Warum ich in die humanistische Union eingetreten bin

Wenn am kommenden Sonntag in Hessen Wahlen wären, würde die AFD aus dem Stand 13 % der Stimmen erhalten, sagt eine Umfrage. Ich finde das mehr als erschreckend. Sofort drängen sich mir die Parallelen zum Beginn der dreißiger Jahre auf: So hat die NSDAP auch mal angefangen. Aber wie geht man damit um, statt vor der AFD zu sitzen wie das Kaninchen vor der Schlange? Warum gibt es scheinbar keine Alternativen?

Ich bezeichne mich oft als undogmatischen Linken. Am letzten Wochenende bin ich der humanistischen Union beigetreten. Damit gehöre ich zu den von der geifernden Meute derer, die gern brüllen können, wenn sie im Rudel auftreten, so oft und laut verspotteten und gedemütigten „Gutmenschen“. Aber für mich ist Humanismus neben der klassischen Bildung und dem Kampf für universelle Bürgerrechte zunächst einmal auch eine Einstellung und ein Bekenntnis. Das Bekenntnis nämlich, dass jeder Mensch, und ich meine wirklich jeden Menschen, zunächst einmal mein Bruder oder meine Schwester ist. Das ist der Grundwert, von dem ich nicht abrücken möchte, und er gilt auch für Nazis, für Ajatollahs und für die Kämpfer der roten Khmer. Sie alle sind Menschen, mit gleichen Rechten ausgestattet, haben gleichen Anspruch auf den ihnen als Mensch zustehenden Respekt und die Achtung ihrer Person und Persönlichkeit. Keine Rasse, keine nationalität, keine Religion, kein Geschlecht, keine Herkunft, keine Anhängerschaft zu einer Ideologie macht den Menschen an sich minderwertiger als einen anderen. Von den Spöttern wird dies oft missverstanden, als wolle man jeden Menschen freudig in seine Arme schließen. Das ist ein Trugschluss. Aber selbst der größte Schwerverbrecher hat für mich das Recht auf eine menschenwürdige Behandlung.

Ich frage mich, warum es so wenige Menschen gibt, die eine solche Grundeinstellung mit mir teilen. Spätestens nach den Greueln des zweiten Weltkrieges, so habe ich einmal gedacht, gab es doch kaum noch Alternativen. Die Gewalt hatte sich doch nun endgültig diskreditiert. Aber weit gefehlt. Der Grund, warum ich mich als undogmatischen Linken bezeichne, liegt in der Reaktion auf den Schrecken des Faschismus. Die Linke reagierte mit Gegengewalt. In der DDR und den anderen Staaten des sogenannten Ostblocks wurden Ideale von oben verordnet und mit Gewalt der Bevölkerung eingetrichtert. Die Sicherheitsorgane dieser Staaten waren allgegenwärtig, der Gruppendruck in den gesellschaftlichen Organisationen hoch, Individualismus verpönt. Man wollte die Menschen zu besseren Menschen erziehen. Zwar hatte man die Nazi-Ideologie der Ausrottung und Demütigung als falsch erkannt, die Methodik der Herrschaftsausübung aber blieb gewaltvoll, wenn es auch nicht für jeden gleich spürbar war. So sehr ich mit den linken Idealen übereinstimme, mit sozialer Gleichheit, mit Gerechtigkeit, mit der Verhinderung ökonomischer Ausbeutung, so sehr lehne ich die gewaltvollen Methoden einer Diktatur des Proletariats ab, abgesehen davon, dass dieses Proletariat von einem arroganten intellektuellen Klüngel geführt wurde, der sich der wissenschaftlichen Unausweichlichkeit gesellschaftlicher Entwicklungen sicher war und sich für allen Anderen überlegen hielt. Und auch die heutige Antifa ist zumindest latent oft gewaltbereit und glaubt, im Besitz der allein seeligmachenden Wahrheit zu sein.

