10 Jahre Radioarbeit

Vor einigen Jahren nannte mich ein Verbandsfunktionär mal einen Freizeitjournalisten. Damals hat mich das sehr getroffen, ich fühlte mich nicht ernst genommen. Heute kann ich damit gut leben, denn ich habe die Bescheidenheit gelernt, mich nicht mit Journalisten vergleichen zu wollen, die täglich in der Tretmühle freiberuflicher Arbeit stehen, oder die von den Sendern oder Zeitungen von einem Termin zum Andern gehetzt werden. Trotzdem mache ich Radio, Radio im Internet. Angefangen habe ich vor 10 Jahren, und seither ist viel passiert.

2002 war so ein Jahr: Weil die kobinet-nachrichten unbedingt einen neuen Webhoster brauchten, entschloss ich mich im Juli, selbst Internetprovider zu werden. Ich habe es seither nicht bereut und arbeite bis jetzt als Reseller mit Domainfactory zusammen. Aber kobinet allein konnte mir meinen finanziellen Aufwand nicht ersetzen. Also fragte ich Freunde und Bekannte, ob sie bei mir für wenig Geld eine Webseite hosten wollten. Mit dabei war auch Metin Gemril, der seit 2000 beim marburger Lokalsender Radio Unerhört Marburg eine Unterhaltungs- und Informationssendung für Blinde und Sehbehinderte moderierte und gestaltete, die jeden Sonntagmorgen ab 10 Uhr unter dem Titel „Frequenzfieber“ zu hören war. Ich fragte Metin, ob ich bei ihm mal meinen Verein „Arbeitskreis barrierefreies Internet“ vorstellen dürfte, und er lud mich für den 18. August in die Sendung ein. Die Atmosphäre war locker und fröhlich, und wir verstanden uns prächtig. 4 Tage später, am 22. August, überraschte er mich mit der Frage, ob ich nicht bei ihm als Redakteur mitmachen wolle. Ich habe mich seit meiner frühesten Kindheit für Radio interessiert, bei einem Lokalsender meiner Heimatstadt Solingen habe ich mal ein einwöchiges Praktikum gemacht. Aber das war damals schon 8 Jahre her und nicht besonders erfolgreich. Darum freute mich die Anfrage sehr, und nach kurzem Zögern nahm ich an. So kam es, dass ich am 25. August 2002 um 10 Uhr vom Gast der letzten Woche zum Mitmoderator befördert wurde. Seither hat mich das Radio nicht mehr losgelassen.

Damals war alles aufregend, ich brauchte eine Weile, um das Mischpult zu beherrschen, vor jeder Sendung musste ich eine Stunde früher anwesend sein, um noch genügend Zeit zu haben, mein Lampenfieber zu bekämpfen. Jede Sendung musste ich nachher noch einmal hören, und ich war oft so begeistert, dass ich sie allen möglichen Leuten vorspielte, natürlich auch, um sie dazu zu bewegen, uns am Sonntag zu hören. Von Routine war anfangs überhaupt nicht zu sprechen. Aber schnell wurde bei mir klar, wohin die Reise gehen würde: Am 22. September 2002, dem Tag der Bundestagswahl, hatten wir auf meine Veranlassung den damaligen kasseler Stadtverordneten und heutigen Behindertenbeauftragten von Rheinland-Pfalz, Ottmar Miles-Paul, in der Sendung zu Gast. Während Metin den Unterhaltungspart übernahm, kümmerte ich mich um das Gespräch mit Ottmar, und ich hatte, erstes Highlight meiner jungen Radiokarriere, ein Interview mit dem damaligen Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Karl Hermann Haack. Ich hatte nichts gegen Unterhaltung, lockere Sprüche und Musik, aber ich wollte auch Informationen präsentieren, und das habe ich getan, bis heute.

Fast ein Jahr später, am 2. Juli 2003, startete meine erste eigene Radiosendung, immer noch im marburger Lokalradio. Sie hieß Candlelight und ist bis heute, inzwischen natürlich beim Ohrfunk, eine Sendung mit meist ruhiger, abendlicher Musik. Es ist eine Unterhaltungssendung. Denn ich traute mir damals nicht zu, eine Infosendung allein zu produzieren und zu moderieren. Ohne ein Netzwerk von Leuten, die einem zuarbeiten, das war mir damals schon klar, war eine regelmäßige Informationssendung nicht zu machen. Und damals passte ich politisch bei Radio Unerhört Marburg auch noch nicht ins Konzept. Bis 2005 lernte ich so die Radioroutine kennen, die Radioroutine mit Studio, Mischpult und ein bisschen Technik. Frequenzfieber war eine flexible Sendung, obwohl Metin schon darauf achtete, ein Gerüst zu haben, damit die Sendung einen Wiedererkennungswert hatte. Das konnte aber nur funktionieren, wenn alle, die dabei waren, wussten, was von ihrer regelmäßigen Arbeit abhing.

