Die schwere Suche nach der Ausgewogenheit im Fall Mollath

„Was die Deutschen in der Mollath-Affäre machen (nämlich NICHTS), hat 6 Millionen Juden das Leben gekostet.“ Diesen Satz las ich gestern (16.06.2013) auf Twitter, und er hat mich sehr geärgert. Die Unterbringung in einer Psychiatrie, gerechtfertigt oder nicht, mit dem Massenmord an 6 Millionen Juden zu vergleichen, und sei es noch so entfernt, war für mich eine Verharmlosung der NS-Verbrechen. Außerdem tönt die sogenannte Netzgemeinde seit einem halben Jahr über den „Fall Mollath“, beschimpft Justiz, Politik und Mollaths Ex-Ehefrau aufs unflätigste und lässt überhaupt jede Ausgewogenheit vermissen, dachte und schrieb ich sinngemäß. Es wurde Zeit, dass ich mich selbst einmal intensiv in diesen Fall einlas. Ich fand, neben jeder Menge schmutziger Wäsche und einem handfesten
Steuerfahnderkrimi, einen ausgewachsenen Justiz- und Psychiatrieskandal.

Ein Mann behauptet, seine Ehefrau, die Vermögensberaterin einer Bank war, habe jede Menge illegal Geld in die Schweiz geschafft, Schwarzgeld also. Er erstattet Anzeige, die Staatsanwaltschaft hält seine Aussagen für unkonkret und verweigert die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Die Frau zeigt daraufhin ihren Mann wegen Körperverletzung und Misshandlung an und bringt dafür ein ärztliches Attest bei. Sie hält ihren Mann für geistesgestört. Als man ihn untersuchen will, lehnt er die Mitarbeit ab und verlangt, dass man seinen Anzeigen nachgehe. Damit spätestens wird er zum Querulanten. Das Gericht attestiert ihm Schuldunfähigkeit im Bezug auf die Körperverletzung und Misshandlung seiner Frau, hält ihn aber für gemeingefährlich und weist ihn in eine forensische Psychiatrie ein. Das war vor 7 Jahren, und das ist in aller Kürze der ursprüngliche Sachverhalt im Fall des Gustl Mollath. Man könnte es für einen normalen Vorgang halten, wäre da nicht der interne Revisionsbericht der Bank, der die Vorwürfe von Gustl Mollath bestätigt, hätte nicht der Gutachter, der Mollath Wahnvorstellungen bescheinigte, den Angeklagten nie gesehen, hätte der Vorsitzende Richter Mollath nicht schon im Verfahren vorverurteilt, so dass jetzt sogar der damals beisitzende Schöffe schwere Vorwürfe gegen den Richter erhebt, der entlastendes Material gar nicht berücksichtigt habe. Der einzige Gutachter, der Mollath persönlich getroffen hat, bescheinigte ihm geistige Gesundheit, doch dieses Gutachten wurde nicht berücksichtigt. Gut vorstellbar, dass der Betroffene, Gustl Mollath selbst, an ein Komplott gegen ihn glaubt, dass er sich überall vorverurteilt sieht. Dass er das hin und wieder äußert, dass er sich immer noch weigert, sich wieder und wieder extern psychiatrisch begutachten zu lassen, bietet der Justiz einen willkommenen Anlass, die Zwangsunterbringung in der forensischen Psychiatrie immer wieder zu verlängern, denn er verhält sich, nach ihren Rechtfertigungsmaßstäben, auffällig. Wäre er wegen Schlagens seiner Frau und dem ebenfalls behaupteten Zerstechen von Autoreifen normal ins Gefängnis gegangen, wäre Gustl Mollath längst wieder frei. Das ist der eigentliche Justizskandal, und man kann es den Menschen nicht verdenken, wenn sie glauben, Justiz und Nutznießer der Schwarzgeldaffäre wollten Mollath systematisch mundtot machen.

Ich tue mich schwer, diesen Fall adäquat zu bewerten. Das liegt zum einen an der Art, wie im Internet mit dem „Fall Mollath“ umgegangen wird. Jede Gelegenheit wird genutzt, der Regierung, der Justiz und den Ärzten faschistisches Treiben zu unterstellen, viele virtuell engagierte Menschen gefallen sich in der Rolle von gerechten und zornigen Robin Hoods der Neuzeit. Dass Gustl Mollath sich manchmal wie ein Verschwörungstheoretiker anhört, macht die Situation nicht leichter. Zum Anderen gibt es auch ernstzunehmende Journalisten, die sich der allgemeinen Mollath gegenüber unkritischen Stimmung der Netzaktivisten entgegenstellen. [youtube http://youtube.com/w/?v=8z99MO8uv2U], die Anfang Juni in der ARD lief und noch auf Youtube abzurufen ist.

