Die Plünderung des modernen Roms: Gedanken zur Erstürmung des Kapitols

Es waren nur 4 Stunden, in denen ein wütender Mob am vergangenen Mittwoch durch das Kapitol in Washington randalierte, Abgeordnetenschreibtische durchsuchte, geheime Computersysteme ausspähte und mutwillige Zerstörungen anrichtete. Doch in ihrer psychologischen Wirkung kamen sie der Plünderung Roms durch die Westgoten unter alarich im Jahre 410 gleich, ganz unabhängig davon, ob man ein Freund Roms bzw. der amerikanischen Demokratie war und ist, oder nicht.

Ich hatte mich am Mittwoch Abend ans Radio gesetzt, um mit einer gewissen Genugtuung der offiziellen Bestätigung von Joe Bidens Wahlsieg zu lauschen. Viele Demokrat*innen, Mitmenschen und Friedensfreund*innen werden ähnlich gefühlt haben wie ich. Eine gewisse, vorsichtige Erleichterung mögen sie sich erlaubt haben, trotz der Dinge, die wir wussten, trotz der Hetzreden des noch amtierenden irren vom Potomac und trotz der großen Unterstützung, die er immer noch in den demokratischen Institutionen der USA besaß und besitzt. Und dann wurde das Kapitol gestürmt und von Faschisten besetzt. Es war ein Handstreich und doch nicht mehr als eine Probe. Morsch brach unter den leichten Schlägen einer wütenden Menge zusammen, was seit dem britisch-amerikanischen Krieg von 1812 unangetastet geblieben war, auch im Bürgerkrieg und in den Weltkriegen: Das Symbol westlicher Demokratie, westlicher Hegemonie, westlicher Lebensweise. Als die Truppen des Westgotenführers alarich am 24. August 410 die ewige, die heilige Stadt Rom erstürmten, die schon seit einem Jahrhundert im Niedergang begriffen war, erschütterte das die Zeitgenossen fundamental, stürzte ihr Weltbild um. So ähnlich geht es uns heute, ganz gleich, ob unser Weltbild auf glühender Verehrung, leidenschaftlicher Kritik oder rationaler Auseinandersetzung mit den USA und ihrer Politik beruht. Seit Jahren ist das Gefühl ständig präsent, das etwas zu Ende geht, eine Zeit nämlich, in der die Menschheit eine Chance hatte, sich über das Barbarentum niedriger Instinkte zu erheben und im zivilisierten Streit der Meinungen und Interessen ihr Heil und ihren Fortschritt zu suchen und zu entwickeln. Mit den wütenden Massen, die durch die heiligen Hallen der parlamentarischen Demokratie ziehen, bewaffnet mit Kabelbindern für Massenverhaftungen, bereit, die Abgeordneten der Demokraten und den Vizepräsidenten zu fangen und am eigens aufgebauten Galgen vor dem Haus aufzuhängen, hat dieses nagende Gefühl jetzt seinen sichtbaren, bildhaften Ausdruck gefunden. Denn selbst wenn nach vier Stunden alles vorbei war, so ist es doch mehr als eine Episode, die man schnell vergessen könnte. Es ist der sichtbare Beweis dafür, dass innerhalb der demokratischen Institutionen selbst das Krebsgeschwür des Autoritären sich breit gemacht hat, und zwar nicht nur in Gestalt des US-Präsidenten.