Am 5. Mai 2005 luden Jürgen Behr und Eberhard Dietrich, der heutige Ohrfunk-Chefredakteur, blinde und sehbehinderte Radiomacherinnen und Radiomacher nach Berlin. Am Ende waren wir 23 Leute, darunter eine junge Dame namens Alina Nietzwietz. Sie betrieb ein Internetradio. Ziel dieser Konferenz war es, Konzepte für ein gemeinsames Programm blinder und sehbehinderter Radiofans zu entwickeln und den Austausch zu fördern. Als Provider konnte ich eine Mailingliste anbieten, und nach und nach kristallisierte sich die Idee heraus, auf Alinas Internetradio unsere Angebote und Beiträge zu bündeln. Am 3. Oktober 2005 startete das neue Milina-Radio mit einem Programm, das jeden Abend zwischen 18 und 0 Uhr Wort- und Musiksendungen enthielt, der Rest der Zeit wurde mit einem Musikteppich überbrückt. Dieser Sender, ohne eigene Finanzmittel gegründet, hatte natürlich kein Studio und sendete nur im Internet. So kam es, dass jeder von uns zuhause ein eigenes Studio aufbaute, das größtenteils aus Software bestand. Anfangs war es bei mir nur ein Headset, ein Streaming- und ein Automationsprogramm.

Hierr startete dann meine Informationssendung Infocafé. Ich nahm mir ein oder zwei Themen vor, die ich ausführlich in einer zwei-Stunden-Sendung behandelte. Lange Interviews führte ich gerne, um ein Thema intensiv zu beleuchten. Das hat mir später noch so manche Schwierigkeit eingebracht, als ich gezwungen war, mich kürzer zu fassen.

Mein erstes spontanes und gutes Interview führte ich am 17.10.2005 mit dem damaligen politischen Chefkorrespondenten der Tageszeitung „Die Welt„, Konrad Adam. Der hatte einen unverschämten und polemischen Artikel gegen das einkommens- und vermögensunabhängige Blindengeld geschrieben, und ich bat ihn spontan um eine Stellungnahme. So sehr ich seine Meinung ablehnte, so sehr fand ich es gut, dass er sich bereit fand, mir ein Interview zu geben. Es war ein guter Einstieg in eine lange Radioarbeit.

Am 7. Januar 2006 wurde dann der Ohrfunk aus der Taufe gehoben, und ab mitte Februar war auch ich dabei. Von anfang an moderierrte und gestaltete ich einmal pro Woche unsere tägliche Magazinsendung, die in den ersten Jahren Update hieß. Sie beinhaltete eine Mischung aus aktuellen Informationen über soziale und behindertenspezifische Themen, bot aber auch Serviceinfos und Nachrichten. Hier hatte ich für Interviews plötzlich eine Zeitbeschränkung, an die ich mich anfangs überhaupt nicht hielt. Das führte auch mal zu kleinen Reibereien, aber mir war die ausführliche und verständliche Information wichtiger als die schnelle Schlagzeile. Natürlich habe ich inzwischen dazugelernt.

Am 11. September 2006 veranstaltete ich hier im Studio meine erste knapp fünfstündige Sendung zur Erinnerung an die Anschläge in New York fünf Jahre zuvor. Der marburger Journalist Franz-Josef Hanke, Mirien Carvalho Rodrigues, Tourismusberaterin und Brasilienkennerin, und meine Liebste Bianca als Ohrfunkjournalistin nahmen an der Sendung teil. Es wurde eine ausführliche Gesprächsrunde zu dem Thema: „Ist wirklich nichts mehr so, wie es vor den Anschlägen war?“ Dazu hatten 7 andere Personen ausführliche Statements abgegeben, auch Erinnerungen an den 11.09.2001, und ich führte ein langes Interview mit Herbert Bopp, einem Korrespondenten des WDR, der im September 2001 aus New York berichtet hatte. Das Interview mit ihm war 45 Minuten lang und wurde von mir ununterbrochen gesendet, und sowohl Studiogäste als auch Hörer beschwerten sich später darüber, dass man ihnen mit der Sendung zu viel Wort am Stück zugemutet habe. Es sollte ein Highlight im positiven Sinne sein, aber es wurde für mich zu einer bitteren Pille, trotz der guten Gespräche im Studio. Ich musste endgültig einsehen, dass man, wenn man Hörer halten will, einen guten Mix aus Information und Musik präsentieren muss. Bis heute habe ich mich nicht daran gewöhnt, nur Interviews in einer Länge von 2 Minuten zu machen, und ich glaube, das werde ich nie tun. Ich werde nie dem Zeitgeist nachlaufen, aber man muss schon mal Kompromisse mit ihm schließen, für eine gute Sache.

