Tag 2 nach der Thüringenwahl: Die Unschuld ist verloren

Thomas Kemmerich hat vollmundig seinen Rücktritt angekündigt, nachdem sein Parteivorsitzender Lindner mit Rücktritt gedroht hat. Die CDU in Thüringen und auch die AfD sperren sich gegen Neuwahlen, damit können sie nicht stattfinden, Kemmerich muss eine Vertrauensfrage stellen und verlieren, um sie doch noch zu ermöglichen. Auf die Frage, ob er mit der Annahme der Wahl einen Fehler gemacht habe, sagte er einfach „nein“.

Im Deutschlandfunk hieß es daraufhin, die Brandmauer nach rechts stehe nun wieder. Schwamm drüber, zurück zur Tagesordnung. So einfach machen es sich konservative Politiker und Publizisten. Denn es ist nicht wahr!

Wie bei einem Siegel, das sich nicht wiederherstellen lässt, wenn es einmal erbrochen ist, wie bei einer Glasur, die, einmal zerstört, das Bild der Torte trübt, so ist auch die Unschuld, mit Rechten nicht zu paktieren, nicht zurückzuholen, sie ist verloren, der Gründungsmythos der Bundesrepublik ebenfalls. – Paradise lost! Denn die Legitimität dieses Staates und seiner Verfasstheit gründete sich auf der zumindest auf höchster Ebene eisern durchgehaltenen Parole: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, kein Pakt mit Nazis. Ein Rechtskonservativer wie Franz Josef Strauß hätte – bei aller inhaltlichen Sympathie – niemals mit der AfD paktiert, sich niemals von ihr wählen lassen. Es war immer der Sündenfall, den man verhindern musste, den man als rote Linie brauchte, um zu beweisen, dass dieses Land aus der Geschichte gelernt hatte. Es war vor der Welt und vor der Geschichte das evolutionäre,
zivilisatorische Verdienst dieses Staates, nicht mit Rechten paktiert zu haben.

Das ist vorbei. Nicht, weil es einmal geschehen ist, sondern weil wir jetzt wissen, dass es möglich ist, und dass es immer wieder geschehen kann. Und wie beim Sündenfall im Paradies ist das zweite Mal nicht mehr so schwer, eben kein Tabubruch, keine zivilisatorische Rolle Rückwärts mehr.

Der Fleck ist nicht reinzuwaschen. Bürgerliche und Liberale paktieren immer noch mit Rechts, wenn es ihnen ihr Machtkalkül gebietet, oder noch schlimmer, sie paktieren *wieder* mit Rechts. Sie haben den Konsenz verlassen, der dieses Land im Innersten ausgemacht hat. Dieses Land ist eine andere Republik, eine sogenannte normale Republik geworden.

Der Deutschlandfunk, die Konservativen und die Liberalen haben es nicht erkannt und wollen es nicht erkennen. So wie bislang *kann* die Brandmauer nach rechts nicht wieder errichtet werden. Denn wie soll irgendwer vertrauen, dass sie nicht doch nur aus leeren Worten besteht, nachdem sie einmal durchbrochen wurde?

CDU und FDP haben aus kleinmütiger Rache, aus Bosheit, aus Machtkalkül und aus ihrer inhaltlichen Nähe zu den Rechten heraus, vor allem aber aus wahltaktischen Gründen, das letzte Tau zu dem gekappt, was dieses Land zu einem ruhigeren Ort im wilden Weltmeer gemacht hat, zu einem Anker, zu einem Punkt, auf den man schauen konnte. Und sie haben die Lehre aus Auschwitz zurückgewiesen, die sie noch vor einer Woche beschworen. Willy Brandt hatte vor dem Mahnmal in Warschau gekniet, das war das Deutschland, auf das wir bauten. Dies ist nun dahin, und es wird nicht wiederkehren vor der nächsten großen Katastrophe, dem nächsten Holocaust.

Das ist die historische Schuld von CDU und FDP.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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6 Antworten zu Tag 2 nach der Thüringenwahl: Die Unschuld ist verloren

  1. Herbie sagt:

    @Jens Bertrams

    Schimpfen, schreien, jammern und auch diskreditieren nützt nichts.
    Während bei der Bundestagswahl 2013 die Afd 4,7 % der Stimmen erreichte, ist sie
    2020 in allen Länderparlamenten und im Bundestag vertreten. Gleichzeitig haben
    diese öffentlichen “ Bewertungen“ seitens anderer Parteien und in den öffentl. Medien
    massiv zugenommen. Wurde diese Partei 2015 als rechtspopulistisch bezeichnet, sprachen sie zwischenzeitlich von rechtsradikal bis mittlerweile auch der Begriff
    nationalsozialistisch ( nazi ) verwendet wird. Herr Schulz von der SPD hat sogar aus
    der “ Schandmahlrede “ des Herrn Höcke im Fernsehen auswendig! zitiert. Das ist die
    geistige Verarmung in Deutschland in der eine sachliche Auseinandersetzung nicht mehr stattfindet. Die Gleichung lautet, je mehr Schimpf und Schand´, umso mehr
    Afd fürs deutsche Land! Schönen Sonntag

    Herbie

  2. Bloß ging es darum gar nicht, sondern darum, wie sich die anderen Parteien verhalten haben. Dass die Faschisten von der Krise der anderen profitieren, geschenkt. Sie kriegen halt Zuspruch, weil sie nicht energisch genug bekämpft werden. Dass Sie jede Entgleisung der AfD mit Meinungsfreiheit rechtfertigen, den Kampf dagegen aber als übertrieben oder kompromisslos brandmarken, sagt auch eine Menge aus.

