetzgebung ist an den Willen der Lobbyverbände und der vollziehenden Gewalt gebunden. Hierbei handelt es sich um eine doppelte Sicherung und Bindung. Zum Einen ist ein Gesetzgebungsorgan schon von Anfang an in der Praxis an den Willen der vollziehenden Gewalt gebunden. Über die Parteien bestimmt die vollziehende Gewalt, welche Personen den Gesetzgebungsorganen angehören. Aufstiegs- und Karrierechancen hängen vom Willen der vollziehenden Gewalt, also der Regierung, ab. Diese wiederum ist als Vollzugsorgan der Lobbyverbände tätig. Allerdings sind die sogenannten Parlamentsmitglieder auch unmittelbar an den Willen der Lobbyverbände gebunden. Sie erhalten als Mitglieder der parteien die Zuwendungen von den Wirtschaftsverbänden, auch und gerade durch Wahlkampfhilfe. Auch stellt die Wirtschaft den Parlamentariern nach ihrer Tätigkeit im Staatsdienst lukrative Betätigungsfelder zur Verfügung.
Die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Gemeint ist, dass beide Organe an beides gebunden sind. Da aber die vollziehende Gewalt die Vorschriften ausarbeitet, ist diese Bindung vor allem deklaratorisch zu verstehen. Wichtig ist die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz. Zur Durchsetzung des Willens der Staatsgewalt ist es notwendig, dass die Gerichte die Gesetze beachten, die von der vollziehenden Gewalt geschaffen werden. Durch die Auswahl der höchsten Richter durch die vollziehende Gewalt, auch wenn die Gesetzgebung dem offiziell zustimmen muss, wird gewährleistet, dass das Recht im Sinne des Willens der Lobbyverbände interpretiert wird. Somit wird es der vollziehenden Gewalt ermöglicht, sich an das Recht zu binden. Wo dies einmal nicht möglich ist, bezahlt die Staatsgewalt Gutachter, die eine Neuinterpretation der Gesetze und des Rechts vornehmen. Die vom offiziellen Grundgesetz geforderte sogenannte richterliche Unabhängigkeit ist unter den Bedingungen der gelebten Verfassung so weit wie möglich einzuschränken, da sie das Wirtschaftsleben stören könnte und somit einen Unsicherheitsfaktor darstellt.

Zu Absatz 4: Hier wird die Widerstandspflicht gegen Abweichungen definiert.
Pflicht der Staatsorgane ist es, die in den Absätzen 1 bis 3 niedergelegte Ordnung zu schützen und zu verteidigen. Der Staat ist Eigentum der Wirtschaft, die Staatsorgane sind zur Durchsetzung dieses Eigentumsrechts bestimmt. Daher gilt es, so früh wie möglich angemessenen Widerstand gegen Veränderungsbestrebungen zu leisten. Das ist das Prinzip der wehrhaften Lobbykratie. Der Widerstand muss der Gefahr angemessen sein und darf nicht dazu führen, dass die Masse der Normalbürger erkennt, dass auch die letzten Reste der alten Demokratie und Postdemokratie ihre Geltung verloren haben.
Die erste Stufe ist der Widerstand gegen Kritiker. Solange es sich um verbale Kritik handelt, die keine Massenbasis besitzt, ist sie entweder zu ignorierren oder politisch und verbal zu bekämpfen. Besitzt die Kritik jedoch eine gewisse Massenbasis, ohne freilich bereits eine Beeinträchtigung des Funktionierrens der Ordnung darzustellen, so ist sie als politisch wertvoll zu loben und ihr dadurch der Wind aus den Segeln zu nehmen. Organisierten Kritikern ist hierbei auch eine Aufstiegsmöglichkeit in die etablierte Gesellschaft anzubieten. Gleichzeitig sind im Geheimen selbstverständlich nachrichtendienstliche Methoden zugelassen, die so viele Informationen wie möglich über die Kritiker ans Licht bringen. Diese Informationen können zum geeigneten Zeitpunkt verwendet werden. Kritik ist so lange zu dulden, solange sie keine Beeinträchtigung darstellt. Die Vorbereitungen zu ihrer Zerschlagung sind so früh wie möglich zu treffen. Auch ist früh ein Widerstand durch Privatpersonen, Lobbyverbände und Rechtsanwälte mit Mitteln des Rechts, durch Abmahnungen, Klagen und Gerichtsurteile möglich, ohne das dabei staatliche Behörden oder Sicherheitsorgane eingeschaltet werden müssen.
Die zweite Stufe des Widerstands setzt ein, wo eine Beeinträchtigung des herrschenden Systems erkennbar ist. Vor allem Parteien und Organisationen, die allgemeine Gesellschaftskritik üben und entsprechend viel Zulauf erhalten, um eine Regierrungsbeteiligung zu erzwingen. Hier ist eine offizielle nachrichtendienstliche Beobachtung angezeigt. Wünschenswert wäre es auch, entsprechende Personen als Volksfeinde, Terroristten oder undemokratische Populisten zu brandmarken. Beeinträchtigung kann auch durch Massenbewegungen außerhalb des politischen Spektrums erfolgen, oder durch Personen, die aufgrund des angestrebten Wirtschaftssystems spürbare Einbußen hinnehmen müssen. Grundsätzlich sind daher Arbeitslose und Geringverdiener als potentielle Störenfriede anzusehen. Die ständige Drohung mit der Vernichtung des Existenzminimums istt hier ein mögliches Widerstandsmittel, auch die Diskriminierung als Gesellschaftsschädlinge und arbeitsscheues Gesindel.
Die höchste Stufe des Widerstandes ist erst dann anzuwenden, wenn eine echte Gefahr zur Systemveränderung besteht. Dieser Widerstand ist polizeilich und militärisch zu organisieren, z. B. mit Hilfe der Notstandsgesetze. Um dies bestmöglich vorzubereiten, muss es das Ziel sein, die Sicherheitsgesetze so weit wie möglich zu verschärfen. Das Widerstandsgebot enthält eine implizite Verpflichtung zu vorbeugenden Maßnahmen der Vorratsdatenspeicherung und der Bürgerrechtseinschränkung.

Hier der diesem Beitrag zugrunde liegende Artikel 20 des Grundgesetzes:

„Art 20
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Politik abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

3 Antworten zu Gelebte Verfassung 1: Staatsgrundsätze und Widerstandspflicht

  1. Grandios gut zugespitzt!
    Leider ist die Wirklichkeit sehr nah an dieser Darstellung des postdemokratischen Staates.
    fjh

  2. Matthias Schulz sagt:

    Überspitzt formuliert. Aber in der Übertreibung liegt die Verdeutlichung.
    Matthias Schulz

  3. Pingback: Anonymous

Schreibe einen Kommentar