Über Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa

Im folgenden Beitrag habe ich auf Verlinkungen verzichtet. Die Erarbeitung hat mich ohnehin schon einiges an Arbeit gekostet. Ich bitte dies zu entschuldigen.

Überall in Europa nehmen die Unabhängigkeitsbestrebungen zu. In Flandern, in Südtirol, in Katalonien und dem Baskenland. In Schottland sind sie am weitesten gediehen und führen zu einem Referendum, in dem sich die Schotten 2014 für eine Unabhängigkeit von Großbritannien entscheiden dürfen. Meisttens werden solche Unabhängigkeitsbestrebungen mit klassischem Nationalismus gleichgesetzt. Damit greift man meiner Ansicht nach aber zu kurz.

In Schottland ist die Regierung für eine Loslösung vom Vereinten Königreich, gleichzeitig ist sie aber auch wesentlich europafreundlicher als der englische Nachbar. Man wäre also durchaus bereit, als souveräner Staat in eine europäische Union einzutreten, die just diese Souveränität wieder beschränkt. Vermutlich kommt es auf die Gebiete der Politik an, in denen man die Souveränität behält, und in denen man sie verliert. In Katalonien zum Beispiel wehrt man sich gegen die Unterdrückung der eigenen Sprache und Kultur durch die spanische Zentralregierung. Da hatte man sich mühsam in einer Autonnomie die eigene Sprache als Amtssprache und Pflichtsprache in den Schulen erkämpft, jetzt will Madrid dieses Recht schon wieder einschränken. Noch schlimmer ist es im Baskenland, wo baskisch während der Francodiktatur verboten war und nachher nur zögerlich wieder erlaubt wurde. Basken sind traditionell Republikaner und weniger Konservativ als die spanische Zentralregierung. Die Nationalregierungen tun sich mit den Selbstständigkeitsbestrebungen eben schwer. Im Baskenland führte das zu Anschlägen der ETA, einer Terrororganisation. Ist die baskische Unabhängigkeitsbewegung, die viel größer und vielschichtiger als die ETA ist, deswegen nationalistisch? Vermutlich nicht, sie will ihre Selbstständigkeit erreichen, man hat aber offenbar kein Überheblichkeitsgefühl gegenüber anderen Nationen.

Unter Anderem deshalb sollte man die verschiedenen Selbstständigkeitsbewegungen in Europa nicht nur mit Sorge betrachten, sondern sie als Ausdruck verstärkten Selbstbewusstseins begreifen, einer Rückkehr, zumindest kulturell, zu überschaubaren Wurzeln in einer zunehmend unübersichtlichen Welt. Und längst nicht alle Abspaltungsbewegungen enden kriegerisch. Die Tschechoslowakei spaltete sich 1993 friedlich in 2 befreundete Staaten auf, und beide sind nun Mitglied der europäischen Union. Das genau wie die Tschechoslowakei aus dem ersten Weltkrieg hervorgegangene Jugoslawien hingegen zerfiel durch einen Krieg, und hier gab es durchaus nationalistische Bewegungen. Aber gerade die Staaten, die von der Zentralmacht in Belgrad unabhängig sein wollten, haben sich schnell der europäischen Union angenähert und sind größtenteils ihre Mitglieder geworden.

Die klassische These, dass eine Selbstständigkeit also eine nationalistische Handlung ist, und dass man nicht bereit ist, in größeren Bündnissen zusammenzuarbeitten, beschreibt das europäische Phänomen also nicht ausreichend. Die Schotten sind keine Nationalisten im klassischen Sinne. Sie haben eine uralte selbstständige Tradition, die sie in ihrem Staat verwirklichen möchten, der sich vor 305 Jahren eher aufgrund eines Bankrotts England anschließen musste, ohne es recht zu wollen.