Träger der aufgepeitschten Massen, die jede autoritäre Machtergreifung benötigt, ist ein großer Teil der republikanischen Partei, jener partei, die sich unter Abraham Lincoln durch die Sklavenbefreiung epochalen Ruhm erwarb, die sich aber in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts unter Barry Goldwater zur Partei der weißen Arbeiterschicht in den Flächenstaaten wandelte. Während die Demokraten die Bürgerrechtsgesetzgebung zumindest in Angriff nahmen, erkannten die Republikaner, dass die Angst der weißen Wähler vor der Zukunft ein großes Stimmenreservoire bildete, das sie zumindest für eine Weile dauerhaft an die Macht bringen könnte. Newt Gingrich ging dann in den neunziger Jahren noch einen Schritt weiter: Er proklamierte das Ziel, die Demokratie durch Wahlmanipulation, ungerechte Wahlkreiseinteilung und andere Tricks zur Makulatur verkommen zu lassen und eine dauerhafte republikanische Herrschaft zu sichern, bevor die weißen Arbeiter und Mittelständler in die Minderheit gerieten und ihnen ihr Amerika weggenommen werden konnte. Dieser Gingrich-Flügel, dessen prominentester Vertreter inzwischen der einflussreiche Senator Mitch McConnell ist, stellt den heute gemäßigten Teil der Republikaner dar, die von der New York Times so genannten „Gamers“. Der andere, offen faschistische Flügel der Partei, der durch die Tea-party-Bewegung und jetzt Donald Trump und Senatoren wie Ted Cruz geführt und vertreten wird, das sind die sogenannten „Breakers“. Sie geben sich nicht mehr mit einer Manipulation des Systems zufrieden, sie wollen eine autoritäre Herrschaft aufbauen, in der die alten Institutionen nur noch Fassade und Kristallisationspunkt für den Patriotismus der einfachen Bürger*innen sind, aber keine Macht und keinen Einfluss mehr besitzen. Sie wollen die Demokratie überwinden und die „Machtübernahme“ der nicht weißen Amerikaner*innen, wie sie es sehen, verhindern. Dieser weiße Überlegenheitsfaschismus steuert die Massen, die mit ihrer Angst vor sozialem Abstieg und mit ihrer von der Propaganda induzierten Sehnsucht nach einem weißen, sauberen, mächtigen Amerika die jederzeit gewaltbereite Basis der Bewegung bilden. Nicht zu unterschätzen ist auch die zunehmende Zahl der Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, wie z. B. an den Q-Anon-Kult, der in den letzten Jahren durch das Internet immer mehr Anhänger gefunden hat. Die Grunderzählung, dass wir alle von einem „deep state“, einem kleinen Netzwerk pädophiler, reicher Juden, beherrscht werden, speist sich aus den klassischen faschistischen Erzählungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Was aber die Q-Anon-Verschwörung besonders gefährlich macht, ist die Tatsache, dass man kein geschlossenes, faschistisches Weltbild braucht, um ihr zu verfallen. Und jede*r Einzelne kann an der Geschichte mitstricken, jede*r Einzelne kann ganz einfach zu einem Helden oder einer Heldin der Community werden, kann einen Teil dazu beitragen, die Wahrheit zu finden und damit sein oder ihr Selbstwertgefühl steigern. Wenn man erst einmal bereit ist, alles mit allem in Beziehung zu setzen, ist es ganz leicht. In einem Artikel der Krautreporter hat Tarek Barkouni das eindrucksvoll erklärt: „Viele Menschen spinnen aus einigen Fakten, viel Fantasie und einem Ziel (Donald Trump zu unterstützen) eine Geschichte zusammen, die auch außerhalb des Internets funktioniert. Die Teilnehmer:innen bedienen sich zwei relativ einfacher Strategien.
Erstens: Formuliere Fragen. Zweitens: Ziehe Verbindungen zwischen Dingen. Ein Beispiel: Warum steht in vielen großen Redaktionen die gleiche Kaffeemaschine dieser bestimmten Firma? Aus dieser Frage könnte sich ein Mythos über die Gleichschaltung der Medienwelt oder die Beeinflussung durch die Kaffeeindustrie bauen lassen.“ Über das Internet verbreiten sich diese Geschichten. Für die Anhänger*innen von QAnon ist Donald Trump ihr Held, ihr Retter, ihr Gott. Er kann nichts falsch machen, er hat immer recht. Und wenn nicht er, dann jeder Andere, der nach ihm den Stab übernimmt, um Amerika wieder groß, mächtig, weiß und sicher zu machen und die geheime Wühlerei der Eliten, also der Demokraten, aufzudecken und sie zu zerschlagen. Dabei sind mit den „Demokraten“ zunehmend nicht mehr nur die Mitglieder und Wähler*innen der demokratischen Partei gemeint, sondern die Anhänger*innen der verweichlichten Regierungsform, die Amerika nach der Ansicht der „Breakers“ an den Rand des Ruins gebracht hat. Logisch, dass unter diesen Umständen die Machtübernahme von Joe Biden aus ihrer Sicht unbedingt verhindert werden muss.

