Absage an die berliner Republik

Ich kann mich daran erinnern, dass einige Stimmen vor 25 Jahren den Bundestag mahnten, nicht von Bonn nach Berlin zu ziehen. Die berliner Republik, so sagten sie, werde nicht dieselbe sein. Großmachtträume, preußische Strenge und bürokratische Kälte gegenüber menschlichem Leid müsse man befürchten, denn diese Republik drehe sich um sich selbst, nicht als Teil einer zivilisatorischen Evolution um die Probleme der Menschheit. Damals hielt ich das für übertrieben, doch als vor ein paar Tagen ein bekannter Wissenschaftsjournalist auf Twitter schrieb, seine Republik existiere nicht mehr, ihre Hauptstadt habe Bonn geheißen, fühlte ich, dass es mir ähnlich geht.

Ein Teil dieses Gefühls resultiert sicher aus meinem Alter. Ohne es zu merken bin ich seit der Gründung dieser berliner Republik von einem jungen, zu einem spätmittelalten Mann gereift. So ein Spätmittelalter verlangt vielleicht nach ein wenig Sicherheit, Verständlichkeit und Biedermeier im Leben. Das sagen und sagten mir jedenfalls Menschen, die noch älter sind als ich. Doch mein Unbehagen über diese Republik resultiert vor allem aus meinen Beobachtungen.

Da sind die Bundeswehreinsätze im ausland und die maßlosen Rüstungsexporte. Sie sprechen von Großmachtgedanken, die sich das alte, verschämte Deutschland, das so stolz auf seinen humanen Neuanfang war, nie getraut hätte. Nie wieder sollten wir eine Großmacht sein, nie wieder sollte von deutschem Boden Krieg ausgehen. Und jetzt schicken wir milliarden Euro an Waffen und tausende Soldaten in die Welt, die den Tod bringen. Ein solches Land ist nicht mein Land.

Dann wäre da die Sache mit dem Sozialstaat, den wir verstümmelten, seit preußische Strenge und Herzlosigkeit eingezogen sind, statt rheinischer Freigiebigkeit, Tatkraft und rheinischem Humor. Die Abgehängten, die nicht-hippen, die, die nicht auf der Höhe der Zeit und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sind, die vergisst man nicht nur, man drangsaliert und verspottet sie. Kinder spielen in der Gosse, sie sind arm und haben keine warme Mahlzeit, sie verachten die arbeitslosen Eltern und werden in der Schule verachtet. Man lässt sie zurück. Ein solches Land ist nicht mein Land.

Und schlussendlich haben wir das Asylrecht, diese große menschliche Lehre aus der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, selbst in ein Schreckensregime verwandelt. Der Staat hat nur wenig Gespür für die Not der Menschen, er sperrt sie ein, drangsaliert sie mit privaten
Sicherheitsfirmen, gibt ihnen nicht genug zum Leben und setzt sie der Gefahr der Mörderbanden aus, die wieder durch unsere Straßen laufen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es nennenswert viele Tote gibt. Und dieses Bisschen Menschlichkeit der Kanzlerin wird ihr mit Häme und Spott vergolten. Nein: Ein solches Land ist nicht mein Land.

Doch was das Schrecklichste ist, das ist die Veränderung in unser aller Seelen. Immer mehr von uns Jubeln, wenn Häuser angezündet werden, in denen verängstigte, traumatisierte Menschen leben, die eine schreckliche Reise auf sich genommen haben, um nichts als ihr nacktes Leben zu retten. Wenn wir in unserem Land wieder verfolgt würden, und wenn wir fliehen müssten, würden wir nicht auch freundlich am Ende der flucht empfangen werden wollen? Aber wir verschließen unsere Herzen, einige von uns, und es werden stets mehr, Jubeln, wenn ein Flüchtlingsheim in Flammen aufgeht. Die Mörder sind Helden, die Polizei schaut zu. Verängstigte Flüchtlingskinder werden von der Polizei gewaltsam in ein belagertes Flüchtlingsheim getrieben, und wenn sich die Flüchtlinge wehren, werden sie angezeigt, während der wütende, brandschatzende Mob nichts zu befürchten hat. Unsere Großmannssucht, Überheblichkeit und nationaler und rassischer Dünkel brechen ungehindert auf. Wenn vernünftige Stimmen sich erheben und nach Menschlichkeit rufen, wünscht man ihnen tausendfach die Vergewaltigung und den Tod an den Hals. Ein solcher Hexenkessel kann nie und nimmer mein Land sein.

