Ein Brandbrief an die Nation

Dieser Beitrag soll aufrütteln, und er wird am 19. Juni 2018 auch als Audiobeitrag beim Ohrfunk gesendet.

„Die “Grenzöffnung 2015” ist die Dolchstoßlegende unserer Zeit. Es ist eine rechtlich wie tatsächlich abwegige rechtsreaktionäre Verschwörungstheorie. Es ist der Versuch, die Europäische durch eine nationalistische Erzählung zu ersetzen.“ Das sagte vor ein paar Tagen der grüne Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz auf Twitter. Er sagte es, als der Bundestag seine laufende Sitzung unterbrach, weil die CSU der Bundeskanzlerin ein Ultimatum stellte und damit die derzeitige Koalitionskrise auslöste. Er zeigt auf, wie weit wir gekommen sind, denn die fast letzte aktionsfähige demokratische Regierung in diesem Land, unabhängig davon, ob ich politisch dieser Regierung anhänge, steht vor dem Aus. Der bayerische Provinzwahlkampf bestimmt über das Schicksal Europas, und es fühlt sich so an, als sei München wieder „Hauptstadt der Bewegung“. Während Bayerns Provinzfürst Söder gemeinsam mit seinem Ex-Chef und Konkurrenten Seehofer versucht, die Mehrheit der CSU in Bayern zu retten, indem er das Programm der AfD umsetzt, erhält die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth über 10.000 Hasskommentare, weil sie die Geschäftsordnung des Bundestages achtete und durchsetzte. Während einer Geschäftsordnungsdebatte hatte ein AFD-Abgeordneter ohne Absprache mit den anderen Fraktionen und ohne vorherige Abstimmung im Ältestenrat dem Parlament eine Schweigeminute für die mutmaßlich von einem abgelehnten Asylbewerber ermordete Susanna F. anempfehlen wollen. Weil der redner sich nicht zur Sache äußerte, wie es die Geschäftsordnung verlangt, und weil er sich nicht an die normalen Vorgehensweisen des Parlaments hielt, verwies sie ihn des rednerpultes und erntete dafür organisierten Hass, noch bevor die Geschichte in den Medien bekannt wurde. Sie forderte sinngemäß, man müsse endlich aufhören, rechte Gewalt und Gewaltbereitschaft zu bagatellisieren. „Wer vor diesem Hintergrund immer noch meint, wir sollten nicht „über jedes Stöckchen“ springen und geduldig abwarten, verkennt den Ernst der Lage. Die AfD wird sich schon noch entzaubern? Ich kann und will dieses Argument nicht mehr hören. Mir reicht es. Vielen in Deutschland reicht es. Und deshalb ist es an der Zeit, dass wir uns zusammentun und konsequent dagegenhalten – über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg, wenigstens in dieser Sache“, schrieb sie auf ihrer Internetseite. Auch der Präsident der frankfurter Eintracht, Peter Fischer, der in der letzten woche mit dem marburger Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte ausgezeichnet worden war, hat mehrere Ordner voller Hassmails und Morddrohungen zuhause. Er hatte – der Satzung seines Vereins gemäß – die Mitgliedschaft in der frankfurter Eintracht und in der AfD für unvereinbar erklärt. Claudia Roth wollen die Rechten vergewaltigen und wie Vieh an Fleischerhaken aufhängen, für Peter Fischer brennen ihrer aussage nach schon die Öfen. Und wer da glaubt, es handele sich um Einzelfälle, der macht einfach nur noch die Augen zu und will die Realität nicht sehen. Wer jetzt noch wegschaut, macht sich schuldig, jeder Einzelne. Wer die Regierung in Gefahr bringt, um die eigene Macht zu sichern, der nimmt fahrlässig die Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Kauf. Alle wissen, dass die CSU ihren Wählern oder denen, die sie zurückgewinnen will, nicht die Wahrheit sagt. Erstens war die sogenannte Grenzöffnung 2015 gar keine, denn die Grenzen Deutschlands sind seit 1985 offen, seit dem sogenannten Schengen-Abkommen. Also hat die Bundeskanzlerin oder die Bundesregierung sie nur nicht geschlossen, wie man beim ARD-Faktenfinder hervorragend nachlesen kann. Und zweitens ist es rechtlich überhaupt nicht möglich, Flüchtlinge an der Grenze einfach abzuweisen. Das Europarecht verlangt mindestens die juristische Prüfung zu der Frage, welcher EU-Staat für den Fall zuständig ist, und diese Prüfung kann von Grenzpolizisten nicht abschließend vorgenommen werden. Außerdem kann man Flüchtlinge, die der genfer Flüchtlingskonvention unterliegen, auch nicht an der Grenze abweisen. CSU und AfD verschweigen, dass es mehrere Arten von Flüchtlingen gibt und dass man jeden Einzelfall sorgfältig prüfen muss. Jeder Deutsche, der ins Ausland fliehen müsste, würde das ebenfalls von den Behörden dort erwarten. Franz-Josef Hanke erinnerte an Walter Benjamin, der 1940 an der französisch-spanischen Grenze zurückgewiesen wurde, als er vor den Nazis floh, und sich daraufhin das Leben nahm. Aber die CSU hat den Boden der Demokratie und der Menschenrechte ohnehin verlassen. Angesichts der übers Mittelmeer fliehenden Menschen voller Verzweiflung spricht sie von Asyltourismus und Asylgehalt, als wäre die lebensgefährliche Flucht eine Urlaubsfahrt. An Schändlichkeit, Rassismus und Zynismus ist das kaum noch zu überbieten. Politik und Talkshows sind nicht mehr zu halten: Jede woche eine neue sogenannte Diskussionsrunde zur Gefährlichkeit von Islam und Fluchtbewegung, weil man doch die Ängste der Bürger ernstnehmen müsse, sagen die Medien. Wird ein Ausländer von deutschen Umgebracht, wird ein Mädchen von Deutschen vergewaltigt, gibt es keinen Brennpunkt und keine Artikelserien. Nicht einmal die Vogelschissäußerung von Alexander Gauland führte zu einer wirklich einhelligen Verurteilung. Die Medien haben wohl bereits Angst, nach der Machtergreifung gleichgeschaltet zu werden und eilen gehorsam voraus. Sie sehen im Nachbarland Österreich die von der FPÖ so genannten „unbotmäßigen Journalisten“ und was ihnen angedroht wird, und sind lieber gleich still. Nicht alle, aber immer mehr von ihnen stricken mit am rechten Narrativ deutscher Endzeitstimmung, und zwar in einer Zeit, in der es uns besser geht als je zuvor. Schließlich müsse man, rechtfertigt man sich in den Studios und Redaktionsräumen, mit den relevanten gesellschaftlichen Gruppen reden. Doch das ist falsch. Die Laudatorin des marburger Leuchtfeuers, Monika Bunk von der jüdischen Gemeinde in Marburg, sagte während ihrer Rede: „Wir müssen über Rassismus reden, aber wir müssen es nicht mit Rassisten tun.“ Mit Rechten reden setzt voraus, dass sie reden wollen. Aber sie wollen nicht reden, und einige ihrer Protagonisten sagen das auch deutlich: Sie wollen die Macht und dann eine radikale Umgestaltung. Sie wollen keinen Diskurs, er ist für sie ein Zeichen der Schwäche. Es gibt durchaus rechte Protestwähler, die man durch Zuhören, durch Verständnis, durch Hilfe zurückbringen kann auf die kleiner werdende demokratische Insel, wie es Sascha Lobo einmal sagte, doch die eingefleischten Rechtswähler wollen einen anderen Staat, und wir müssen endlich einsehen, dass weder die Talkshow, noch die Zeitung der richtige Platz für diese Leute ist. Zeigen wir ihnen, dass diese Demokratie wehrhaft ist, wie wir es den Linken seit 70 Jahren mit ungebremster Hysterie zeigen.