Die Frage ist allerdings, ob all diese Staaten, die nun in eine selbstständige Existenz drängen, wirtschaftlich lebensfähig wären. Die Gegner der Unabhängigkeitsbewegungen zitieren derzeit gern das Beispiel Katalonien. Das Land betreibt hier seine Unabhängigkeit von Spanien, bittet aber auf der anderen Seite um finanzielle Hilfe durch die Zentralregierung in Madrid. Das spräche gegen eine Lebensfähigkeit als selbstständiger Staat. Dabei wird allerdings vergessen, dass Katalonien gar nicht das Recht hat, seine finanziellen Angelegenheiten selbst zu regeln. Von seinen Gewinnen muss es so viel an Spanien abführen, dass es trotz eines hohen Bruttosozialproduktes mittellos bleibt. Als selbstständiger Staat wäre das anders.

Dasselbe gilt, in geringerem Maße, für das belgische Flandern, das vermutlich durchaus in der Lage wäre, als selbstständiger Staat zu existieren. Anders wäre es vermutlich mit Wallonien, wo man über einen Anschluss an Frankreich nachdenkt. Was dann aus der deutschsprachigen Gemeinschaft wird, ist noch unklar. Diese gehört zum Staatsgebiet Walloniens, und nur, wenn Wallonien das Gebiet freigibt, könnte es, wie derzeit leise diskutiert wird, einen Anschluss an Luxemburg durchführen. Das Problem ist mehr als ein Planspiel, denn schon bei der nächsten Parlamentswahl dürfte die flämische Partei, die praktisch eine Auflösung Belgiens fordert, eine gewaltige Mehrheit in Flandern hinter sich bringen.

So ganz kann man den Möchtegern-Staatsgründern allerdings den Vorwurf nicht ersparen, vor den Problemen unserer Zeit davonzulaufen. Der schottische Premier Salmond sagte kürzlich, in einem unabhängigen Schottland könnten die Schotten selbst von ihren Erfolgen profitieren. Was aber, so fragt ein Kommentator in der Financial Times Deutschland, ist mit den Misserfolgen? An wen werden die deligiert? Als beispiel führt er die „Royal Bank of Scotland“ an, die von der britischen Regierung gerettet und gekauft wurde. Schottland selbst hätte das wohl nicht vermocht, wäre also als Staat für die großen Krisen unserer Zeit zu klein. Dem ist kaum etwas entgegenzusetzen, zumal es ja die Weltwirtschaftsprobleme sind, die die Abspaltungsbewegungen zusätzlich befeuern und ihnen eine größer werdende Anhängerschaft verschaffen. Natürlich ist da der Wunsch, sich aus den großen Problemen der Welt herauszuhalten, sich unter den eigenen Kokon zu flüchten, sich mit den eigenen Angelegenheiten zu befassen, die man wenigstens versteht. Und natürlich ist dies keine Lösung. Doch die meisten dieser Unabhängigkeitsbestrebungen sind in ihrem Kern viel älter als die Eurokrise. Sie mögen in den letzten Jahren gewachsen sein, entstanden sind sie in dieser zeit aber nicht.

Im Kern wollen die Unabhängigkeitsbewegungen wohl mehr das Gefühl haben, das eigene Schicksal wieder selbst in der Hand zu haben. Das äußert sich durch ihre eigene Sprache, ihre Kultur, ihre Traditionen. Und für diese Dinge muss genug Geld bereitstehen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass man nicht mit anderen Staaten zusammenarbeiten will, vorausgesetzt, man hat eine eigene mitbestimmende Stimme, die man als Teil eines anderen Staates nicht gehabt hätte. Natürlich gibt es immer die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit, Absacken in die Armut oder andere Minderwertigkeitskomplexe, die sich aus der nationalen Geschichte oder Religionsgeschichte erklären. Aber gerade bei den jetzigen Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa scheint mir dieses nicht die Hauptmotivation zu sein. Stattdessen werden ungerechte Behandlungen, Bevormundungen und Vereinnahmungen angeprangert, die sich durchaus auf gegenwärtige Vorgänge beziehen.