Somit dürfte klar sein, dass es sich bei dem Sturm auf das Kapitol nicht um eine außer Kontrolle geratene Protestkundgebung gehandelt hat, sondern um ein wohlvorbereitetes Unternehmen, einen versuchten Staatsstreich, der aber zumindest an diesem Tag gar nicht darauf angelegt war zu gelingen. Hier ging es nur darum, Angst zu machen, den Demokraten und den nicht faschistischen Bürger*innen ihre Machtlosigkeit und die Schwäche ihrer hochgehaltenen Institutionen und Ideale zu zeigen. Es ging um psychologische Kriegführung, wie es einst alarich mehr als alles Andere um psychologische Kriegführung gegangen war. Das Signal lautet: Wir kommen wieder, eure zeit ist abgelaufen, und seht, wie leicht es uns fällt. Und auch für die eigene Anhängerschaft steckt in der aktion eine Botschaft: Wir können gewinnen, also mobilisiert euch, wir stehen dicht vor dem Sieg. Angesichts der allgemeinen Fassungslosigkeit und des Zögerns, mit dem demokratische Kräfte sich an die Verteidigung ihres Weltbildes und ihres Ideals machen, haben sie damit vermutlich recht. Der Irrglaube, nach dem 20. Januar sei alles vorbei, wenn es nur gelingt, Joe Biden zum Präsidenten zu machen, könnte die demokratischen Amerikaner*innen teuer zu stehen kommen. Der offenbar unerschütterliche Glaube an die einzigartigkeit der USA, an ihre Unbesiegbarkeit und an ihre Rolle als leuchtendes Beispiel für die Welt, der unter dem Begriff „amerikanischer Exzeptionalismus“ zusammengefasst wird, macht ein entschlossenes Vorgehen gegen rechte Umtriebe beinahe unmöglich.

In einem Punkt verhalten sich die Rechtsextremen und die Demokraten überall auf der Welt gleich. Eines der Hauptmotive, sich der zunehmend radikalen und hasserfüllten Bewegung der Faschisten anzuschließen, ist die Angst vor Veränderung, die Sehnsucht nach einer in der Vergangenheit gesuchten und in der Gegenwart noch erahnten Sicherheit und Größe. Doch auch die mangelnde Bereitschaft zur Verteidigung demokratischer Werte entspringt aus dieser Angst. Wir können das hier in Deutschland an Angela Merkel beobachten. Ein Grund für ihre plötzlich große Popularität kurz vor dem Ende ihrer amtszeit ist ihr unbestreitbares Geschick, die Stürme der Welt von den Deutschen weitgehend fernzuhalten. Wir haben Angst davor, was passiert, wenn dieser Schutzmantel aus Stagnation weggezogen wird, wenn die Zeit des Stillstandes endet, die bleierne zeit, die man doch als wohlig empfindet, weil man fürchtet, was nachher kommt. Wir wollen nicht wahrhaben, dass wir überhaupt nur eine Chance haben, Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen, wenn wir Veränderungen zulassen und akzeptieren, und zwar Veränderungen, von denen wir noch nicht wissen, wie sie sich auswirken werden. Wir müssen bereit sein, Risiken einzugehen. Was geschieht denn, wenn wir millionen von Flüchtlingen willkommen heißen? Eins ist unbestreitbar: Selbst bei einer durch den Klimawandel notwendig werdenden Wirtschaftstransformation wird nicht genug Arbeit für alle da sein. Warum stocken wir bei der digitalisierung? Weil wir wissen, dass diese technologische Revolution die menschliche Arbeit in großen Teilen überflüssig und teuer macht. Wir wissen nicht, ob wir dann in der Lage sind, starke Sozialsysteme aufzubauen. Und tief in uns ahnen wir vermutlich, dass Demokratie zumindest bislang nur funktioniert hat, wenn mit ihr Wohlstand einher gegangen ist, wenn wir glauben konnten, dass es unseren Kindern noch besser gehen werde als uns selbst. Es fällt uns schwer, diese Demokratie zu verteidigen. Entweder aus Angst vor dem Verlust des Wohlstandes, des Versprechens, des kapitalistischen Heilsgebäudes, oder weil wir ohnehin diesen scheinbar zwangsläufigen Zusammenhang zwischen Demokratie und Kapitalismus ablehnen. Solange wir keine postkapitalistische Erzählung gefunden haben, für die es sich lohnt, gegen die Rechten auf die Barrikaden zu gehen, Risiken einzugehen, Veränderung zu akzeptieren, solange werden wir zögerlich sein, was den entschlossenen Faschisten in die Hände spielen wird.