Nur eine knappe Woche später durfte der Ohrfunk live aus Marburg eine Großveranstaltung des deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. übertragen. „Sozialstaat unter der Augenbinde“ hieß sie, und es wurden aus der Sicht blinder und sehbehinderter Menschen verschiedene Sozialstaatsmodelle vorgestellt und bewertet, auch um die Perspektive für Nachteilsausgleiche in Deutschland zu ermitteln. Eine Liveübertragung war eine ganz neue Herausforderung. Mein Kollege Axel Schruhl reiste mit einem PC und einem Mischpult, zwei Funkkopfhörern und 2 Funkmikrofonen an. Es war abenteuerlich, wurde aber zu einem vollen Erfolg: Wir konnten unser Mischpult ans Saalmischpult anhängen, wir hatten eine gut funktionierende Internetverbindung, und mit den Funkkopfhörern und Funkmikrofonen waren wir in den Pausen sogar beweglich. Die Qualität war ausgezeichnet, und wir übertrugen eine hochkarätige Debatte mit Publikumsbeteiligung. Weil es auch keine technischen Pannen gab, gehört diese Übertragung ganz sicher zum Besten, was Ohrfunk je geschafft hat.

Und dann kam die journalistische Alltagsarbeit: Themen suchen, Interviews anbahnen, nicht aufgeben, wenn ich von Interviewpartnern versetzt wurde, immer wieder gegen die Tatsache ankämpfen, dass man als kleiner Radiosender nicht ernst genommen wird, dass man im Gegensatz zu großen Sendern nicht einfach Interviews bekommt, dass man auf die übernächste Woche vertröstet wird, obwohl es um ein aktuelles Thema geht. Man darf dann nicht verzweifeln, aber so manches mal stand ich kurz davor. In dieser Zeit nannte mich ein Verbandsfunktionär der Blindenverbände einen Freizeit- und Hobbyjournalisten. Außerdem entwickelte ich mich nach und nach zum Experten für unsere Automation, die wir brauchen, damit Sendungen, die als vorproduzierte MP3-Dateien vorliegen, automatisch zur richtigen Zeit starten und solche Dinge. Weil der Ohrfunk als Verein organisiert ist, habe ich auch eine Weile im Vorstand mitgearbeitet. Unser Programm wurde immer ausgedehnter, meine Arbeitszeit auch. Fing ich mal mit rund 10 Stunden in der Woche an, kamen zu besonders heftigen Zeiten in den Jahren 2008 bis 2010 auch mal 40 bis 45 Stunden ehrenamtlicher Tätigkeit pro Woche zusammen.

Am 1. April 2009 änderte sich für mich einiges. Nicht nur, dass unsere bisherige Magazinsendung Update abgeschafft und durch ein dreistündiges tägliches Magazin unter dem Titel „17-20, der Soundtrack zum Tag“ abgelöst wurde, es verlagerten sich auch ganz langsam einige meiner Arbeitsschwerpunkte. Zum Einen schrieb ich nun zusätzlich 2 historische Texte pro Woche, über Ereignisse also, die an dem entsprechenden Tag in der Vergangenheit stattfanden, was ein Teil unserer Sendung war, zum Anderen ging ich endlich einem lang gehegten Wunsch nach und verfasste politische Kommentare. Kommentare, die sich nicht mehr mit Behindertenfragen, sondern mit allgemeinen politischen Fragen befassen. Es war immer unser Ziel, dass der Ohrfunk ein Sender für alle sein soll, und dass er dabei eben ausführlicher und vertiefender über Behindertenthemen informieren kann. Aber Behindertenfragen sind nicht das, was mich seit meiner frühesten Kindheit an Politik fasziniert, ich bin zu diesem Themenkomplex aus eigener Betroffenheit und durch ein paar Zufälle gekommen, und ich erachte sie für wichtig. Aber bei meinen politischen Interessen nehmen sie bei weitem nicht den Vorrang ein. Also begann ich, politische Kommentare zu schreiben. Das Problem war, dass ich sie auch selbst sprechen wollte. In meinem Haushalt gibt es aber schon seit einigen Jahren keine Punktschriftmaschine mehr, ich arbeite mit einem Computer mit Sprachausgabe. Also machte ich mich daran, die Kommentare meiner Sprachausgabe im Kopfhörer nachzusprechen. Ich glaube, dass ich das inzwischen recht gut kann, aber es kostete einiges an Übung.