Was ist also die Lösung? Sollte man, wo es wirtschaftlich möglich ist, den Völkern die Unabhängigkeit gewähren? Diese Frage kann nur in einem offenen Gesprächsprozess beantwortet werden, an dem die betroffenen Völker ohne Angst beteiligt werden. Staatliche Unabhängigkeit ist per se nichts schlechtes, wie das Beispiel Tschechiens und der Slowakei gezeigt hat. Jedoch wäre eine größere Zusammenarbeit auf verschiedenen Politikgebieten in Europa wünschenswert. Es gibt genügend Menschen, die aus der europäischen Idee den Wunsch nach einem europäischen Bundesstaat ableiten. Viele denken an das Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika, es trifft aber nicht den Kern der Angelegenheit, denn die einzelnen Staaten der USA hatten praktisch keine eigene Kultur- und Sprachgeschichte, bevor sie sich zusammenschlossen. Das Modell eines Bundesstaates Europa müsste anders beschaffen sein. Es müsste sich auf neue Werte gründen, deren größter die Vielfalt wäre. Einheit in der Vielfalt, und zwar ganz ernst gemeint, ist meiner Ansicht nach der einzig funktionierende Weg. Autonomie darf nicht als Schreckgespenst gesehen, sondern muss als Chance begriffen werden. Und hier geht es nicht um die Autonomie teilweise künstlich erzeugter Nationalstaaten, sondern um die Autonomie kulturell eigenständiger Regionen. Außerdem darf ein solches föderales Europa nicht nur auf wirtschaftlicher Zusammenarbeit fußen. Man müsste in den Werten der universellen Menschenrechte übereinstimmen, die zwingend eine Einigkeit im Bezug auf Demokratie und soziale Gerechtigkeit nach sich ziehen müssten. In einem nach und nach zusammengewachsenen Europa stehen die Chancen für ein solch gemeinsames Denken möglicherweise gar nicht so schlecht. Erst die Eurokrise und der bürokratische Zentralismus der brüsseler Institutionen haben die europäische Idee diskreditiert und zum Erliegen gebracht. Grundsätzliche Anziehungskraft besitzt sie immer noch. Der Bundesstaat Europa müsste dann die Kompetenz haben, die Probleme zu lösen, die einzelne Staaten nicht lösen können. Dafür müssten ihm die Mittel zur Verfügung stehen, es wäre ein frei gewähltes und souveränes Parlament und mindestens ein ausführendes Organ notwendig. Allerdings eines, das vom Vertrauen des Parlamentes abhängig ist und sich auf die Gebiete beschränkt, bei denen es die Kompetenz besitzt. Die Regionen und ihre Belange müssten auf Parlamentsebene, nicht auf Regierungsebene, wie es leider in Deutschland durch den Bundesrat der Fall ist, bei der Gesetzgebung des Bundesstaates berücksichtigt werden. Nur dann, wenn man einen Ausgleich sucht zwischen den fraglos gemeinsam zu lösenden Problemen, aber auch den gemeinsamen Werten einerseits, und dem verständlichen Wunsch der traditionellen kulturellen Regionen andererseits, ist eine solche Zukunft denkbar.

Die zunehmenden Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa sind Ausdruck einer Morgenluft, was Rechte und das Selbstbewusstsein zu ihrer Einforderung angeht, aber auch ein Zeichen immer noch bestehender Bevormundungen. Hinzu kommt die wirtschaftliche Unsicherheit und das Gefühl, fremdbestimmt zu werden, das sich ja auch in den Nationalstaaten der Eurozone breit macht. Ich finde es verfehlt, sie mit dem Begriff Nationalismus zu versehen und damit abzustempeln und zu diskreditieren. Man sollte sie ernst nehmen und sich der Probleme annehmen, die sie hervorrufen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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