Die Plünderung Roms und der Sturm auf das Kapitol sind beides Sinnbilder für das ende einer Epoche. Es sind Epochen, die von Zeitgenoss*innen häufig als relativ stabil wahrgenommen wurden. Die eigentliche Stabilität war in beiden Fällen vorher bereits Geschichte, wenn sie überhaupt je in der erträumten Form existierte, doch erst mit der Schleifung und Entweihung der Symbole der Epoche wurde allen wirklich bewusst, dass tiefgreifende Veränderungen stattgefunden hatten, die nicht mehr aufzuhalten waren. Es wird für uns heute Zeit, nicht mehr nach dem alten zu streben, das doch nur vorübergehend und in schwacher Form restauriert werden könnte, sondern mutig nach einer neuen Zukunftsvision zu suchen, einer Vision, deren erste Schritte man sofort und ganz praktisch einleiten, und deren erste Erfolge man möglichst bald erleben können sollte. Auch die Corona-Pandemie mahnt zu entschlossenem und durchgreifendem Handeln. Dabei geht es nicht mehr darum, den Zusammenbruch der alten Gesellschaft und ihrer Ordnung zu verhindern, sondern darum, eine neue, zumindest grundlegend veränderte Gesellschaft zu entwickeln.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter erlebte Geschichte, Politik abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Die Plünderung des modernen Roms: Gedanken zur Erstürmung des Kapitols

  1. Lieber Herr Bertrams,

    ich denke, dass Ihr Vergleich mit der Plünderung von Rom übertrieben ist. Es waren ja keine Fremde die das Kapitol stürmten, sondern typische Amerikaner, die dazu noch von vielen nicht einmal heimlich bewundert wurden. Warum versuchen Sie sich nicht an einem Skandal das wirklich das Staatsgefüge korrodiert, nämlich die Kindergeld-Affäre in den Niederlanden. Dort die reinste Unmenschlichkeit mit Krawatte (Typus Eichmann) und nicht Terror verübt durch Leute wovon man eigentlich erwartet, dass sie sich so verhalten. Ein Gruß eines niederländischen Expats.

  2. Hallo Herr Kellendonk: Den Vergleich mit Eichmann muss ich bei allem Verständnis für Ihre Wut über die Affäre zurückweisen. Diesen Vergleich würde ich niemals ziehen, Sie wissen schon, warum. Aber vielen Dank für die Idee: Leider habe ich gerade in den letzten Monaten zu wenig die niederländische Politik verfolgt, kaum Debatten gehört und ähnliches. Aber mal sehen, was ich machen kann.

    Was die Plünderung Roms angeht, so meinte ich vor allem die psychologische Wirkung. Übrigens waren die Plünderer damals auch keine Fremden, sondern Foederaten, also Söldner teils in römischen diensten. Aber das ist spitzfindig. Beste Grüße!

Schreibe einen Kommentar