„Vielleicht war die Welt schon immer so, und ich war nur zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um es zu bemerken“, sagt der Titelheld Arthur Dent in Douglas Adams Buch „Per Anhalter durch die Galaxis“. Vielleicht ging es mir ja ähnlich. In diesen Tagen ist es 20 Jahre her, dass ich einen Internetzugang erhielt. Mit wie viel Elan und Enthusiasmus haben wir damals das Internet betrachtet. Dort wird es egal sein, wie man aussieht, wie alt man ist, ob man behindert ist oder nicht, hier zählt nur die menschliche Qualität, keine Äußerlichkeit. Das haben wir einmal geglaubt. Und auch, dass im Internet sich wahre demokratische Prozesse entwickeln können, dass sich dort die offene, friedliche Bürgergesellschaft formt, nach der wir alle streben. Und ich selbst fand im Netz der Netze ein Tor zur Welt, denn als Blinder war ich weitgehend von den Printmedien abgeschnitten gewesen. Aber vielleicht war früher die Welt nur deshalb einfacher, weil wir nicht über den ungefilterten Nachrichtenzugang verfügten. Vielleicht haben uns früher die Journalisten nur besser desinformiert? Vielleicht war es nie besser als heute? Jedenfalls ist das einst so gepriesene Netz ein Sündenpfuhl ungehemmten Hasses und menschlicher Niedertracht geworden. Wo der Mensch Freiheit und Gestaltungsspielraum besitzt, da nutzt er ihn zum Menschenhass. Ich selbst werde für meine verzweifelt harmlosen Tweets und Beiträge auch schon angegriffen, obwohl ich keine Gefahr bin. Dieses Land der verlorenen Illusionen, der zerplatzten Träume, der enthemmten Gewalt und der Ohnmacht der Mehrheitsgesellschaft ist ganz sicherlich nicht mein Land.

„Lasst preisen uns eh‘ noch die Nacht auf uns fällt,
was uns noch verblieb auf der rollenden Welt,
den Hass, dass das Haus uns zu säubern gelinge,
um noch zu genießen ein wenig die Dinge,
bevor wir verstummen und gehen.“
So schrieb der von den Nazis verfolgte österreichische Dichter Theodor Cramer. Er hat recht, aber haben wir die Kraft, das Haus zu säubern? Wollen wir es überhaupt? Und bitte lasst es uns ohne Hass tun, dafür mit um so mehr Verantwortung und Menschlichkeit.

Das wollte ich nur gesagt haben, bevor ich verstumme und gehe.

p. S.: Damit für Jäger sogenannter Antideutscher kein Zweifel aufkommt: Wenn ich schreibe, dass dies nicht mein Land ist, so meine ich damit, dass wir das Land verändern müssen, nicht, dass es vernichtet gehört oder so ein Mist.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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4 Antworten zu Absage an die berliner Republik

  1. Andrea sagt:

    Hallo Jens,

    so weh uns das tut, all diese Facetten gehören heute zu „unserem“ Land. Sie haben sich, teilweise von uns unbemerkt, hier eingeschlichen, breit gemacht, sie sind da. Und ich verstehe jede Resignation, jeden Wunsch, nichts mehr sehen, sagen, hören zu müssen von all dem Mist, der jeden Tag passiert, und all diese Entwicklungen nicht mittragen zu wollen und auch nicht zu können.

    Aber ich wünsche mir, dass Menschen wie Du gerade nicht verstummen, dass sie trotzdem weiterhin von einer anderen Gesellschaft träumen, davon erzählen, im Kleinen dafür arbeiten! Es ist so wichtig, dass wir präsent bleiben, dass wir uns unsere Gedanken machen und diese mit der Welt teilen. Selbst wenn wir das Gefühl haben, dass die Welt, die das interessiert, gerade sehr klein ist.