Egal aber wie man einzelne Aspekte des Falles bewertet: Ein Mensch, der auffällig geworden ist, wurde weggesperrt, und zwar für einen sehr langen Zeitraum, und unter zum Teil erbärmlichen und menschenunwürdigen Bedingungen. Es gibt zumindest Indizien dafür, dass sein sogenanntes auffälliges Verhalten einen wahren Kern hatte, und auch dafür, dass ihm zu Unrecht gewalttätigkeiten vorgeworfen wurden. Was mich aber an diesem Fall am meisten schockiert ist die Kaltblütigkeit, maschinenhafte Unmenschlichkeit und Voreingenommenheit der Justiz und der Psychiater. Es fehlt jede Ausgewogenheit, ein Satz, den ich vorhin über die Netzgemeinde sagte. Während diese sich das aber leisten kann, dürfte sich das für Amtsträger, die über die Zukunft eines Menschen zu entscheiden haben, von selbst verbieten. Es ist egal, ob Gustl Mollath der Meinung ist, man wolle ihn wegen der Schwarzgeldanzeige mundtot machen. Manche mögen dies als Wahn begreifen, solange er keine Gewalt ausübt, hat er das Recht auf seine eigene Meinung, und vor allem das Recht auf Freiheit und eine würdige Behandlung. Dass man, sich immer wieder auf das erste, offensichtlich zumindest unvollständige psychiatrische Gutachten stützend, ihm diese Grundrechte auf Dauer verweigert, ist skandalös, unmenschlich und eines demokratischen Rechtsstaates unwürdig.

Für mich ist der „Fall Mollath“ Ausdruck eines Zeitgeistes, ganz unabhängig von der wahrscheinlichen Schwarzgeldaffäre. Wer nicht ins Bild passt, wer aus dem Rahmen fällt, muss weg, er stört. Schon allein deshalb ist die Freilassung Gustl Mollaths einschließlich einer Entschuldigung und angemessenen Entschädigung geboten. Darüber hinaus hätte spätestens nach den ersten Medienberichten, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Urteils gegen Mollath aufkommen ließen, eine schnelle Überprüfung des Verfahrens stattfinden müssen. Stattdessen sieht es auch jetzt noch so aus, als verschleppe die Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme des Verfahrens, obwohl sich inzwischen sogar ein Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtages mit der Affäre befasst. Dieser Zeitgeist, der auf alles Unbequeme und Unangenehme mit harten Sanktionen reagiert, ist der eigentliche Skandal und betrifft nicht nur Gustl Mollath.

Ich maße mir nicht an, ein eigenes Urteil, allein vom Hören einer Stimme, über den Geisteszustand eines Menschen zu fällen. Vor 15 Jahren habe ich einen Mann getroffen, der viele Jahre unschuldig in der Psychiatrie verbracht hatte. Mein persönlicher flüchtiger Eindruck war, dass er in einem Zustand war, in dem er Hilfe brauchte. Ein Jahr später habe ich die Zwangseinweisung einer Mitarbeiterin des Vereins erlebt, in dem ich damals tätig war. Sie gefährde mindestens sich selbst und werde darum eingewiesen, hieß es. Sie bat mich als Vorstandsmitglied unseres Vereins flehentlich um Hilfe, ohne dass ich freilich etwas tun konnte. Wenige Tage später erklärte sie, sie sei dankbar für die Einweisung, ihre Krankheit trat in Schüben auf, sie sei auf dem Weg der Besserung. Drei Wochen später arbeitete sie wieder bei uns. Diese Erfahrungen haben mich gelehrt, selbst keine schnellen Urteile zu fällen. Deshalb kann ich nur sagen, dass sich Gustl Mollath für mich ganz normal und vernünftig anhört, auch wenn es im Internet Aufzeichnungen gibt, die anders klingen. Gerade weil die Lage so kompliziert und vielschichtig ist, sollte Sorgfalt bei der Überprüfung mehr als selbstverständlich sein. Es muss die oberste Pflicht jeder Behörde und jedes Gerichts darstellen.