Ich fühle mich oft allein auf weiter Flur: Verspottet von den einen, deren Ideologie ich schon deshalb nicht teile, weil sie menschenverachtend und gewaltvoll ist, als „Sozialdemokrat“ gescholten von den Anderen, die lieber mit der jungen Garde des Proletariats zuschlagen möchten, um ihre eigene Version von Zukunft und Heilslehre durchzusetzen. Allein auch deshalb, weil die Generation um mich her die Greuel der Nazizeit nur noch aus nervigen Erzählungen kennt, sie sich nicht mehr vorstellen kann und deshalb langsam aber sicher ihre Ablehnung und Vorsicht über Bord wirft. Einfache, gewaltvolle Lösungen sind wieder hoffähig geworden, Angst und Hass regieren die Stimmung in der Bevölkerung, nicht mehr Achtsamkeit, Vorsicht, Mitmenschlichkeit und das feste Bekentnis, dass Massenmord und Menschenverfolgung nie wieder geschehen dürfen. Stimmen, die ein Innehalten, ein Nachdenken, ein gemeinsames Suchen nach Lösungen für wirklich schwierige Probleme fordern, diese Stimmen werden überschrien und ausgelacht.

Es scheint, als würde das Pendel immer wieder, von Generation zu Generation, von einem Extrem ins andere umschlagen. Die Unmenschlichkeit des Faschismus wurde nicht für immer aus unseren Herzen gerissen, und die ängstliche Wachsamkeit der Antifaschisten, die sich in Gewalt äußert, konnte nicht bezähmt werden. Die totalitären Ideologien aller Couleur gehen vom Recht des Stärkeren oder des moralisch Besseren aus. Dies kann nur ein Irrweg sein, wir brauchen die Mitmenschlichkeit, die persönliche Gleichheit und das, was man früher einmal Brüderlichkeit nannte. Doch solche Bewegungen sind eigentlich nie von langer Dauer und haben fast nie eine wirkliche Massenbasis. Immer wieder obsiegen Hass, Angst und Gewalt. Manche von denen, die diese Zeilen lesen, mögen mich jetzt an die Kirche verweisen wollen, aber ich muss mit einem Verweis auf die Geschichte und die Herrschaftspraxis der Kirche abwinken.

Also bin ich der humanistischen Union beigetreten, einem weltlichen Gutmenschenverein schwätzender Intellektueller, einem Männerclub, in dem Frauen meist schweigen, einer Organisation, in der es auch Antifa-Anhänger gibt, in der auch Maskulinisten ihre Stimme haben, mit einem Wort, einer nicht perfekten Organisation. Der Unterschied ist, dass hier jeder Mensch erst einmal vom Anspruch her als Mensch gesehen wird, wie er nun einmal ist. Deshalb ist diese Organisation vielfältig, politisch nicht festgelegt und nur dem Gewissen des Einzelnen und den Bürgerrechten für alle verpflichtet. Schnelle, ideologische Lösungen wird man hier nicht finden, stattdessen trifft man Menschen mit Ecken und Kanten, muss man sich mit unterschiedlichen, auch skurrilen und bisweilen radikalen Meinungen auseinandersetzen. So kann man lernen, alle Menschen erst einmal zu respektieren, ohne ihre Ansichten teilen zu müssen.

Für die Wahlen in Hessen oder anderswo ist mein Bekenntnis zu einem unideologischen, weltlichen Humanismus völlig bedeutungslos. Wie so oft sind die Schreier gefragt, oder die, die sich an die Macht klammern und den Tiger nur noch an den Ohren festhalten. Mitmenschlichkeit scheint heute keine gangbare Alternative für Deutschland mehr zu sein. Es heißt oft, Geschichte wiederhole sich nicht. Ich bin mir da nicht so sicher. Eine Generation, die die Angst vor Menschenverachtung nicht mehr fühlen kann, die selbst immer auf der Sonnenseite lebte und nicht verfolgt wurde, auch niemanden mehr kennt, der dieses Schicksal erlebte und erlitt, eine solche Generation mag bereit sein, aus Angst um ihren Wohlstand und ihre Sicherheit die Mitmenschlichkeit über Bord zu werfen. Eine solche Angstreaktion mag man verstehen und erklären können, tolerieren darf man sie nicht.