Natürlich hat es in den mehr als 6 Jahren, die ich für den Ohrfunk arbeite, noch viele weitere Highlights gegeben. Ein paar möchte ich hier aufzählen:
die mindestens zweimal jährlich stattfindenden Interviews mit den Behindertenbeauftragten der Bundesregierung Karl-Hermann Haack, Karin Evers-Meyer und Hubert Hüppe,
ausführliche Gespräche mit Ottmar Miles-Paul und eine Infocafé-Sendung, in der ich ihn einen Tag lang bei seiner Arbeit als Behindertenbeauftragter von Rheinland-Pfalz begleiten durfte,
die seit 2006 bei Ohrfunk.de ausgestrahlte Verleihung des Marburger Leuchtfeuers für soziale Bürgerrechte,
das ausführliche Gespräch mit dem Schauspieler und Sprecher Bodo Primus in Frequenzfieber,
das ausführliche Interview mit Alexander Homann, dem jetzigen Botschafter der deutschsprachigen Gemeinschaft bei der belgischen Föderalregierung über die Zukunft Belgiens,
eine siebenstündige Candlelightsendung mit meinem Freund und Kollegen Markus Bruch mit Musik aus den Niederlanden und einem Gang durch Amsterdam
und meine Candlelightsendung mit angepasster Musik ein Jahr nach der Katastrophe von Fukushima.

Natürlich bin ich auch heute noch mit Feuereifer beim Ohrfunk dabei. Aber einiges hat sich schon geändert. Aus überbordendem Enthusiasmus ist meist unaufgeregte Routine geworden, aus dem Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen, immer vorne dabei zu sein, bemerkt zu werden und allen Leuten meine Sendungen vorzuspielen wurde der Wunsch, immer rechtzeitig mit den Beiträgen fertig zu werden, keinen Moderator oder Redakteur hängen zu lassen, im Hintergrund für Beiträge zu sorgen und den Sender am Laufen zu halten. Ausführlich habe ich darüber in meinem Beitrag „Routine killt die Rampensau“ geschrieben. Ich mag die Radioarbeit immer noch sehr, aber sie ist eben genau das geworden: Eine Arbeit, die ich nunmehr seit 10 Jahren ausübe.

Am 25.08.2012 feiere ich ab 20 Uhr auf www.ohrfunk.de dieses Jubiläum. Wer weiß? Vielleicht habt ihr oder haben Sie ja Lust, mal hineinzulauschen?

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu 10 Jahre Radioarbeit

  1. Paula Grimm sagt:

    Guten Tag Jens,

    ich wünsche einfach alles Gute für die Arbeit, viel Freude und Erfolg damit!

    Liebe Grüße

    Paula Grimm

  2. Lieber Jens,
    Du beschreibst die Arbeit eines Hörfunkjournalisten in der gebotenen Kürze sehr anschaulich. Glaube mir: Auch als Journalist beim Öffentlich-Rechtlichen Radio bekommt man nicht immer gleich von jedem das Interview, das man braucht!
    Arroganz gegenüber „weniger wichtigen“ Medien kenne ich von meiner Online-Zeitung marburgnews her sehr gut. Feedback gibt es kaum. Wenn ausnahmsweise doch einmal jemand sich meldet, dann hat er bestimmt was zu meckern.
    Journalisten müssen ein dickes Fell, Stehvermögen und gute Nerven haben. All das wünsche ich Dir für die nächsten 10, 20, 30, 40 oder 50 Jahre Ohrfunk oder wo immer sonst Du Radio machen wirst. Für die vielen guten Gespräche, die Interviews und Dein Engagement danke ich dir.
    fjh

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