p. S.: Auf Twitter schrieb ich, dass zwei Gesprächspartnerinnen mich davon überzeugt hätten, dass der „Fall Mollath“ mehr sei als ein Internethype. Die Reaktion eines anderen Twitterers war: „Schade, dass Sie bisher so unkritisch durchs Leben gegangen sind, dass es Überzeugungsarbeit brauchte.“ Meine etwas angesäuerte Reaktion war: „Die Äußerung ist unschön. Gerade kritisches Denken erforderte es, dass ich nicht einfach alles glaubte.“ Darauf die Antwort meines Gesprächspartners: “ Genau das haben Sie aber gemacht,Dinge einfach geglaubt und nicht hinterfragt. ABER: Besser spät als nie!“ – Diese kurze Unterhaltung, die sich vielleicht in den nächsten Tagen noch fortsetzt, zeigt mir die Intoleranz von Menschen aus der Netzgemeinde, die ich sehr bedauere. Denn nur, weil ich vielleicht nicht seiner Meinung war, kann mir nicht einfach jemand unterstellen, ich hätte Dinge unhinterfragt hingenommen. Dies zeugt von Arroganz, die es vielleicht auch manchem durchaus interessierten Menschen schwer macht, an Dinge zu glauben, die im ersten Moment wie eine Verschwörungstheorie klingen. Hätte dieser Internetnutzer mein Blog gelesen, die Themen, über die ich schreibe, hätte er, so hoffe ich, anders reagiert.

P.p.S.: Als Links kann ich noch die Seite Gustl for Help und den Wikipedia-Artikel über Gustl Mollath empfehlen, der den Skandal kritisch begleitet und möglichst vielschichtig darstellt anhand der vorhandenen Quellen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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5 Antworten zu Die schwere Suche nach der Ausgewogenheit im Fall Mollath

  1. livemartin sagt:

    Es liegt an der unglaublichen Kürze von Twitter und dem rasenden Tempo mit dem Inhalte in der heutigen Zeit geteilt werden, was dann in der Gänze manchmal dazu führen kann, dass eine Botschaft anders beim Empfänger ankommt, als sie vom Sender ausgesendet wurde. Nicht Ihre allgemeine Arbeit wurde in den Tweets kommentiert, sondern der Umgang mit dem Fall Mollath und nur diesem. Wenn nämlich in einem Tweet die Rede davon ist, Sie mussten überzeugt werden, kommen nicht viele Ursachen dafür in Frage.

    Sie haben in der Angelegenheit der Justiz bisher der Justiz vertraut. Inzwischen haben Sie Ihre Meinung in der Angelegenheit geändert. Das allein ist wichtig. Egal ob Sie davon erst überzeugt werden mussten. Auch eine hart geführte Diskussion ist lohnenswert wenn das Ziel der Weg ist. Wenn das aus meinen Tweets nicht ablesbar war, so möchte ich um Nachsicht bitten und um Entschuldigung bitten.

    Weiterhin alles Gute

  2. Entschuldigen Sie, vielleicht habe ich da etwas überreagiert. Nein, ich habe bislang nicht der Justiz vertraut, sondern ich hatte mir noch keine abschließende Meinung gebildet und vieles für möglich gehalten, denn ich hatte bereits einige sich widersprechende, aber seriöse Veröffentlichungen gelesen. Die Überzeugung kam aufgrund eines Gespräches und eines Fernsehbeitrages, den ich dann hörte.

  3. Fotobiene sagt:

    Die Suche ist nicht schwer.
    Es ist nur (inzwischen) viel Information – und das ist gut so!

    Du findest alles, auch Originaldokumente hier:

    http://www.gustl-for-help.de/
    http://strate.net/de/dokumentation/index.html

    Beste Hintergrundinformationen, ganz ohne unflätige Beschimpfungen hier:
    http://gabrielewolff.wordpress.com/2012/12/01/der-fall-gustl-mollath-rosenkrieg-und-versagen-von-justiz-psychiatrie/
    (und folgende Beiträge, samt Kommentaren!)

    Weder die Suche noch die sehr logische Antwort ist das Problem.
    Nur die Information bzw. Desinformation.

    Alles liegt offen.
    Lies!

  4. @fotobiene: Es ist nur dann alles klar, wenn man nur eine einzige Meinung gelten lassen will. Eine Spiegelredakteurin, die ebenfalls Zugang zu diesen Dokumenten hat, kommt teilweise zu anderen Schlüssen, ebenfalls durch fundierte Recherche. Damit will ich nicht sagen, dass ich ihrer Meinung bin, aber, dass auch sie eine fundierte Meinung hat. Und ich maße mir nicht an, psychiatrische Entscheidungen fachlich zu beurteilen.

    Übrigens: Ist dir aufgefallen, dass ich zumindest auf eine der von dir mir angebotenen Seiten selbst verlinkt habe? 🙂

  5. Fotobiene sagt:

    Lies‘ die angegebenen Quellen.
    Auch die bereits vonDir selbst angegebene.
    LIES sie!
    Lakotta ist KEINE fundierte Recherche.
    Aber das siehst Du nur, wenn Du Dich SELBST informierst.
    Dafür haben wir ja das Internet.

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