    Wir werden gebraucht, davon bin ich überzeugt.

  2. Liebe Andrea, vielen Dank. Ich will nicht aufhören mit allem, aber derzeit ist mein Akku am Ende. Schon gar nicht höre ich dauerhaft auf, das könnte ich kaum.

    Alles Gute

  3. Rainer sagt:

    Ich war am letzten Wochenende in Sachsen, in Dresden und Tharandt und Freital und Wilsdruff. Wie schon so oft und auch in Zukunft werde ich dort sein. Ich habe mit Leuten gefrühstückt, zu Abend gegessen und Kaffee getrunken, denen die Vorgänge dort genau so zuwider sind wie mir. Mir drängt sich der Verdacht auf, dass zwar schlimme Dinge passieren, aber die reale Bedeutung eine andere ist. Ich hatte so ein ungutes Gefühl, dass die Geschichte leider auch von den Medien, und damit von uns, in einer Weise hochgepusht wird, die der Realität nicht mehr nahe kommt. Alle Medien, von Print bis Online, stürzen sich auf das Thema Flüchtlinge, als gäbe es kein anderes mehr auf der Welt.

    Könnte es sein, dass es auf einen Pegida-Brüller mehrere Dutzend ehrenamtlicher Helfer gibt? In einem Podcast im Deutschlandfunk waren Bürgermeister aus Münster, Tübingen und Iserlohn zu hören, die die Geschichte sachlich und realistisch angehen und betrachten. Alle drei, CDU, SPD und ein Grüner, sprechen von einer Menge Arbeit und Geld, aber nicht vom Untergang Deutschlands. Mich dräut inzwischen, dass die Braunhemden und vermeintlichen Opfer nur deshalb so laut sind, weil ihnen die Medien permanent das Mikro vor den Mund halten anstatt sie zu ignorieren. Wäre es nicht an der Zeit, dass auch wir das Thema Flüchtlinge langsam aus den Klauen lassen und uns wieder anderen Themen zuwenden? Nicht totschweigen oder ignorieren, aber nicht auch noch wieder und wieder darüber palavern. Wir haben immer noch den Klimaschutz, das Artensterben, die Inklusion, und so viele weitere Themen, die auf den Tisch müssen. Aber eben nicht diese Klotzköpfe mit ihrem „Wir sind Das Volk“-Quatsch. Geben wir denen doch nicht noch dauernd eine Bühne.

  4. Hallo Rainer, du hast natürlich recht, dass es mehr ehrenamtliche HelferInnen gibt als Pegida-Brüller. Das ändert aber nichts an der Handlungsweise des Staates, an der Polizei, die gegen die Flüchtlinge, die ängstlich im Bus in Clausnitz sitzen, Anklage erhebt, den Mob aber frei ausgehen lässt, keine Verstärkung fordert, Gewalt gegen 10jährige Kinder anwendet. Weil diese Dinge geschehen, müssen wir sie benennen, müssen dafür sorgen, dass wir sie nicht achselzuckend hinnehmen, das hat schon einmal in die Katastrophe geführt. Darüber sollten wir die anderen Dinge nicht vergessen. Der Paritätische hat jetzt seinen Armutsbericht veröffentlicht, und ich sprach ja auch über Sozialstaat und Waffenexporte. Klimawandel ist auch ein großes Thema, auch hier hast du recht. Und ich bin det letzte, der behauptet, alle in Sachsen wären Nazis. Dort wird die AFD auch nur wenig mehr Prozente bekommen als in Hessen oder im Westen sonst. Trotzdem macht mich die Haltung der Staatsorgane sprachlos, und die Haltung von immer mehr Menschen, denen ich begegne, ebenso. Meine Liebste gehört zu den ehrenamtlichen Helferinnen, über die wir sprechen, sie erlebt die Stimmungen mit, die einen wie die anderen. Natürlich haben wir Medien Mitschuld. Aber nicht, weil wir über das Thema angemessen berichten, sondern weil wir versuchen, die sogenannten besorgten Bürger zu verstehen, oder einige, und weil wir ihnen eine Bühne bieten.

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