Wenn es in zwei Wochen zum Bruch in der Union kommen sollte, und wenn die CDU dann nicht bereit ist, mit SPD und Grünen zusammen zu regieren, dann steuern wir wohl auf Neuwahlen zu. Von den Streitigkeiten, dem Gezeter und Gezänk und von den unsäglichen Erfolgen, die ihre Einschüchterung ihr gebracht hat, profitiert allein die AfD. Selbst auf den unteren Ebenen dieser partei ist die Sprache respektlos und voller Hass, wie ihre Verächtlichmachung des marburger Leuchtfeuers nach der Verleihung an Peter Fischer zeigt. Diese Partei ist durch und durch konsensunfähig, rechtsradikal, faschistoid und menschenverachtend. Und wir alle sind gefordert, jeder Einzelne von uns, ihnen zwar keine Bühne mehr zu geben, uns aber auch nicht zwingen zu lassen, den Kopf in den Sand zu stecken und abzuwarten. Sie versuchen, uns geistig müde zu machen, uns daran zu hindern, uns zu engagieren, zur Wahl zu gehen, Alternativen zu finden und zu stärken. Sie versuchen, uns im alltag einzuschüchtern, durch harte, teilweise gewalttätige, aber immer respektlose Sprache. Durch ständige Provokation kann in der Gesellschaft wieder gesagt werden, was lange Jahrzehnte unsagbar schien. Wir müssen uns wehren, und zwar klar, deutlich, standhaft und nicht vorsichtig und kompromissbereit. In diesem Moment müssen alle zusammenstehen, vom CSU-Urgestein Peter Hausmann, der seine Parteiführung kritisierte, bis zum Grünen Konstantin von Notz, vom Wähler der Linkspartei bis zum eingefleischten Christdemokraten. Es geht jetzt darum, unsere Werte zu verteidigen, unsere eigene Freiheit und Zukunft zu erhalten. Schon sprechen die Rechten in Berlin und Wien von der Achse der Willigen, und sie schließen Italien mit ein, wie im zweiten Weltkrieg, schon will Horst Seehover nach dem Vorbild des ÖVP-Kanzlers Kurz die Koalition mit der SPD platzen lassen, um eine rechte Regierung zu etablieren. Es ist wie 1933, wo konservative Politiker sich einbildeten, Hitler gemeinsam einrahmen und an die Wand drängen zu können. Es ist eine unglaubliche Selbstüberschätzung und die Unterschätzung der Gefahr von rechts. Viele glauben, es wird schon nicht so schlimm, doch „der Rechtsruck kommt nicht als Sieg der Rechten über die anderen Parteien. Er kommt als Rechtsruck in jeder einzelnen Partei; der Abstand von der einen zur anderen bleibt dabei gleich“, sagte vor kurzem der Journalist Clemens Verenkotte auf die Situation in Österreich bezogen. Einfach weiter zusehen kann keine Option mehr sein. Jetzt müssen wir kämpfen, und wir müssen es mit Leidenschaft tun, mit Leidenschaft für diese Demokratie, diesen Staat der Menschenrechte, der es uns möglich gemacht hat, uns nach 1945 mit diesem Land zu versöhnen, und in dem wir gut und gern aufgewachsen sind. Wir müssen diesem Land jetzt etwas zurückgeben, sonst verlieren wir es.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Ein Brandbrief an die Nation

  1. Dan sagt:

    DANKE! Sehr gut geschrieben und sehr wichtig!
    Hatte das letzte Woche bei Ohrfunk gehört
    und gesucht und nun gefunden.

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