  3. Herbie sagt:

    @ Jens Bertrams

    „Dass Sie jede Entgleisung der AfD mit Meinungsfreiheit rechtfertigen, den Kampf dagegen aber als übertrieben oder kompromisslos brandmarken, sagt auch eine Menge aus.“

    Wo rechtfertige ich jede Entgleisungen der Afd?
    Der Kampf dagegen wird von mir nicht als übertrieben oder kompromisslos dargestellt,
    sondern als vollkommen sinnfrei betrachtet ( Nazikeule ). Diese Art der politischen
    Auseinandersetzung spaltet und säht Hass. Wo ist denn der energische Kampf,
    Wo sind die Sachargumente?

    Mit freundlichen Grüßen

    Herbie

  4. Wenn man sagt: Der AFD-Pressesprecher im Europaparlament hat gesagt, der ag, an dem Michel Friedman auswandert, ist nähergerückt, und wenn man das für mit dem Grundgesetz für unvereinbar hält, dann ist das ein Sachargument. Wenn man sagt: Der Kreisverband Taunus der AfD hat verlauten lassen, wenn die AfD an der Macht sei, würden missliebige Journalisten aus den Redaktionen auf die Straße gezerrt, und wenn man sagt, dass das gegen die Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit verstößt, dann ist das ein Sachargument. Wenn man sagt: Die AfD-Politikerin Weidel möchte an der Grenze auf flüchtende Frauen und Kinder schießen lassen, und wenn man sagt, dass dies unmenschlich ist, dann ist dies ein Sachargument. Wenn man sagt: Die AfD hat im Bundestag Menschen mit Behinderung als Produkt von Inzucht oder Migration bezeichnet, und wenn man das für menschenverachtend hält, dann ist dies ein Sachargument. – Ich könnte jetzt Stunden so weiter machen. Es ist unsinn, zu behaupten, man argumentiere nicht sachlich. Die Einzigen, die eine Hasssprache verwenden, die Morddrohungen versenden, die von Garkammern sprechen, das sind Menschen, die der AfD nahestehen, teilweise bei AfD-Abgeordneten arbeiten. Alles bekannt und bewiesen, keine Erfindungen, nicht einmal von den Betroffenen bestritten. Das alles sind lediglich Versuche unsererseits, die Menschenrechte, wie das Grundgesetz sie vorsieht, zu verteidigen, und es sind Menschenrechte, nicht nur Volksdeutschenrechte. – Wir müssen darüber nicht weiter debatieren, denn selbsverständlich wird mit Sachargumenten debattiert. Das Problem ist, dass man von AfD-Anhängern schon als ermordungswürdiger Verbrecher betrachtet wird, wenn man anderer Meinung ist. Und dass z. B. der Mörder von Walter Lübcke ein AfD-Anhänger war, ist unbestritten, er hat finanziert und aktiv geholfen. Wenn wir über Argumente reden, sind die Nichtfaschisten klar im Vorteil. Etwas Anderes ist es, wenn wir über Strategie reden. Wer hat die shcärferen Worte, wer hat die bösartigeren Vergleiche, das drohendere Auftreten? Es ist eine typische Masche der Faschisten, sich zum Opfer zu stilisieren, wenn jemand nur eine andere Meinung hat, aber selbst den politischen Gegnern mit Mord und Totschlag zu drohen. Das alles habe ich in den letzten Jahren sehr oft gesagt, und ich sage es Ihnen nur noch einmal, damit Sie wissen, dass ich debattiere und keinen Mangel an Sachargumenten habe. Aber das wussten Sie vorher.

  5. Herbert.kinne@t-online.de sagt:

    @ Jens Bertrams

    Vielen Dank für die Antwort.
    Trotzdem:
    Wo rechtfertige ich jede Entgleisungen der Afd?

    Die „Nazikeule“ halte ich weiterhin für ein untaugliches Mittel politischer Aus-
    einandersetzung.
    Teilweise kannte ich die vorgetragenen Sachargumente die auch Entgleisungen und
    Geschmacklosigkeiten der Afd beinhalten.
    Es bleibt: Die Afd ist ein Ergebnis der aktuellen Politik.

    Mit freundlichen Grüßen

    Herbie

  6. Sie sagen: Je mehr Hass – was Sie Hass nennen – der AfD entgegenschlägt, desto mehr AfD. Die Nazikeule halten Sie nicht für ein gutes Mittel, auch offenbar dann nicht, wenn es der Wahrheit entspricht, wenn die Zusammenarbeit mit dem sich selbst rechtsnational nennenden Verleger Kubicek, dem Führer der identitären Bewegung Martin Selner und anderen offen nationalsozialistisch agierenden Personen öffentlich deutlich ist. Damit verteidigen Sie zumindest argumentativ zumindest teilweise die sich als Opfer gerierende AfD, die – selbst nach Verfassungsschutzbericht, der nicht im Verdacht steht, links zu sein, faschistische Züge trägt. Man muss die Nazikeule da herausholen, wo sie hingehört. Ein Beispiel: Ein rechtsnationaler Politiker wie Franz Josef Strauß, mit dem ich fast nie einer Meinung war, wäre von mir nie ein Faschist genannt worden, obwohl er inhaltlich nahe an der AfD war in manchen Punkten. Damit Sie wissen, dass man da sehr wohl differenzieren kann. Ich hole meiner persönlichen Meinung nach die Nazikeule nur dann raus, wenn ich sie für gerechtfertigt halte. Trotzdem: Ich bin auch bereit, Fehler zuzugeben. Es kann sein, dass ich in meiner Meinung, sie verteidigen die AfD in der von mir beschriebenen Art, in einzelnen Punkten übers Ziel hinausgeschossen bin, dan tut es mir leid.

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