#wirsindmehr: In Marburg haben wir es bewiesen

Vor ein paar Tagen erfuhren meine Liebste und ich, dass alle Fraktionen des Marburger Stadtparlaments für gestern, Freitag, den 7. September 2018, eine Demonstration unter dem Motto „Wir sind mehr“ beschlossen hatten. In den letzten Jahren bin ich kaum noch zu Demonstrationen gegangen, aber diesmal habe ich es getan, ich hielt es einfach für meine Pflicht und eine gute Gelegenheit, zu sehen, wie die viel beschworene Zivilgesellschaft mit der Bedrohung von Rechts umgeht.

Als wir uns bei bewölktem Himmel auf den Weg machten, damit wir pünktlich um 17 Uhr an der Stadthalle waren, habe ich mit mir selbst Wetten abgeschlossen, wieviele Teilnehmer wohl zur Demonstration und zur Kundgebung vor dem Rathaus kommen würden. Bei der Art und Weise, wie in den letzten Jahren mit Rechtsextremismus umgegangen wurde, rechnete ich mit 1 bis 2000 Menschen, aber das war das Höchste der Gefühle in meinen Augen. Insofern war ich vollkommen überrascht, als ich den Vorplatz der stadthalle von Menschen übersäht vorfand. Natürlich waren Franz-Josef Hanke und andere Aktivisten vor Ort, aber es schienen sich in jedem Falle mehr als 500 oder 600 Menschen auf den Weg gemacht zu haben. Und während wir noch warteten und es leicht zu regnen begann, wurden es stetig mehr. Das war bereits ein gutes Gefühl.

Aus gesundheitlichen Gründen marschierten meine Liebste und ich nur den ersten Teil der Strecke mit, dann nahmen wir eine Abkürzung über den Oberstadtaufzug zum Rathaus. Wir wollten uns gute Plätze für die Kundgebung sichern. Ich nahm an, es wären noch nicht viele Menschen auf dem Marktplatz in der Oberstadt, doch ich wurde erneut überrascht. Begrüßt wurden wir schon von weitem von einigen antifaschistischen Sprechchören und einer erwartungsvollen Atmosphäre.

Insbesondere die Einpeitscherin ohne Megafon, die immer wieder zu hören ist,sorgte für Stimmung und die richtige Haltung und Aufmerksamkeit.

Zwar hatten wir unsere Freundinnen, mit denen wir zur Kundgebung gekommen waren, verloren, aber dafür zwei alte Bekannte getroffen, mit denen wir uns unterhielten, während es um uns her immer voller wurde. Dann trat Oberbürgermeister Thomas Spies ans Mikrofon und forderte uns auf, uns auf dem Rathausplatz besser zu verteilen, denn es kämen noch mehr Demonstrantinnen und Demonstranten. Und dann nannte er die schier unglaubliche Zahl von 7500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.

Ich kann gar nicht beschreiben, was für ein extrem gutes Gefühl das war. So oft in den letzten Wochen und Monaten drohte mich der Mut zu verlassen. Ich konnte nicht fassen, dass die AfD trotz ihrer Inhaltslosigkeit und ohne Anstrengung immer noch mehr Zulauf erhielt, und dass es niemanden zu kümmern schien. Hier aber wurde dem endlich ein machtvolles Zeichen entgegengehalten.

Zur Einstimmung sprachen einige Mitglieder des Stadttheaters Marburg zwei Teile des Gedichts „An die Nachgeborenen“ von Bertold Brecht und einen weiteren Text. Während der Darbietung war es ruhig, und die Kraft von Brechts Worten konnte sich dank der eindringlichen Präsentation mühelos im weiten Rund entfalten.

In seiner Grundsatzrede zeigte Oberbürgermeister Thomas Spies Verständnis für Menschen, die sich abgehängt fühlten und von der Politik nicht mehr verstanden. Doch dies rechtfertige keine Gewalt, und der Rechtsstaat müsse mit aller Härte gegen rechte Gewalttäter vorgehen. Er bedankte sich insbesondere auch bei den Antifaschistinnen und Antifaschisten, die sich jeden Tag wieder mutig den Drohungen und Anfeindungen von rechts entgegenstellten.

Die stellvertretende Stadtverordnetenvorsteherin Elke Neuwohner wies darauf hin, dass Demokratie jeden Tag neu erkämpft werden müsse und berichtete davon, dass sich in Marburg gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit alle Demokraten einig seien. Den Rassisten dürfe man die Parlamente und den Gewalttätern die Straße nicht überlassen, sagte sie.