]tags Faschismus, Humanismus, Ideologie, Dogmatismus, Gewaltlosigkeit, Mitmenschlichkeit]

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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3 Antworten zu Warum ich in die humanistische Union eingetreten bin

  1. Andrea sagt:

    „Ich frage mich, warum es so wenige Menschen gibt, die eine solche Grundeinstellung mit mir teilen.“

    Ich glaube nicht, dass es „so wenige“ Menschen mit dieser Einstellung gibt. Nur sind halt nicht alle sicht- oder hörbar, oder nutzen das Netz nicht, um sich darüber auszutauschen. Ich verstehe aber, dass man sich manchmal fragt, wer denn nun „neben der Spur“ sei, man selbst oder die anderen. Geht mir auch mitunter so.

    Ich finde es gut, dass Du für Dich die Entscheidung getroffen hast, bei der HU dabei zu sein. Ich fühle mich von einem „Männerclub, in dem Frauen meist schweigen“ nicht besonders angesprochen, obwohl ich selbst in einer anderen, ebenfalls nicht perfekten Organisation aktiv bin. Da sagen Frauen allerdings eine ganze Menge. Und damit meine ich nicht die Kirchengemeinde 😉
    Stellt sich die Frage, warum das so ist, dass die „Frauen meist schweigen“ . Haben sie, haben wir nichts zu sagen? Oder sagen wir nichts, weil wir es über Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte so „gelernt“ haben? Oder weil wir nicht ermuntert werden? Weil wir uns nicht trauen?

    Gehört vielleicht nicht so ganz hierher, aber ich bin ja dafür bekannt, nicht immer den Mund zu halten. Ich weiß ja, dass Du, lieber Jens, für Meinungen ein offenes Ohr hast und ich hoffe, dass Du Dir diese Eigenschaft behältst, egal, in welcher Organisation Du nun herumspringst 🙂

  2. In der HU Marburg gibt es leider nur wenig Frauen. Dass sie „meist schweigen“, kann ich indes nicht bestätigen. Eines der Schwerpunktprojekte für 2016 wurde von einer Frau vorgeschlagen und maßgeblich mit umgesetzt.
    Der Bundesvorstand der Humanistischen Union besteht sogar aus mehr Frauen als Männern, wobei die meisten auch noch jünger als 40 Jahre sind. Maskulinisten sind mir in der HU bisher noch nicht begegnet. Schräge Leute gibt es aber schon, was ich mitunter – ebenso wie Jens – als Bereicherung erlebe.
    Wichtig ist mir vor allem, dass die Bürgerrechtsarbeit in der HU eine Querschnittsaufgabe darstellt, die gleichzeitig Grundlage für viele unerlässliche politische Themen ist. Demokratie und Datenschutz, Freiheitsrechte und Soziale Grundrechte sind ein breites Spektrum, das viele Anknüpfungsmöglichkeiten bietet.
    Die HU Marburg ist seit nunmehr gut 30 Jahren meine politische „Heimat“, nachdem mir Parteien ob ihrer kurzatmigen Machtpolitik zunehmend sauer aufgestoßen waren und sind. Dagegen versucht die HU, eine Gegenmacht aufzubauen gegen Machtpolitik, die Bürgerrechte einschränkt und dem Staat Vorrang einräumen will vor den Menschen.
    „Mensch bleiben“, sagt Adolf tegtmeier. Dem schließe ich mich ebenso an wie der HU und der mitmenschlich-zupackenden Gesinnung, die Jens in seinem Blogbeitrag beschrieben hat.
    fjh

  3. Andrea sagt:

    Danke für die Info zur HU!

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