Selbstverständlich nahm auch die Philipps-Universität Marburg an der Kundgebung teil. Das gesamte Präsidium war erschienen, und die Vizepräsidentin der Universität, Prof. Evelyn Korn, zeigte auf, dass Rassismus in der internationalen Wissenschaft schwer denkbar, und dass Vielfalt dort ganz selbstverständlich ist.

Wie weit die Bedrohung durch Neonazis inzwischen gediehen ist, konnte uns ganz praktisch Georg Simonsky vor Augen führen. Vor einer Woche war er mit 30 anderen Bürgerinnen und Bürgern Marburgs auf Einladung des lokalen Bundestagsabgeordneten Sören Barthol zur Demonstration nach Chemnitz gefahren. Er berichtete von einem Übergriff von Neonazis am fast noch helligten Tag auf die sozialdemokratische Gruppe, der er angehörte. Mich lässt dies an die Zeit der Straßenschlachten in der weimarer Republik denken. Neonazis trauen sich wieder öffentliche Angriffe auf politische gegner zu. Sie wissen ja spätestens jetzt auch, dass sie Rückenwind vom Verfassungsschutzpräsidenten und dem Bundesinnenminister haben.

Die beiden letzten Beiträge haben mich besonders beeindruckt. Obwohl die Aufnahmen mit der Zeit schlechter werden, weil wir uns teilweise vom Geschehen entfernten, weil sich auch kleine Kinder in unserer Nähe aufhielten und weil es windete, was unser Mikrofon störte, kann ich nur empfehlen, diese Beiträge zu hören. Die Friedens- und Konfliktforscherin Prof. Maximiliane Jäger-Gogoll erinnerte daran, dass wir eine moralische Verpflichtung haben, Flüchtlinge zu retten und aufzunehmen, und zwar auch wegen der Kriege, die durch westliche Staaten in den Herkunftsländern der Flüchtlinge geführt werden.

Und schließlich meldete sich Burkhard zur Nieden zu Wort, der Dekan der Evangelischen Kirche in Marburg. „Wir werden das Notwendige (gegen rechte Gewalt) tun“, versprach er und erinnerte daran, dass es leicht ist, eine Haltung zu zeigen, wenn man die Mehrheit ist, wenn man „mehr“ ist. Aber auf den Schutz der Schwachen und Ausländer und auf Gerechtigkeit kommt es gerade dann an, wenn man nicht „mehr“ ist. Dann wird es wichtig, Haltung zu zeigen.

7500 Menschen sagten nein! Für Rassismus und Hetze ist in Marburg kein Platz! Eindrucksvoll hat die Bevölkerung dies unterstrichen. Das hat sehr gut getan. Wichtiger als die einzelnen Reden war für mich das Gefühl, dass wir alle ein gemeinsames Ziel hatten, nämlich die rechten Schläger und Zerstörer in ihre Schranken zu weisen.

Ich hoffe und wünsche, dass dies nicht nur ein Strohfeuer war, sondern dass von dieser Veranstaltung ein kraftvolles Signal ausgeht, das auch bei der hessischen Landtagswahl im Oktober zu spüren sein wird. Wir sind alle aufgerufen, unsere Demokratie, unser friedliches Zusammenleben und unsere Mitbürger zu verteidigen. Je mehr wir sind, desto leichter wird es uns fallen.

Auf dem Rückweg trafen wir einen netten Busfahrer, der sehr genau auf Behinderung und Bedürfnisse seiner Fahrgäste achtete. Er war freundlich, höflich und sehr aufmerksam. Wir sprachen über die Demonstration, und er meinte, es gäbe in letzter Zeit zu viel davon, und man achte immer nur auf die Rechten, nicht auf die Linken. Das hat mich nachdenklich gemacht, weil er eindeutig die Rechten als weniger gefährlich ansah. Was es mir aber zeigt, das ist die Tatsache, dass längst nicht alle Menschen, die mit den Rechten sympatisieren, gefährlich oder gewaltsam oder auch nur unaufmerksam sind. Um diese Menschen müssen wir kämpfen, wir brauchen sie als Bürger.

Gern hätte ich die ganzen Reden in voller Länge hier präsentiert, aber leider sind nur teile gut genug geworden für dieses Blog, und ich habe schon Kompromisse gemacht. Ich hoffe, es reicht trotzdem, einen Eindruck zu bekommen von dieser wirklich grandiosen Kundgebung. Macht mit und verzagt nicht: Kämpft für Menschlichkeit und Solidarität! Kämpft für Demokratie und ein friedliches Miteinander!

Zum nachlesen: Hier ist der Bericht der Stadt Marburg zur Demo.
Auch marburg.news, die Online-Zeitung für marburg, hat einen Beitrag veröffentlicht, in dem auch die Reden gut zusammengefasst werden.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter erlebte Geschichte, Leben, Politik, positive Impulse abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.